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"Einen alten Baum verpflanzt man nicht"

"Einen alten Baum verpflanzt man nicht"

Das Alfred-Delp-Haus in Oberursel ist Kooperationspartner des LWV auf dem Hessentag. Gemeinsam wollen beide den Alltag junger und älterer Menschen mit geistiger Behinderung sichtbar machen. In diesem Heft stellen wir zwei der älteren Bewohner des Wohnverbunds vor. Angebote für diese Personengruppe werden wichtiger, denn immer mehr Menschen mit Behinderung erreichen ein hohes Alter.

OBERURSEL. Sorgfältig beklebt Franziska von Halle einen türkisfarbenen Kartonkreis mit kleinen Folienschmetterlingen, die pink und grasgrün glänzen. Gemeinsam mit acht weiteren Bewohnern des Alfred-Delp-Hauses in Oberursel gestaltet sie an diesem Vormittag Fastnachtsorden. Die 75-Jährige blickt kurz auf und grüßt fröhlich: „Ich komme gleich, aber ich muss den noch zu Ende machen, sonst trocknet der Kleber ein.“ Sie beklebt den Karton konzentriert zu Ende. „Gehen wir rüber zu mir“, fordert die Seniorin Stefan Solf, den Leiter des Alfred-Delp-Hauses, und die Besucher schließlich auf und geht resolut voran – vom Haus, in dem die Tagesbetreuung untergebracht ist, quer über den Hof des Wohn- und Tageszentrums für Menschen mit geistiger Behinderung zu dem Haus, in dem sie wohnt. Hierher zieht sie sich zurück, wenn sie Ruhe braucht. „Da kann ich einfach die Tür zumachen“, sagt sie.

Das ist es, was sie hier so genießt. „Ich frühstücke bei den Rentnern in Haus 4, gönne mir nach dem Mittagessen hier ein Mittagsschläfchen und esse in Haus 3 zu Abend“, umreißt sie knapp ihren Tagesablauf. In Haus 3 steht im Gemeinschaftsbereich auch ein Bett für sie. „Da bekomme ich alles mit und kann mich trotzdem ausruhen“, schmunzelt sie. Wenn sie möchte, kann sie die Bastelangebote der Einrichtung nutzen. Oder an der Musikgruppe teilnehmen. Oder im Malatelier ihrer Kreativität freien Lauf lassen. „Ich kann, wenn ich Lust habe. Aber ich muss nicht“, sagt sie.
„Das ist uns wichtig“, unterstreicht Stefan Solf. „Wir machen Angebote. Und natürlich gibt es Bewohner, die wir ein wenig mehr anstupsen müssen, diese Angebote zu nutzen. Andere hingegen wissen sehr genau, ob sie mit der Gruppe oder alleine etwas unternehmen möchten oder ob sie Ruhe brauchen“, erläutert er. Zur Entfaltung der eigenen Individualität und Persönlichkeit gehöre es eben auch, frei zu entscheiden, wie man seinen Tag gestalten will. „Ich kann doch Frau von Halle nicht vorschreiben, wie sie ihren Tag zu verbringen hat. Sie hat ein Recht darauf, auch mal nichts zu tun“, fügt er hinzu. Die „Alterspräsidentin“, wie Solf sie manchmal scherzhaft nennt, schaut ihn mit verschmitztem Lächeln an: „Ich würde mir das von Ihnen auch gar nicht vorschreiben lassen, nach allem, was ich erlebt habe.“

Dann wird sie ernst und spricht von ihrem Vater, der in Auschwitz umgekommen ist. „Sie haben ihn geholt, als ich neun Jahre alt war“, erzählt die Seniorin. Sie hat das nie verkraftet und ist fest davon überzeugt, dass dieses Erlebnis dazu geführt hat, dass sie seit ihrem 13. Lebensjahr immer wieder epileptische Anfälle bekommt. 40 Jahre ihres Lebens hat sie in psychiatrischen Anstalten verbracht, meist in der geschlossenen Abteilung, „weil ich unter Pflegschaft stand und als geisteskrank abgestempelt wurde“. Irgendwann kommt sie ins Waldkrankenhaus Köppern (heute Vitos Hochtaunus), wechselt dort in die offene Psychiatrie, lernt Fritz kennen, ihre große Liebe.

Franziska von Halle und ihr Lebensgefährte Fritz gehören zu den ersten, die 1988 ins Alfred-Delp-Haus einziehen. Die beiden haben einen separaten Bereich für sich. Ihre Schlafzimmer grenzen direkt aneinander, sie teilen sich ein gemütliches Wohn-Ess-Zimmer. „Bis zu seinem Tod habe ich mich um Fritz gekümmert, ihm Kaffee gekocht und ihm in der Stadt Zigaretten geholt “, erzählt sie mit traurigem Blick auf ein Foto des Verstorbenen. Doch auch nach seinem Tod ist die alte Dame hier nicht allein. „Ich kenne einige hier, schließlich habe ich 24 Jahre in der Werkstatt gearbeitet“, sagt sie. „Wenn es mir gut geht, gehe ich von Haus zu Haus und besuche meine ehemaligen Arbeitskollegen, auch den Dieter, drüben in Haus 1.“

