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Die Menschen in ihrer Umwelt erleben

Die Menschen in ihrer Umwelt erleben

Anne Sperl vom Fachdienst zur Feststellung des Bedarfs

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fachdienstes zur Feststellung des Bedarfs haben eine verantwortungsvolle Aufgabe. Von ihren Gutachten hängt ab, welche und wie viel Unterstützung Menschenmit Behinderung bekommen, die einen Antrag auf Eingliederungshilfe stellen. Wir haben Anne Sperl bei der Arbeit im Kontakt mit den Menschen begleitet.

VOGELSBERG. Thorsten Winter zieht seine Strickmütze mit dem Bayern-München-Emblem vorsichtshalber vom Kopf, als er von der Hobelbank zu seinem Gespräch mit Anne Sperl gerufen wird. „Jau“, sagt der geistig behinderte junge Mann zunächst auf fast alle Fragen der Sozialarbeiterin des Landeswohlfahrtsverbandes. Anne Sperl soll seine Situation begutachten. Seine Wünsche und Vorstellungen sind eine wichtige Quelle für sie. Thorsten Winter schenkt sich eine Limo ein. Neben ihm sitzt Ruth Egl vom Sozialdienst der Werkstatt in Alsfeld. Sie ergänzt, wenn der 22-Jährige allzu einsilbig antwortet.

Thorsten Winter hat eigentlich ein stürmisches Wesen. Wenn er mit seiner Freundin „Mensch-ärgere-dich-nicht“ spielt, kann schon mal das Spielbrett durch die Gegend fliegen. Ruhig zu sitzen, ist nicht sein Ding. Deswegen arbeitet er in der Gartengruppe der Werkstatt. Er recht Grasschnitt, harkt Beete, sammelt Laub und hilft beim Hochsitzbau.

Mit einem Schäleisen entrindet Thorsten Winter einen Eichenstamm, aus dem einmal Rückenlehnen für Holzbänke werden sollen. Das zeigt er Anne Sperl beim Gang zur Gartenkolonne. Komplizierteres Handwerk ist schwierig, erzählt der Gruppenleiter. Langsam kann man sich auch vorstellen, wie unruhig der 22-Jährige sein kann, der nun von einem Bein aufs andere steigt.

„Stressbewältigung, Frustrationstoleranz“ hat sich die Sozialarbeiterin als Ziele notiert. Aber auch: „Leistungswille und Interesse an seiner Arbeit.“ Fast unbemerkt hat Anne Sperl während des Gesprächs einen seitenlangen Fragebogen ausgefüllt. Die Begutachtung soll nach Möglichkeit keine zusätzliche Belastung für Thorsten Winter sein. Schließlich geht es um die Frage, welcher „Bedarfsgruppe“ der junge Mann, der zudem an Epilepsie leidet, zugeordnet wird. Davon hängt ab, wie viel Geld für die Betreuung zur Verfügung stehen wird. Anne Sperl fragt aber auch, was dem 22-Jährigen sonst noch wichtig ist: Er spielt Fußball und Keyboard.

Anne Sperl ist Mitarbeiterin des Fachdienstes zur Feststellung des Bedarfs beim LWV. Sie (und zehn Kolleginnen) erstellen Gutachten, wenn jemand erstmals in Hessen einen Antrag auf Eingliederungshilfe stellt. Im Jahr begutachtet der Fachdienst rund 2.500 Menschen. Eingerichtet wurde er erst vor elf Jahren: Das Bundessozialhilfegesetz wurde damals novelliert und dadurch änderte sich die Finanzierungsgrundlage. Anstelle der Einheitspflegesätze gibt es seitdem Bedarfsgruppen für Menschen mit Behinderungen, die der individuellen Situation gerecht werden.
Die Begutachtung vor Ort ist ein zentraler Teil der Arbeit des Fachdienstes: Sie ist eine wichtige Grundlage für die fachliche Empfehlung, die die 53-jährige Sozialarbeiterin schließlich geben muss.

