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„Ich hatte nicht den Mut aufzuhören"

„Ich hatte nicht den Mut aufzuhören"

Die LWV-Gesundheitsmanagement GmbH hat einen neuen Namen: Vitos. In dieser Rubrik stellen wir Ihnen regelmäßig Arbeitsschwerpunkte der Vitos-Einrichtungen vor. In dieser Ausgabe: Komasaufen bei Jugendlichen und Behandlungsansätze.

KASSEL. Jasmin ist eine von 147 Jugendlichen, die im ersten Jahr das Angebot der Drogenentzugsstation der Vitos Klinik Bad Wilhelmshöhe in Anspruch genommen haben. Mit Erfolg. Ihr geht es heute so gut, dass sie offen über ihre Erfahrungen mit Alkohol und Therapie in der Klinik erzählt.

Ihre Lieblingsfarben sind Pink und Lila, mit ihrer Lieblingsfreundin kann sie stundenlang über alles reden, ihren Traumberuf hat sie sich vor kurzem ausgesucht: Jasmin möchte Industriemechanikerin werden. Dafür will sich die Realschülerin im kommenden Schuljahr ins Zeug legen. So zielstrebig wie im Moment war sie nicht immer. Viermal war sie mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus, mehrfach ist sie abgehauen von zu Hause, schließlich kam sie für vier Monate auf die Drogenentzugsstation für Kinder und Jugendliche der Vitos Klinik Bad Wilhelmshöhe in Wabern. Ganz schön viel für eine 16-Jährige. Jetzt ist Jasmin wieder zu Hause bei ihrer Familie.

Gerade ist ihr sechs Monate alter Bruder aufgewacht. Ein Lächeln geht über ihr sonst so ernstes Gesicht. Der kleine Mann strahlt zurück. „Die Beziehung zwischen den beiden ist etwas Besonderes“, sagt die Mutter. Füttern, Windeln wechseln, spielen: Abwechslung in Jasmins Leben, in dem sich gerade in den Sommerferien Langeweile breit macht. Wahrscheinlich trifft sie sich nachher noch mit ihrer besten Freundin. Mit ihr geht sie in eine Klasse, und mit ihr hat sie schon einiges erlebt. Die Freundin war dabei, als Jasmin in den vergangenen zwei Jahren in einen Kreis junger Leute zwischen 17 und 20 geriet.

MIT MEHR ALS EINEM PROMILLE ALKOHOL IN DIE KLINIK

Es war Sonntag. Es war langweilig. Die Gruppe, zu der auch ihr damaliger Freund gehörte, begann im Freien zu trinken. „Sekt, Bier, Sangria, alles, was nicht schmeckt“, erinnert sich Jasmin. „Ich fand’s nicht toll, aber ich hatte auch nicht den Mut aufzuhören.“ Sie landet mit etwas mehr als einem Promille in der Klinik. Rückblickend sind ihr die Ursachen klar. Zu Hause streitet sie sich ständig mit ihrer Mutter und deren Lebensgefährten, manchmal fliegen die Fetzen. Einmal übernachtet sie bei einem Bekannten, bleibt einfach weg, obwohl sie der Mutter am Telefon gesagt hat, sie käme zurück. Schlechtes Gewissen? „Nein, mir ging’s gut, weil ich wusste, wer mich zu Hause außer meiner Mama erwartet.“ Der Lebensgefährte und Jasmin, das funktioniert überhaupt nicht.

Es klappt aber auch nicht mit der Mitarbeiterin des Jugendamtes, die die Mutter inzwischen eingeschaltet hat. Jasmin kommt in ein Jugendhaus in Obhut, dann in eine Wohngruppe für Mädchen. Es gelten Regeln, sie umgeht sie, und landet mal wieder bei ihren alkoholtrinkenden Freunden. Diesmal gibt’s Wodka mit Orangensaft. 2,8 Promille werden nach ihrer Einlieferung mit Alkoholvergiftung in der Klinik festgestellt. Bei der Entlassung am nächsten Morgen lautet die Prognose: „Wahrscheinlich passiert das nicht wieder, spätestens nach dem zweiten Mal reicht es den meisten.“ Ihre Mutter ist erleichtert.

Jasmin kehrt in die Mädchengruppe zurück, doch im April 2008 haut sie ab, wohnt „mal hier, mal da – überall eben.“ Schließlich zieht sie wieder zu Hause ein. Zwei Wochen lang geht es gut mit ihr, der Mutter, deren Partner, der Schwester (damals 14) und dem Bruder (damals 5). Dann gibt es wieder Streit, Jasmin verfährt nach dem gewohnten Muster: „Ich ging zu meinen Freunden, trank Alkohol.“

Nach weiteren zwei Mal Vollrausch und Krankenhaus, zuletzt mit drei Promille, lässt die Mutter sie in die Vitos Klinik Bad Wilhelmshöhe einweisen. Zwei Tage später, kurz vor ihrem 16. Geburtstag, kommt Jasmin in die angeschlossene Drogenentzugsstation für Jugendliche in Wabern. Vier Monate bleibt sie dort. „Am Anfang war es furchtbar. Mir war alles egal“, beschreibt sie ihren Start. „Doch dann hab’ ich gemerkt, ich hab’ was davon: Ich komme mit meiner Mama wieder klar.“

KONFLIKTE ERTRÄNKT JASMIN NICHT MEHR IM ALKOHOL

Konflikte ertränkt sie nicht mehr im Alkohol, sondern indem sie erst mal aus dem Zimmer geht, um zur Ruhe zu kommen. Jasmin schreibt ihrer Mutter einen Brief, dass ihr das Geschehene leid tut, dass es gut war, sie in den Entzug zu schicken, dass sie ihrer Mama einfach dankbar ist. Wenn sie davon erzählt, kommen der Mutter jetzt noch fast die Tränen. „Ich hab’ geweint und mich gefreut. Den Brief werde ich immer aufheben.“

Als Jasmin im Februar 2009 nach Hause zurückkehrt, ist der Lebensgefährte der Mutter ausgezogen und ihr jüngster Bruder geboren. Der Kleine patscht auf dem Tisch herum, lässt den Schnuller fallen. Jasmin bleibt geduldig. Ihr Lächeln gräbt kleine Grübchen in ihr Gesicht. Beim Blick in die Zukunft schauen die dunklen Augen irgendwo ins Wohnzimmer, die Hände spielen mit dem Bändel ihres Kapuzenpullis. Sie will nächstes Schuljahr den Realschulabschluss schaffen und dann Industriemechanikerin werden.
Irene Graefe