Vor 23 Jahren entstand das Betreute Wohnen. Eine Vereinbarung des LWV mit den kommunalen Spitzenverbänden und der Liga der freien Wohlfahrtspflege ebnete den Weg. Die neue Wohnform hat das Leben von Gerhard Gäckler und Rosemarie Korneck verändert.
MARBURG. Ihr Stammplatz ist das abgewetzte graue Sofa vor den kleinen Plüschfi guren. Gerhard Gäckler (71) zieht an seiner Pfeife und schaut aus dem Fenster der kleinen Sozialwohnung auf dem Marburger Richtsberg. Neben ihm sitzt seine Lebensgefährtin Rosemarie Korneck (68) und stickt bunte Häuschen auf eine Leinentasche.
Auf den ersten Blick lebt das Paar wie viele andere bescheidene Rentner auch. Doch die beiden haben etwas vollbracht, von dem Claus Solbach, Geschäftsführer der Sozialen Hilfe in Marburg, nur mit großer Hochachtung spricht. „Eigentlich ist das ein Wunder“, sagt er zu ihrer „Riesenleistung“: 20 Jahre ist es her, dass ihnen der Auszug aus der Psychiatrie gelang. Und seitdem sind sie nie wieder eingewiesen worden.
„Das ist, als wenn ein Lehrling einen Wolkenkratzer bauen wollte“, sagte Gerhard Gäckler damals. Die Ärzte waren dagegen. Die Sozialarbeiter waren skeptisch. Schließlich war Gäckler damals schon 50 Jahre alt, hatte aber sein halbes Leben in der Psychiatrie verbracht. Deshalb gehörte er auch nicht zu den allerersten Langzeitpatienten des Psychiatrischen Krankenhauses Marburg (heute: Vitos Klinikum Marburg), die in den 80er Jahren den Sprung in die Freiheit wagten.
Mehr als 25 Jahre hat Gäckler im Psychiatrischen Krankenhaus gelebt, wo er sich als Gärtner sogar eine kleine Rente erarbeitete. Schon als Elfjähriger wurde er erstmals stationär behandelt. Wegen Konzentrationsproblemen und Spannungszuständen, die ersten Anzeichen der später diagnostizierten Schizophrenie. Die „alte Psychiatrie“ mit Elektroschocks hat er am eigenen Leib erfahren. „Dann kam ein neuer Professor, der das Schocken abgeschafft hat“, erzählt Gäckler. Als die ersten chronisch psychisch Kranken auszogen, meldete er sich gleich. Und „Rosi“, seine Freundin, wollte er natürlich mitnehmen.
Das Paar sitzt auf dem Sofa und erzählt verschmitzt, wie sie sich kennen gelernt haben. „Erst sind wir mal einen Kaffee trinken gegangen“, sagt Rosemarie Korneck. „Dann habe ich ihn immer auf der Station besucht.“ Die geistig behinderte Frau, die früher an Epilepsie litt, hat ihre Mutter schon als Kind verloren. Nach Jahren in verschiedenen Behindertenheimen landete sie 1957 im Psychiatrischen Krankenhaus. „Sie sah gut aus“, sagt Gerhard Gäckler lächelnd. Ohne sie konnte er sich ein Leben in der Freiheit nicht vorstellen.
Mit Möbeln vom Sperrmüll zogen sie in die kleine Wohnung im fünften Stock des Sozialbaus am Marburger Richtsberg. An die Tür hat Rosemarie Korneck einen kleinen Teddybären geklebt. Die ganze Wohnung hat sie mit den kleinen Tierfi guren und Nippes übersät: Plüschhasen und Plastikrehe, Wackel-Tiger und Miniaturautos, Püppchen und Kunstblumen zieren Fensterbretter und Regale. Gerhard Gäckler hat nichts dagegen. Schließlich interessiert er sich sehr für Tiere.
