Von der "Psychiatrischen Familienpflege" zum "Begleiteten Wohnen von behinderten Menschen in Familien"
Was zunächst ein Wagnis war, entwickelte sich in den vergangenen zehn Jahren zum hessenweit einmaligen Erfolgsmodell: die Betreuung von inzwischen 43 chronisch psychisch kranken Menschen durch Gastfamilien in Nordhessen. Bisher hieß das "Psychiatrische Familienpflege", doch seit März dieses Jahres läuft diese Form der Betreuung unter dem Namen "Begleitetes Wohnen von behinderten Menschen in Familien". Damit hat sich auch der Kreis der potenziellen Klienten erweitert.
Ein, zwei Bier mit den Kollegen, nach Feierabend? Das war schon während seiner Ausbildung zum Schlosser an der Tagesordnung, noch keine 16 war er da. Alkohol gehörte für Wolfgang Gerhold (Name geändert) wie bei vielen Menschen ganz selbstverständlich dazu. Und Gründe, immer mal wieder zu tief ins Glas zu gucken, gab´s genug: Geburtstagsfeiern und Trauerfeiern, Vereinsfeste und Fernsehabende. Wolfgang Gerhold trank, wenn er "gut drauf" war - und wenn ihm alles zu viel wurde. Und es wurde ihm immer öfter zu viel: Denn es gab, weil er so oft auch schon am helllichten Tage "einen im Tee" hatte, zunehmend Streit: mit der Frau, den Kindern, Kollegen, dem Chef. Konflikte, die er im Schnaps zu ertränken versuchte. Erst war der Job weg, dann die Frau - sie ließ sich scheiden. Wolfgang Gerhold lebte mehrere Jahre "auf der Straße" - bis er völlig verwahrlost und hilflos in die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Merxhausen in Bad Emstal eingeliefert wurde. "Korsakow-Syndrom", lautete die Diagnose: eine Erkrankung, bei der durch langjährigen, übermäßigen Alkoholkonsum Teile des Gehirns geschädigt sind. Meistens geht dies einher mit zum Teil erheblichen Konzentrations- und Erinnerungsschwierigkeiten und nicht selten sind Wesensänderungen die Folge. Wolfgang Gerhold durchlief eine Entzugsbehandlung, dann ein spezielles Therapieprogramm. "Schließlich war er so weit, dass ein Klinikaufenthalt eigentlich nicht mehr nötig war - für Betreutes Wohnen war er aber nicht selbstständig genug", sagt Claudia Dondalski. Die Fachkrankenschwester für Psychiatrie bildet mit dem Krankenpfleger Stefan Beez, dem Diplom-Sozialarbeiter und Diplom-Supervisor Thomas Schmitt und der Krankenschwester Kornelia Sommer das Team des Zentrums für Soziale Psychiatrie Kurhessen in Bad Emstal, das psychisch kranke Menschen in Gastfamilien vermittelt. Auch für den inzwischen 60-jährigen Wolfgang Gerhold fand das Team ein "Zimmer mit Familienanschluss".
Start als Pilotprojekt
"Psychiatrische Familienpflege" hieß diese 1997 als fünfjähriges Pilotprojekt gestartete, individuell gestaltete Lebensform für psychisch behinderte Menschen - bis die Verbandsversammlung des Landeswohlfahrtsverbandes sie im März dieses Jahres in "Begleitetes Wohnen von behinderten Menschen in Familien" umbenannte. Das klinge zwar umständlicher, sei aber treffender, sagt Ramona Spohr, die in der LWV-Hauptverwaltung für diesen Bereich zuständig ist: "Unter dem Begriff Pflege ist rechtlich eine andere Betreuungsform zu verstehen."
Mit der Namensänderung verabschiedete die Verbandsversammlung auch gleich entsprechende Richtlinien - ein 18-seitiges Regelwerk - und ebnete damit den Weg für eine alternative ambulante Betreuung, die sich nicht mehr lediglich an psychisch behinderte Menschen richtet, sondern auch für Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung oder einer Abhängigkeitserkrankung gedacht ist, die weder allein in einer Wohnung noch im Betreuten Wohnen oder in ihrer eigenen Familie leben können. "Mit dem Begleiteten Wohnen in Familien wird der Grundsatz ‚ambulant vor stationär' umgesetzt, der den Menschen ein hohes Maß an Selbstbestimmung ermöglicht und gleichzeitig Kosten spart", so Ramona Spohr. "Menschen mit Behinderung, die nicht zwingend in einer stationären Einrichtung leben müssen, bietet das Begleitete Wohnen die Möglichkeit, in einer neuen Familie zu leben", sagt die LWV-Expertin. Die Familie soll, so ist es in den Richtlinien festgelegt, nicht nur geeigneten Wohnraum bereitstellen, sondern das neue Familienmitglied auch integrieren. "Das sollen keine Profis sein, die ein privates Heim aufmachen wollen, sondern ganz normale Familien. Leute, die es einem behinderten Menschen ermöglichen, am Alltagsleben teilzunehmen, Beziehungen aufzubauen, Sozialkontakte zu pflegen", erklärt Claudia Dondalski. Für ihren Einsatz erhalten die Familien ein monatliches Betreuungsgeld von derzeit bis zu rund 546 Euro und, wenn die rechtlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind, die Leistungen zum Lebensunterhalt des neuen Familienmitgliedes (265 Euro) - davon ist alles zu zahlen, was der behinderte Mensch benötigt. Dieser selbst hat einen Anspruch auf monatlich rund 93 Euro Sozialhilfe-Barbetrag und rund 30 Euro Bekleidungspauschale.
