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Kinderheilstätte Mammolshöhe

Studie bestätigt Medikamentenversuche


Kinder mit Krankenschwestern bei der Freiluft-Liegekur

Mit Freiluft-Liegekuren – hier ein Foto aus den 1930er Jahren – wurden an Tuberkulose erkrankte Kinder und Jugendliche in der Landeskinderheilstätte Mammolshöhe behandelt. Dass ihr Direktor Prof. Dr. Werner Catel in den 1950er Jahren auch menschenverachtende Medikamentenversuche an Kindern vornahm, hat eine jetzt veröffentlichte Studie bestätigt. Repro: Archiv LWV

22.04.2024

Kassel (lwv): Das vom Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen beauftragte Forschungsprojekt zur Landeskinderheilstätte Mammolshöhe hat bestätigt, dass der damalige Direktor Prof. Dr. Werner Catel in den 1950er Jahren menschenverachtende Medikamentenversuche vorgenommen hat. Ärzte, Pharma-Unternehmen und die Gesundheitsbürokratie haben diese Versuche akzeptiert und gedeckt, so eine weitere Erkenntnis. „Die ethische Bedenkenlosigkeit zahlreicher Verantwortlicher, die diese Studie zutage gefördert hat, ist erschreckend“, sagte Dr. Andreas Jürgens, Erster Beigeordneter des LWV Hessen. Die Versuche in der damaligen Tuberkulose-Fürsorgeeinrichtung seien nicht nur als Auswüchse eines einzelnen ehemaligen Verantwortlichen der NS-Kindereuthanasie (Werner Catel) zu bewerten, auch andere Beteiligte hatten damit offenbar keine Probleme.

Die Studie wurde vom LWV Hessen beim Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Gießen in Auftrag gegeben und gemeinsam mit dem Hessischen Ministerium für Soziales und Integration (HMSI) finanziert. Die Historiker Prof. Dr. Volker Roelcke, Prof. Dr. Hans-Werner Schmuhl und Dr. Karsten Wilke kommen unter anderem zu dem Ergebnis: „Die Vorgänge rund um die Versuchsreihe – und damit auch der Tod von mindestens vier Kindern – wurden im Zusammenhang mit einer von Verschweigen, Verleugnen, Verharmlosen, Verzerren und Verdrehen der historischen Fakten geprägten Neuerfindung der Biografie Catels umgedeutet.“ Das Forschungsprojekt erfasse jetzt die Faktoren, welche die unethischen, teilweise tödlichen Medikamentenversuche überhaupt erst möglich gemacht haben. Die Historiker ziehen auch den Schluss, dass Catel „kein Problem damit hatte, das Leben von Kindern aufs Spiel zu setzen, um den medizinischen Fortschritt voranzutreiben.“ Auch auf die Rolle der Biografien der verantwortlichen Ärzte und Pflegekräfte bereits in der Zeit des Nationalsozialismus und deren Rekrutierung durch die hessischen Behörden nach 1945 nimmt das Forschungsprojekt Bezug.

„Auf breiter Quellenbasis analysiert der jetzt vorgelegte Forschungsbericht die Medikamentenversuche an Kindern und zeigt nicht nur, wer hierfür Verantwortung trug, sondern auch, in welchem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld diese Versuche durchgeführt werden konnten“, ordnete Prof. Dr. Jan-Erik Schulte, Leiter der Gedenkstätte Hadamar des LWV Hessen, ein. Die jetzt vorgelegte Studie soll im Herbst als Publikation in der Schriftenreihe der Gedenkstätte erscheinen. Die Reihe hat sich zum Ziel gesetzt, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen, ihren Voraussetzungen und den langfristigen Folgewirkungen voranzutreiben und die Ergebnisse öffentlich zu machen.

Abschließend stellt die vorgelegte Studie fest: „Der Fall zeigt exemplarisch, wie sich die ausbleibende kritische Auseinandersetzung der Medizin mit der eigenen Rolle im nationalsozialistischem Staat nach 1945 auswirken konnte.“ Dr. Andreas Jürgens betonte in diesem Zusammenhang, wie ernst der Verband seine historische Verantwortung nehme: „Wir werden auch weiterhin alle nötigen und möglichen Anstrengungen unternehmen, um solche Geschehnisse aufzuklären, auch wenn der Zeitpunkt der Ereignisse vor der Gründung des LWV liegt oder sich in Einrichtungen zugetragen hat, für die der LWV erst später die Zuständigkeit übernommen hat.“

Zur Studie und der Landeskinderheilstätte Mammolshöhe

Das Forschungsprojekt wurde 2019 durch die Medienberichterstattung über unethische Medikamentenversuche in der Kinderheilstätte Mammolshöhe im Taunus in den 1950er Jahren ausgelöst. Die Heilstätte, eine Einrichtung zur damals notwendigen Tuberkulose-Fürsorge, war zunächst eine Institution des Bezirksverbands Wiesbaden, der 1953 im LWV Hessen aufging. Sie wurde von 1947 bis 1954 von Prof. Dr. Werner Catel geleitet, der bis 1945 Direktor der Kinderklinik der Universität Leipzig und ein Hauptverantwortlicher der Kinder- und Jugend-Euthanasie im Nationalsozialismus war. 1978 wurde die Heilstätte wegen rückläufiger Belegung geschlossen.

Die Studie versteht sich als eine wichtige Ergänzung der bisherigen Forschung zur Kontinuität eines Denkens in der Medizin und ihren Institutionen, welches Menschen über ihren vermeintlichen biologischen Wert definiert. Dabei ging man so weit, neue wissenschaftliche Erkenntnisse über das Wohl von Patientinnen und Patienten zu stellen.

Eine Zusammenfassung der Studienergebnisse finden Sie hier


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