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Eigenständig und trotzdem in Gemeinschaft

Eigenständig und trotzdem in Gemeinschaft

Vor 14 Jahren hat der LWV ein Projekt gestartet, das Menschen mit seelischen Behinderungen den Kontakt zu einer Gastfamilie und ein neues Zuhause vermittelt. Ziel war, Langzeitpatientinnen und –patienten der psychiatrischen Kliniken zu „enthospitalisieren“: Sie sollten das Krankenhausgelände verlassen und in ein normales Lebensumfeld zurückkehren. Inzwischen leben 87 Menschen in Gastfamilien, darunter auch Sylvia Müller (32) und Inge Lütkemeyer (60).

LIEBENAU. Christel Frank öffnet die Tür mit einem freundlichen Hallo, während der Golden Retriever Aischa uns Schwanz wedelnd entgegen springt. Im großzügigen Wohn-Essbereich, der in eine offene Küche übergeht, begrüßt uns Daniel Frank. Ein Gussofen verbreitet heimelige Wärme, man kann die prasselnden Holzscheite sehen. Und die anderen Familienmitglieder? Die ältere Tochter Hannah ist gerade als Au-pair in den USA. Die jüngere Tochter Esther hat sich auf ihr Zimmer zurückgezogen und lernt für ihr Abitur. Sylvia Müller und Inge Lütkemeyer sind noch in ihrer gemeinsamen Einliegerwohnung. Die Frauen gehören seit knapp drei und zweieinhalb Jahren zur Familie. Sie sind im Rahmen eines ambulanten Wohn- und Betreuungsangebotes der Vitos Kurhessen, dem so genannten Begleiteten Wohnen behinderter Menschen in Familien, zu Familie Frank gekommen.

Als beide Frauen zu uns stoßen, sind sie zunächst schüchtern. Christine Niehaus und Claudia Dondalski vom Team des Vitos-Fachdienstes kennen sie. Doch heute sind ein Fotograf und die LWVMitarbeiterin dabei, die einen Blick in ihren Alltag in der Familie werfen wollen. Die Atmosphäre entspannt sich, als Sylvia Müller und Inge Lütkemeyer den Tisch für alle decken.
Daniel Frank hat, als derjenige, der tagsüber zuhause und so auch fürs Kochen zuständig ist, Nudelauflauf gemacht. Während des Essens drehen sich die Gespräche um Alltagsthemen: Geld und Einkaufen, Handykosten, Essen und Abnehmen. Und über die Unterschiede zwischen der 32-jährigen Sylvia Müller und der 60-jährigen Inge Lütkemeyer. Das kann nerven. Zumindest manchmal. Inge Lütkemeyer ist sehr ordentlich und flink im Haushalt, Sylvia Müller ist erst auf dem Weg dorthin. „Mal kommt sie nicht so richtig in die Gänge und putzt runde Ecken“, sagt die 60-Jährige über ihre Mitbewohnerin. „Aber das“, so Daniel Frank, „haben wir ja jetzt geklärt, so dass Sie nicht mehr soviel meckern müssen.“ Ein Putzplan hat hier Abhilfe geschaffen. Damit klappt es jetzt gut, bestätigt Sylvia Müller.
Das Putzen muss und will sie noch unbedingt lernen: „Ich habe den Wunsch, ins Betreute Wohnen zu gehen. Das ist mein Ziel!“, sagt sie mit soviel Nachdruck, dass man ihr gerne glaubt, dass sie dafür auch die so ungeliebte Hausarbeit lernen wird. Bevor sie zur Familie Frank kam, war ihr Lebensmittelpunkt bei ihrem Großvater, bis dieser ins Altenheim kam. Vor zwei Jahren, erzählt Sylvia Müller, sei er gestorben und sie habe ihn sehr vermisst: „Heute träume ich noch ganz oft von ihm.“ So war die Umstellung auf die neue Familie für sie nicht so einfach. Das ging den Franks ähnlich. Zu Beginn, so berichtet Christel Frank, sei Sylvia Müller morgens nicht pünktlich aufgestanden. „Ich habe sie einfach nicht aus dem Bett bekommen. Da musste der Fahrdienst, der sie in die Werkstatt mitnehmen sollte, oftmals ohne sie wieder losfahren. Das war schon sehr ärgerlich.“