Die Anfangsphase war holprig, erinnert sich Claus Solbach. Das Paar musste lernen, zur Bank zu gehen, einzukaufen und zu kochen. Gutbürgerlichen Maßstäben entspreche ihr Leben bis heute nicht, räumt der Sozialpädagoge ein: „Aber die beiden sind stabil.“
In der Tat kocht Gerhard Gäckler unter der Woche fast immer aus der Dose: In der Küche stehen Konserven mit Ravioli, Lauch-Gemüse-Suppe, Gulasch und Kartoffelgemüse. Nur am Wochenende gibt es aufwändigeres Essen: Schnitzel mit Pilzsoße, Kartoffeln und Erbsen gehört zu seinen Lieblingsgerichten. Die Küche ist sein Revier.
Aber ohne die Betreuung durch die Soziale Hilfe, die vom Landeswohlfahrtsverband fi nanziert wird, würde ihr Leben nicht funktionieren: Neben der gesetzlichen Betreuerin schaut Psychologin Barbara Höfl er zweimal in der Woche nach dem Rechten. Sie sorgt dafür, dass die beiden gründlich Staub saugen und putzen. Sie hilft beim Getränkekauf und organisiert kleine Ausflüge. „Zwischendurch habe ich einmal gedacht, dass meine Besuche gar nicht mehr so nötig sind“, erzählt die Psychologin. Aber dann fi el die Heizung im Winter aus. Und als Höfl er drei Tage später in die bitter kalte Wohnung kam, hatten es die beiden nicht geschafft, die Soziale Hilfe zu alarmieren.
Gerhard Gäckler und Rosemarie Korneck haben einen klaren Wochenrhythmus: Jeden Freitag bekommt er seine Depotspritze. Montags und freitags holen sie sich ihre Rente. Gäckler investiert einen großen Teil in Tabak. Rosemarie Korneck geht für ihr Leben gern einkaufen. Sie ist eigentlich die Unternehmungslustigere von beiden. Jeden Montag fährt sie mit dem Bus in die Stadt, um Lebensmittel, Plätzchen und Kleinigkeiten für die Wohnung einzukaufen. Manchmal leistet sie sich einen Kaffee und ein Stück Kuchen. Immer plaudert sie mit den Verkäuferinnen ihres Lieblings-Supermarkts.
Bis vor acht Jahren hat sie noch in der Wäscherei der Lebenshilfe gearbeitet. Dann ist sie nach einem Weihnachtsessen bei Eis und Schnee so unglücklich gestürzt, dass sie die Arbeit aufgeben musste und auf einen Rollator angewiesen ist. Wenn sie die steilen Treppen bis in den fünften Stock hinaufsteigt, trägt Gerhard Gäckler ihre Einkäufe. „Mein Röschen“ nennt er die Freundin.
Obwohl sich die beiden so spät gefunden hätten, gebe ihnen die Beziehung großen Halt, sagt Claus Solbach. „Sie können die Eigenarten des anderen so liebevoll dulden. Da könnten sich andere Pärchen eine Scheibe abschneiden“, urteilt der Geschäftsführer.
Jeder allein käme auch nicht zurecht. Sie stabilisiert ihn, wenn schizophrene Schübe drohen. Er hilft ihr über die lebenspraktischen Fallstricke hinweg. Rosemarie Korneck kann nämlich nicht lesen und schreiben. Die Bedeutung des Geldes kennt sie nur oberflächlich. Und um elektrische Geräte, einschließlich Herd und Waschmaschine, macht sie einen großen Bogen.
Jedes Jahr freuen sie sich auf zwei große Reisen: Mit dem Marburger Zentrum für Arbeit und Kommunikation (ZAK) waren sie schon am Chiemsee, im Harz, an der Nordsee und in Italien. Mit dem Zug besuchen sie Kornecks Bruder, der in einem Berliner Wohnheim lebt. Einmal sind sie eine Nacht am Kasseler Bahnhof hängen geblieben. Seitdem hilft ihnen der Umstiegsservice.
Ob sie glücklich sind? „Ja“, sagen beide ganz überzeugt: „Jetzt haben wir immer Ausgang.“
Gesa Coordes