Anne Sperl ist seit acht Jahren dabei. Mehrmals in der Woche fährt sie durch Hessen, sucht Betroffene in deren Wohnung oder am Arbeitsplatz auf. Heute hat sie bereits einen schwierigen Termin hinter sich: Die Mutter eines sechsjährigen Mädchens mit Autismus möchte, dass ihre Tochter in einem Kinderheim betreut und gefördert wird. Vor Ort zeigte sich, wie dramatisch die Situation für die Familie ist. Der berufstätige Vater ist tagsüber nicht da. Die Mutter, die noch ein weiteres behindertes Kind hat, kann die Sechsjährige keine Minute aus den Augen lassen, weil sie buchstäblich alles isst: Erde, Pflanzen, Salben, Töpfe und Papier. In diesem Fall ist für Anne Sperl klar: Sie wird die Aufnahme in ein Heim befürworten, damit das Kind in seiner Entwicklung unterstützt wird. „Das ist für die Mutter nicht zu schaffen.“

In den Büros des Fachdienstes finden selten Begutachtungen statt. „Es ist wichtig, die Menschen in ihrer Umwelt zu erleben“, erklärt Leiter Alfred Jakoby. „Deren Wünsche und Ziele, aber auch deren Probleme und Schwierigkeiten stehen im Mittelpunkt.“ Die Mitarbeiterinnen müssen sich immer wieder auf unterschiedliche Situationen einstellen. Deshalb bereiten sie sich intensiv vor, lesen medizinische und andere Gutachten, studieren Berichte über die Betreuung. Außerdem schicken sie zuvor einen Fragebogen an die Betroffenen, die Eltern oder die gesetzlichen Betreuer.

Franziska Maus arbeitet seit kurzem in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Die 21-Jährige zeigt Anne Sperl, wie gut sie sich schon an ihrem Arbeitsplatz auskennt. Sie kann nicht nur die Spülmaschine einräumen, abtrocknen, Essen portionieren und die Küche schrubben. Sie teilt auch das Mittagessen in der Kantine aus. Heute gibt es Makkaroni mit Hühnchenfleisch und Salat. Zum Nachtisch winkt die hessische Variante des Kaiserschmarrn („süßer Ofenschlupfer“) mit Vanillesoße. Dass manche am liebsten dreimal nachnehmen wollen, weiß sie schon. Dies abzulehnen, fällt ihr aber schwer. Franziska Maus gehört zu den gutmütigen, fleißigen Mitarbeitern: „Sie ist eine der wenigen, die man manchmal zur Pause zwingen muss“, erzählt ihre Chefin.

„Selbstsicherheit, die Fähigkeit zur Abgrenzung, Arbeits- und Pausenzeiten einhalten“ notiert Anne Sperl. Zudem würde Franziska Maus gern noch lernen, Kuchen zu backen. Aber das ist nicht so einfach. Sie hat große Schwierigkeiten mit dem Kurzzeitgedächtnis.

Für Anne Sperl ist jede einzelne Begegnung mit den Menschen spannend. „Aber es stehen auch immer Schicksale dahinter“, sagt sie. Etwa, wenn Eltern wegen der epileptischen Anfälle ihres Kindes seit 25 Jahren nicht mehr durchgeschlafen haben. Im Vogelsbergkreis begutachtet sie Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, in Marburg-Biedenkopf ist sie zuständig für Menschen mit einer Suchterkrankung oder einer seelischen Behinderung, und in Gießen besucht sie das Sprachheilzentrum, ein Internat für Schüler mit Sprachstörungen.
Um den Job auszufüllen, braucht Anne Sperl Erfahrung. Die bringt sie mit: Bevor sie beim LWV anfing, arbeitete sie in der Erwachsenenpädagogik, als Therapeutin beim Blauen Kreuz und als Betreuerin. „Man muss viele Behinderungsbilder kennen“, sagt die 53-Jährige.

