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Er sitzt gern und denkt nach

Er sitzt gern und denkt nach

Die Vorlesungen und Seminare von Thomas Noetzel sind anspruchsvoll und unterhaltsam. Da er seit seiner Geburt unter Muskeldystrophie leidet, helfen Mobilitätsassistenten dem Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Uni Marburg fast rund um die Uhr, seinen Alltag zu bewältigen.

MARBURG. Für die 300 Studierenden im Hörsaal der Marburger Philipps-Universität ist Thomas Noetzel ein fast normaler Professor: Kenntnisreich und amüsant spricht er über das Problem der individuellen Freiheit bei Jean-Jacques Rousseau. Doch der Politikwissenschaftler hat eine schwere Behinderung. Er kann nur seinen Kopf und seine Hände bewegen. Fast rund um die Uhr helfen ihm Mobilitätsassistenten wie Luza Murghulia, seinen Alltag zu bewältigen.

Der 29-jährige Student aus Georgien, der selbst Betriebswirtschaftslehre studiert, sitzt in der Vorlesung unauffällig neben ihm. Er angelt die Unterlagen aus der Tasche des Professors, stellt das Mikrophon ein, rückt Noetzels Arm zurecht und bedient den Computer. Bei den Lehrveranstaltungen ist der Student besonders gern dabei: „Er macht seriöse Themen so lustig“, sagt Murghulia.

Die 20-jährige Erstsemesterin aus der vorletzten Reihe findet die Vorlesung „anspruchsvoll und praxisnah“. „Analytisch und sehr überzeugend", sagt ein älterer Student. Dass der Professor im Rollstuhl sitzt, ist nach den ersten Stunden normal.

So ist es auch für Noetzel selbst: „Ich habe nie etwas anderes kennen gelernt“, sagt der 53-Jährige. Schon seit seiner Geburt leidet er unter Muskeldystrophie. Das bedeutet, dass ihm ein Enzym fehlt, so dass sich seine Muskeln kaum zusammenziehen können. Richtig laufen hat er nie gelernt, konnte sich in der frühen Kindheit aber noch mit Krücken fortbewegen. Ein trauriges oder verzweifeltes Kind sei er aber nicht gewesen, versichert Noetzel. Er sei nur mehr auf die Familie angewiesen gewesen: „Den Freiraum in der Peer-Group hatte ich nicht.“

Für seine Eltern – eine Krankenschwester und einen kaufmännischen Angestellten – war es jedoch selbstverständlich, dass auch das Jüngste ihrer vier Kinder auf eine normale Schule ging. In den sechziger Jahren, als die schulische Integration von Menschen mit Behinderung noch weitgehend unbekannt war, besuchte Thomas Noetzel Volksschule, Realschule und schließlich die gymnasiale Oberstufe. Überall war er der erste Behinderte. Doch die Eltern förderten ihn sehr, und er konnte seinen Rollstuhl damals noch selbst antreiben. Er wurde auch der Erste in seiner Familie, der studierte.

Nach Marburg verschlug es ihn, weil die Universitätsstadt damals das bundesweit einzige Studierendenwohnheim hatte, das auch für Rollifahrer zugänglich war. Außerhalb des Elternhauses zu leben, tat ihm gut. Er lernte, sich besser durchzusetzen und beharrlich an Themen zu bleiben. Er engagierte sich in der Juso-Hochschulgruppe und studierte schnell. „Ich habe Interesse am Verstehen“, erklärt Noetzel. Wäre er nicht Politikwissenschaftler geworden, hätte ihn der Beruf des Psychiaters gereizt. „Wenn man sich mit Politikern beschäftigt, muss man Verrückte verstehen“, sagt er.

Der Nordirlandkonflikt sei so eine verrückte, eigentlich nicht zu begreifende Angelegenheit. Noetzel ist Experte für die politischen Systeme Großbritanniens und Irlands. Er promovierte über britische Spione in den dreißiger und vierziger Jahren. Er schrieb über die Geschichte Irlands, die Ära Thatcher und das Regierungssystem Großbritanniens. In England gewesen ist er jedoch nie: „Das ist ein Nachteil der Behinderung“, sagt Noetzel: „Mein Radius reicht nur bis etwa 900 Kilometer.“ Zugfahren oder Fliegen sei ihm nicht möglich. „Die Fluggesellschaften bestehen darauf, dass man den Rollstuhl verlässt“, erläutert er. „Einen Lift oder ähnliches bieten sie aber nicht an.“ Noetzel weigert sich, sich dieser Prozedur zu unterziehen, und die Reise über den Kanal ist für ihn zu anstrengend. Aber: „Im Kopf war ich oft da“, sagt der Professor.