SELBSTSTÄNDIG ZUR ARBEIT

Heute ist das Aufstehen kein Problem mehr. Und Sylvia Müller fährt selbstständig zur Arbeit, mit dem Linienbus. Vielleicht auch, weil in Absprache mit dem Arzt die Medikamentendosis verändert wurde. Da hat sich Daniel Frank sehr eingesetzt. „Sylvia Müller“, so bestätigt Christine Niehaus, die die Familie alle zwei Wochen besucht, „hat sich sehr stabilisiert und große Fortschritte gemacht.“

Der Start in der neuen Familie verlief bei Inge Lütkemeyer einfacher. Nach dem Klinikaufenthalt, bei dem sie wegen schwerer Depressionen behandelt wurde, konnte und wollte sie nicht zurück zur Tochter. So war sie zunächst in einem Altenheim, bevor sie zur Familie Frank kam. „Mir geht’s hier prima!“, sagt sie und strahlt über das ganze Gesicht. An der Art, wie sie die Worte in dem Satz betont, wird sehr deutlich, dass es ihr früher nicht so gut ging. „Frau Lütkemeyer braucht nur sehr wenig Hilfe im Alltag. Sie nimmt ihre Medikamente zuverlässig“, sagt Christel Frank. Sie fährt auch mit dem Bus morgens in die Tagesstätte. „Sie braucht vor allem Respekt und eine feste Struktur.“ So ist ihr Alltag klar geregelt, selbst am Sonntag. „Das ist gut so“, kommentiert sie und strahlt – wie zur Bestätigung – wieder übers ganze Gesicht. Da können Inge Lütkemeyer weder Wind noch Wetter abhalten, nach dem gemeinsamen Mittagessen, das um Punkt zwölf Uhr auf dem Tisch steht, mit ihrer Mitbewohnerin und Aischa zum Spaziergang aufzubrechen.

NACH IHREN WÜNSCHEN

Die Wohnung der beiden ist allein nach ihren Wünschen eingerichtet, mit Michael-Jackson-Postern in Sylvia Müllers Zimmer und den selbstgemachten Handarbeiten, wie einem Traumfänger als Blickfang bei ihrer Mitbewohnerin. Auf dem Regal steht ein kleiner Eiffelturm. Inge Lütkemeyer liebt Reisen. In Deutschland ist sie weit herumgekommen. In Paris und Wien ist sie schon gewesen. Ihr Traumziel: „Nach Kanada möchte ich gerne. Zu meinem Halbbruder.“
Dass sich jede in ihren Bereich zurückziehen könne, sei wichtig, damit das Zusammenleben gelinge, sagen die Franks. Die idealen räumlichen Bedingungen haben auch dazu beigetragen, dass die Familie sich nach einer Vertretung entschieden hat, einen Gast aufzunehmen. Damals waren die Nachbarn im Urlaub und deren Klientin hat für drei Wochen bei ihnen gewohnt. „Und Schwierigkeiten“, ergänzt Daniel Frank, „gibt es in jeder Familie. Das gehört dazu.“ Bei einem Treffen der Familien des BWF hätten alle über problematische Situationen gesprochen, aber keine Familie hätte ihren Gast hergeben wollen.