Für geeignete behinderte Menschen im Alter von 18 bis 64 Jahren ebenso passende Familien zu finden - dafür ist ein so genannter Fachdienst zuständig. Dieser soll, auch das ist in den neuen Richtlinien geregelt, nicht nur die behinderten Menschen vermitteln. Seine Aufgabe ist auch, das Leben der Menschen mit Behinderung in den Familien dauerhaft professionell zu begleiten - auch in Krisensituationen: "Die aufnehmenden Familien werden auf das Leben mit einem behinderten Menschen vorbereitet und die dann erweiterten Familien im Alltag betreut", sagt Thomas Schmitt vom Fachdienst der Merxhäuser Klinik, der früher ganz einfach "Familienpflegeteam" hieß. Solche Teams sollen nun schrittweise landesweit aufgebaut werden, sagt Ramona Spohr: "Für die Einrichtung eines Fachdienstes kommen zum Beispiel Träger der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen oder Krankenhausträger in Betracht, die über geeignete Fachkräfte verfügen und eine qualifizierte Betreuung gewährleisten können", erklärt sie. Nach und nach würden nun Gespräche mit potenziellen Trägern geführt. Langfristiges Ziel sei es, hessenweit durch die Fachdienste 300 bis 400 Menschen in Familien zu vermitteln und dort zu begleiten.
Eine solche Familie sind auch Christa Schröder und Markus Wasko aus Burghasungen im Landkreis Kassel. Auf eine Anzeige in der Zeitung hatte das Paar reagiert: "Wir kannten eine andere Gastfamilie und wussten schon in etwa, wie das laufen kann", sagt die 58-Jährige, die wie ihr Mann Disponent bei einem Personenbeförderungsunternehmen ist. Warum sie sich auf so ein Experiment eingelassen haben? Na ja, da seien die zwei freien Zimmer im Haus gewesen - und ja, auch das Betreuungsgeld habe sicher irgendwie eine Rolle gespielt. Aber, ergänzt Wasko: "Man darf nicht nur das Finanzielle sehen, man muss bereit sein, mit Menschen, die einem zunächst einmal ja fremd sind, richtig zusammenzuleben, gemeinsam Probleme zu bewältigen und dabei mit wenig Privatleben auszukommen - also: Ohne soziales Engagement geht es nicht."
Ein richtiges Zuhause gefunden
Und so leben nun heute sogar zwei behinderte Mitbewohner im geräumigen, schmucken Haus mit dem großen Garten: Der 64-jährige Manfred Krug schon seit 2002, etwas später kam Christa Wick hinzu: "Weil ich nicht mehr alleine in der Wohnung leben konnte", sagt die 63-jährige kurz und bündig. Über das, was früher war, möchten sie eigentlich beide gar nicht reden. Lieber über das, was heute ist: "Wir werden hier gut versorgt", sagt Christa Wick, "wir sitzen auch zusammen am Tisch und quatschen oder helfen mal im Haushalt…" - "…oder kriegen auch mal geschimpft - wie im wahren Leben halt", fällt ihr Manfred Krug ins Wort und lacht verschmitzt, "wir haben hier ein richtiges Zuhause gefunden", fügt er noch hinzu.
Klar, dass das anfangs nicht einfach war. "Als der Manfred hier ankam, passten seine Sachen in zwei Plastiktüten - es fehlte an allem", sagt Gastgeberin Christa Schröder, "wir mussten uns erstmal um Kleidung kümmern, sind zum Haare schneiden gefahren, zum Arzt". Auch so etwas gehört dazu. Und viel Koordination: In der Familie muss zumindest eine Person zu Hause sein - im Fall von Christa Schröder und Markus Wasko, die beide berufstätig sind, heißt das: Sie müssen ihren Schichtdienst abstimmen. "Das läuft inzwischen alles rund", sagt Markus Wasko.
Der Alltag hat sich eingespielt. Frühstück machen sich die beiden neuen Familienmitglieder selber, Mittagessen kocht in der Regel Christa Schröder, zwischendurch legen die beiden Mitbewohner sich manchmal noch mal hin - oder sie gehen spazieren. "Fernsehen, Mensch-ärgere-Dich-nicht spielen", zählt Manfred Krug auf, alle 14 Tage gibt´s in der Klinik in Bad Emstal-Merxhausen ein "Begegnungsfrühstück" mit anderen Gastfamilien und ihren Betreuten, ab und zu treffen sich auch einige Familien mit ihren Mitbewohnern zum gemeinsamen Kochen oder zu einem Ausflug. "Das Erfolgsrezept ist, dass eine ganz normale Familie es psychisch behinderten Menschen ermöglicht, am normalen Alltagsleben teilzunehmen, ein normales Familienmitglied zu sein", sagt Claudia Dondalski.
Zwei Drittel der in den Familien betreuten Klienten sind ältere Menschen mit schwerer Alkohol-Demenz, ein Drittel jüngere chronisch psychisch Kranke, die zum Beispiel unter Schizophrenie leiden. "Während die jüngeren Betreuten nach durchschnittlich zwei bis vier Jahren in eine andere Betreuungsform, zum Beispiel das Betreute Wohnen in Wohngemeinschaften, wechseln, bleiben die Korsakow-Erkrankten dauerhaft in ihren neuen Familien", sagt Thomas Schmitt, "der größte Erfolg ist, dass die alkoholkranken Menschen nie wieder rückfällig geworden sind.
Gundula Zeitz
Eine Broschüre informiert über die "Richtlinien für das Begleitete Wohnen von behinderten Menschen in Familen". Sie ist erhältlich beim LWV Hessen, Öffentlichkeitsarbeit, Tel. 0561/1004-2060, kann auch unter www.lwv-hessen.de/Publikationen
heruntergeladen werden.