Bei seiner Karriere habe er das Glück gehabt, auf Menschen zu treffen, die ihn förderten. Noetzel stieg relativ schnell zum wissenschaftlichen Mitarbeiter, Assistenten, Hochschuldozenten und schließlich zum Professor in Marburg auf. Seit 2002 hat er die ordentliche Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte inne. „Zufall“ nennt er die wissenschaftliche Karriere: „Ich sitze gern und denke nach.“

„ZOMBIES“ UND „BEFREITE SEXUALITÄT“

„Er arbeitet viel und ist ein ganz kluger Mensch“, sagen die Kollegen. Zwölf Bücher und zahlreiche Aufsätze hat er in den vergangenen Jahren geschrieben. Dabei schreckt er auch vor Themen wie „Zombies“ und „Befreite Sexualität“ nicht zurück. „Bildung bedeutet, mit Krisen souverän umgehen zu können“, steht heute auf seiner Homepage. Auf seine Krankheit bezieht er das Motto nicht. Für ihn hat Bildung etwas mit Reifungsprozessen zu tun: „Dazu braucht es Zeit, Muße und Freiraum für aktuell Irrelevantes“. Darum ärgert er sich über den „Klausur-Wahnsinn“ der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge.

Wer ihn in seinem Büro in der Philosophischen Fakultät besucht, trifft ihn nie allein. Ob Studierenden-Sprechstunde, Arbeitsgespräche mit Professoren oder Kolloquien - einer der drei Mobilitätsassistenten ist immer dabei. Die Assistenz am Arbeitsplatz zahlt der Landeswohlfahrtsverband. „Ich komme immer zu zweit“, sagt Noetzel lächelnd. Er braucht – vor allem morgens – mehr Zeit, um sich auf seinen Arbeitstag vorzubereiten. Lehrveranstaltungen legt er sich daher ungern vor 14 Uhr.

Wegen seiner Behinderung hat er zwar eine etwas niedrigere Lehrverpflichtung, drückt sich aber weder vor Fachbereichsrats- noch vor Direktoriumssitzungen. Zwei Jahre lang hat er das Institut für Politikwissenschaften als geschäftsführender Direktor nach außen vertreten. Die damit verbundenen Sitzungen waren ihm allerdings ein Gräuel.

Freilich gibt es für den Rollstuhlfahrer bis heute viele Hürden: „Barrierefreiheit ist immer noch eine Utopie“, sagt der 53-Jährige. Wenn seine Kollegen aus der Soziologie eine Sitzung in ihrem Institut in der Ketzerbach anberaumen, muss sie ohne ihn stattfinden. Die engen Treppen sind für ihn unüberwindlich. Wenig Verständnis hat er auch dafür, dass die Behindertenparkplätze vor der Philosophischen Fakultät während des vergangenen Winters nicht geräumt wurden. Als Rollifahrer blieb er im Schnee schlicht stecken. Doch die zuständigen Abteilungen schoben sich die Verantwortung gegenseitig zu. Das Problem wurde erst durch die Schneeschmelze gelöst.

Immer wieder begegnen ihm auch „ignorante Menschen“. Er trifft sie oft auf Wissenschaftlerkongressen. Sie wagten aus Verunsicherung mitunter kaum, ihn anzusprechen: „Behinderung konfrontiert Menschen mit der eigenen Verletzbarkeit“, erklärt Noetzel: „Das macht Angst.“

Er selbst möchte seiner Behinderung nicht mehr Bedeutung als nötig beimessen. „Man kann die Krankheit nicht überwinden. Man muss mit ihr leben“, sagt der 53-Jährige. Das gelte oft auch für gesellschaftliche Probleme, ergänzt der Experte. Wer sie ein für allemal lösen wolle, richte oft besonders viel Unheil an. Auch da plädiert er dafür, mit Unvollkommenheit zu leben. Grund zur Verzweiflung sieht er nicht. Seit 14 Jahren ist er mit einer Ärztin verheiratet. „Ich hatte es leicht im Leben“, sagt Noetzel: „Ich hatte Liebe, Zufall und Glück. So viel Glück, dass ich schon deshalb nie im Lotto gewinnen werde.“ Trotzdem spielt er manchmal.

Gesa Coordes