Am nächsten Tag wird sie ihre Notizen anschauen und Empfehlungen formulieren. Neben den Wünschen und Zielen der Betroffenen muss sie eine Reihe von Faktoren berücksichtigen: Worauf soll bei einer späteren Prüfung geachtet werden? Ist eine besondere Betreuung notwendig? Kommen Alternativen wie zum Beispiel Betreutes Wohnen oder die Unterbringung in einer Pflegefamilie in Frage? Wäre ein Persönliches Budget die bessere Lösung? Oder: Sollte eine Betreuung beendet werden, weil sie ungeeignet erscheint?
„Solche Fragen nach Alternativen sind von großer Bedeutung“, so der Leiter des Fachdienstes. „Wir unterstützen aktiv bei der Suche und bei der Lösung von Problemen. Allen Beteiligten stehen wir auf Wunsch beratend zur Verfügung.“

Die Entscheidung für eine Eingruppierung sei in jedem Einzelfall ein Spagat, weiß Anne Sperl: Die Einrichtungen wollen möglichst viel Geld für ihre Arbeit. Zugleich ist die Kassenlage in den Kreisen, die die Arbeit des LWV finanzieren, immer angespannter. Trotzdem sind strittige Fälle eher selten, berichtet LWV-Fachdienstleiter Jakoby. „Das System ist inzwischen gut etabliert und akzeptiert.“

Gesa Coordes

HINTERGRUND

BERATEN, BEGUTACHTEN, QUALITÄT SICHERN

Der Fachdienst zur Feststellung des Bedarfs arbeitet interdisziplinär. Er unterstützt die Fachbereiche des LWV Hessen und den öffentlichen Gesundheitsdienst bei ihren Aufgaben im Rahmen der Eingliederungshilfe für Menschen mit einer Behinderung. Der Fachdienst berät auch Betroffene und ihre Angehörigen in Fragen der Rehabilitation und Eingliederungshilfe.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

  • klären den individuellen Bedarf, auch bei Leistungen in Form eines Trägerübergreifenden Persönlichen Budgets

  • ermitteln und bewerten den Bedarf für Menschen, die sich erstmals entschlossen haben, Leistungen in einem Wohnheim oder einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Anspruch zu nehmen

  • klären und prüfen, über welchen Zeitraum eine Maßnahme notwendig ist

  • klären, welche Maßnahmen der Eingliederungshilfe notwendig und geeignet sind

  • klären die individuelle Einschränkung der Teilhabe und nehmen zu Art und Ausmaß einer Behinderung Stellung

  • bearbeiten sonderpädagogische Fragestellungen, z. B., ob ein Internat besucht werden sollte oder die Fahrstrecke zu einer Förderschule zumutbar ist

  • begleiten Projekte zur Weiterentwicklung der Hilfeangebote und Rehabilitationsmöglichkeiten, z. B. PerSEH (Personenzentrierte Steuerung der Eingliederungshilfe in Hessen)

  • klären, ob der LWV zuständig ist oder andere Kostenträger wie Krankenkasse, Pflegeversicherung, Agentur für Arbeit (gemäß § 14 SGB IX)

  • unterstützen den öffentlichen Gesundheitsdienst bei der Klärung der gesundheitlichen Situation von Hilfe suchenden Menschen

  • bewerten die Qualität von Hilfeangeboten und Maßnahmen zur Rehabilitation

  • kooperieren mit örtlichen Trägern und Leistungserbringern

  • überprüfen zu einem späteren Zeitpunkt Leistungen

  • beraten, wenn es darum geht, passgenaue Hilfearrangements zu entwickeln

Eine weitere wichtige Aufgabe ist die Qualitätssicherung in der sozialmedizinischen Begutachtung durch Gesundheitsämter und Krankenhäuser. Dabei wird festgestellt, ob eine wesentliche Behinderung vorliegt. Der Leiter des Fachdienstes legt hier Standards fest, schult und arbeitet dabei mit Honorarärzten zusammen.
Besondere Bedeutung für die Arbeit des Fachdienstes hat die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der Weltgesundheitsorganisation. Sie ist der internationale und nationale Referenzrahmen, um zu identifizieren und zu beschreiben, wodurch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bei Menschen mit einer chronischen Krankheit oder einer anderen Form der Behinderung eingeschränkt wird. Die ICF stellt eine gemeinsame Sprache in der Rehabilitation dar und soll die Zusammenarbeit der Beteiligten verbessern.

Jacoby/ebo

Weitere Informationen und Kontakt unter begutachtung@lwv-hessen.de