Dieter L. lebt seit einem halben Jahr hier. Er sitzt im Gemeinschaftsbereich des Hauses mit Blick durch das große Fenster nach draußen in den verwinkelten Hof dieser Einrichtung, deren Gebäude sich wie ein kleines Dorf rund um das Gemeinschaftshaus gruppieren. Dieter L. sitzt in seinem Rollstuhl und blättert in einem Bildband über Eisenbahnen. „Das Buch hat er vom Haus zum Geburtstag geschenkt bekommen“, sagt Dieters jüngerer Bruder. Wenn er aus Dieters Leben erzählt, gibt es eine klare Dreiteilung: Die Zeit vor dem Schlaganfall, die Zeit vor dem Einzug ins Alfred-Delp-Haus und das Jetzt. Vor dem Schlaganfall lebte der geistig behinderte Dieter L. bei der Mutter, arbeitete von Montag bis Freitag in der Werkstatt für behinderte Menschen in Oberursel. „In seiner Freizeit war er oft in der Stadt unterwegs. Am Wochenende ist er mit der Bahn in der Weltgeschichte rumgefahren, hat sich irgendwo ins Café gesetzt und Kuchen gegessen. Dann ist er wieder nach Hause.“ Nach dem Schlaganfall im Oktober 2009 kam er zunächst ins Krankenhaus, dann in eine Rehabilitationsklinik. „Als er von dort ins Seniorenpflegeheim entlassen wurde, konnte er schon wieder auf der Bettkante sitzen. Wenn man ihm beim Aufrichten geholfen und ihn an die Wand gelehnt hat, konnte er sogar wieder stehen“, erinnert sich der Bruder. „Aber Seniorenpflegeheime sind nicht auf die Bedürfnisse geistig behinderter Menschen eingestellt. Mein Bruder hätte mehr Motivation und Anleitung gebraucht, um seine Krankengymnastik zu machen. Weil die fehlte, wurde alles zerstört, was er in der Reha mühsam wieder gelernt hatte.“ Schon bald konnte Dieter L. nicht mehr selbstständig essen, musste über eine Magensonde ernährt werden. „Die Pflegekräfte dort haben wenig Zeit. Sie haben wohl versucht, ihn zu füttern. Aber er hat sich ein paar Mal verschluckt. Da haben sie es gelassen.“ Dieter L. verlor jedes Interesse: Eisenbahnbücher? „Die brauch’ ich nicht, hat er gesagt.“ Comic-Bücher? „Nimm sie wieder mit, hat er gesagt.“ Ein Fernsehgerät im Zimmer? „Nicht mal das wollte er mehr.“ Endlich wird im Alfred-Delp-Haus ein Platz frei. Seit Ende Oktober 2010 ist Dieter L. hier. Er sitzt wieder im Rollstuhl, verbringt viel Zeit im Gemeinschaftsbereich von Haus 1, bekommt Krankengymnastik. „Und er isst wieder selbst“, sagt der Bruder lächelnd. Dieter L. fällt das Sprechen schwer. Dennoch erzählt er ein bisschen, zeigt in seinem Buch das Bild einer Straßenbahn: „Das ist Darmstadt.“ Sein Leibgericht? „Sauerkraut, Kartoffelbrei, Kassler.“ Inzwischen nimmt der 58-Jährige wieder an den Mahlzeiten teil – und am Leben um ihn herum. „Hier wird er gefördert, bekommt Besuch von Arbeitskollegen“, sagt der Bruder. An guten Tagen kann sich Dieter L. mit ihnen unterhalten, mühsam, aber es geht.
Die Geschichten von Dieter L. und Fritz geben Franziska von Halle eine Gewissheit, die sie ihr Älterwerden gelassen sehen lässt: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Hier ist unser Zuhause. Und hier werden wir begleitet bis zum Tod.“

Stella Dammbach


HINTERGRUND

EIN HAUS MIT VIELEN MÖGLICHKEITEN

Das Alfred-Delp-Haus ist ein Wohnverbund für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, dessen Leistungen überwiegend vom Landeswohlfahrtsverband Hessen finanziert werden. Fünf Wohnhäuser bieten 61 Menschen ein Zuhause. Diese Häuser bilden mit dem Verwaltungsgebäude sowie dem Haus für die Tagesstruktur, in dem sich auch ein Bistro befindet, eine Art Dorf. In dessen Zentrum ist das Gemeinschaftshaus angesiedelt. Die Einrichtung geht auf eine Initiative des Wohnhilfswerks für behinderte Menschen zurück und wird seit 2009 vom St. Vincenzstift Aulhausen getragen.
Bis zu 30 Menschen mit Mehrfachbehinderungen, Senioren und externe Besucher nutzen die Angebote zur Gestaltung des Tages, Kunst- und Musiktherapie, Krankengymnastik und nehmen an Ausflügen teil. Es gibt Bildungsangebote für Jugendliche zu den Themen Erwachsenwerden, Beruf, Liebe und Sexualität sowie Freizeitgestaltung.
Für die Älteren bietet das Haus Kurse und Beratungsgespräche, die den Übergang aus der Berufstätigkeit in den Ruhestand erleichtern und zur sinnvollen Gestaltung der Freizeit anleiten sollen. Jeden zweiten Freitag findet im Bistro das Rentner- Café statt, in dem sich Ruheständler des Alfred-Delp-Hauses mit ihren ehemaligen Arbeitskollegen aus der Oberurseler Werkstatt für Behinderte treffen. Zudem verfügt die Einrichtung über einen ambulanten Bereich mit 50 Plätzen im Betreuten Wohnen.
Die pädagogische Arbeit orientiert sich an den Stärken des Einzelnen. Selbstbestimmung, Normalität der Lebensverhältnisse und das Recht der Bewohnerinnen und Bewohner auf lebenslanges Wohnen sind Grundlage des Handelns.