Am Anfang einer Familienzusammenführung steht der BWF-Fachdienst. Die Mitarbeiter führen ausführliche Gespräche, sowohl mit den Familien als auch mit den Klienten: „Wir fragen neben den Wünschen zu Geschlecht und Alter bei den Familien genau, welche Schwierigkeiten die Klienten mitbringen dürfen. Wir informieren über die Krankheitsbilder, das Leben mit den Menschen, und später – nach der Vermittlung – unterstützen wir die Familien in rechtlichen, fachlichen und finanziellen Fragen. In Notfällen ist einer von uns Tag und Nacht erreichbar“, erklärt Claudia Dondalski. „Und bei den Klienten fragen wir auch, was sie mögen: Kinder, Haustiere und ob es lieber ländlicher oder städtischer Lebensraum sein soll.“
Wenn das Familienpflegeteam sorgfältig geprüft hat, wer in welcher Familie leben könnte, gibt es erstmal ein Kennenlernen und oft kann der Klient dann auch zur Probe wohnen. Das können zwei Nächte sein oder auch eine ganze Woche. „Dabei entscheidet sich immer ganz schnell, ob’s klappt oder nicht. Mittlerweile haben wir mit unserer langjährigen Erfahrung auch schon ein Gefühl für die ‚richtigen’ Verbindungen entwickelt“, fährt Claudia Dondalski fort. Dass es sich bei den Franks und ihren Mitbewohnerinnen um die richtige Verbindung handelt, da sind sich alle sicher: Wenn sie noch einmal am Anfang stünden und sich füreinander entscheiden müssten, sie würden es alle noch einmal machen.

Rose-Marie von Krauss


HINTERGRUND

BEGLEITUNG IN DER FAMILIE - EIN PROJEKT MIT GESCHICHTE

Als fünfjähriges Pilotprojekt „Psychiatrische Familienpflege“ startete 1997 die individuelle Betreuung in einer Gastfamilie für Menschen mit einer psychischen Behinderung oder einer Suchterkrankung. An dem erfolgreichen Projekt waren die damaligen Psychiatrischen Krankenhäuser des LWV in Merxhausen und auf dem Eichberg (heute: Vitos Kurhessen und Vitos Eichberg) beteiligt. Da es sich im rechtlichen Sinne nicht um Pflege handelt, erfolgte im März 2007 eine Umbenennung in „Begleitetes Wohnen von behinderten Menschen in Familien (BWF)“ und gleichzeitig eine Erweiterung des Personenkreises auf Menschen mit einer geistigen Behinderung.
„Heute leben hessenweit 87 Menschen mit Behinderungen im BWF. Bald werden es 100 sein“, sagt Ramona Spohr, neben Barbara Lingelmann Koordinatorin für das BWF beim LWV. „Noch sind es aufgrund der Entwicklung relativ wenige Menschen mit einer geistigen Behinderung. Aber ihre Zahl steigt kontinuierlich.“
Träger des BWF sind vom LWV anerkannte Träger der Eingliederungshilfe, Kliniken oder sonstige geeignete Träger, mit denen der LWV eine Vereinbarung abschließt. Sie richten einen so genannten Fachdienst ein, der die Familien im Alltag regelmäßig unterstützt.
Kostenträger des BWF ist in der Regel der LWV. Für die Betreuung erhält die Gastfamilie ein monatliches Betreuungsgeld. Der Mensch mit Behinderung erhält, wenn er nicht selbst über Einkommen oder Vermögen verfügt, Hilfe zum Lebensunterhalt oder Grundsicherung. Davon muss er etwas an die Gastfamilie abgeben, damit seine Lebenshaltungskosten gedeckt werden können. Zudem finanziert der LWV die Personal- und Sachkosten des Fachdienstes BWF beim Träger in der jeweiligen Region. Die Finanzierungsdetails sowie weitere organisatorische und rechtliche Rahmenbedingungen sind in den Richtlinien für das BWF geregelt, die die LWV-Verbandsversammlung im März 2007 verabschiedet hat. Diese können Sie im Internet unter Öffnet externen Link in aktuellem Fensterwww.lwv-hessen.de > Geschichte & Gegenwart > Publikationen herunterladen.
Haben Sie Interesse im Rahmen des BWF in einer Gastfamilie zu leben oder möchten Sie Gastfamilie werden, vielleicht im Rahmen einer Urlaubsvertretung, dann setzen Sie sich mit Barbara Lingelmann vom LWV-Fachbereich Recht und Koordination in Verbindung. Sie vermittelt Ihnen den Kontakt zu einem Fachdienst in Ihrer Nähe. Barbara Lingelmann, Tel. 0561 1004 - 2516, barbara.lingelmann@lwv-hessen.de