FRANKFURT. 9 Uhr in der Vitos Klinik Bamberger Hof: Facharzt Michael Grunz schnappt sich Patientenunterlagen, Autoschlüssel, schlüpft im Laufen in seine rote Jacke, eilt mit Pflegedienstleiter Georg Vogt zum Dienstwagen. Fünf Minuten später steuern sie ein Mietshaus an. Es dauert, bis sich die Wohnungstür öffnet. Eine blasse, grauhaarige Frau gibt zögernd den Weg frei zum Wohnzimmer. Die Männer setzen sich, Gerda Weber sinkt auf das Sofa.
Sie knetet die Hände, schaut auf den Tisch. Wie es ihr geht? „Nicht gut. In meinem Kopf ist diese Stimme“, sagt sie tonlos. „Eine Männerstimme, die mir sagt, was ich denke.“ Seit 20 Jahren, mal leise, derzeit laut. Sie war oft in der Klinik, die Ärztin dort hat sich an den Bamberger Hof gewandt. Grunz fragt nach den Medikamenten. „Die wirken nicht.“ „Nehmen Sie die regelmäßig?“ Pause. „Ja.“ „Haben Sie heute schon etwas genommen?“ Pause. „Nein, vergessen.“ Pause. Die Patientin greift zur Packung, fummelt eine Tablette heraus, schluckt sie. Es ist stickig, das Fenster geschlossen, der Vorhang zu. Vogt lässt seinen Blick wandern, zum Plattenspieler. „Wir haben doch über Ihre Schallplatten geredet. Haben Sie welche ausgesucht?“, fragt er lächelnd. „Nein, bin nicht dazu gekommen.“ Die 77-Jährige hat zwei erwachsene Töchter,
die regelmäßig anrufen, manchmal zu Besuch kommen. Die Nachbarin weckt die Rentnerin jeden Morgen mit Kaffee und Brötchen, schaut am Abend erneut vorbei. Ansonsten ist Weber allein. Sie sitzt dann auf dem Sofa. In der stillen Wohnung. „Diese Stille lässt viel Raum für das Innere. Musik könnte die Stille aufbrechen, die Stimme dämpfen“, versucht es nun auch der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Später, auf dem Weg zum Auto, erklärt er: „Frau Weber ist depressiv. Wir setzen dem vorsichtig etwas Lebendigkeit entgegen. Das darf nicht zu viel sein, um sie nicht zu überfordern.“ Das Ziel der Behandlung: „Wir wollen die Phasen verlängern, die Frau Weber zu Hause verbringt.“ Das funktioniert bei APAH, der „Ambulanten Psychiatrischen Akutbehandlung zu Hause“. Einer Klinik ohne Betten.
Fünf bis sechs Patienten besucht der Arzt täglich. „Wir achten auf eine enge Therapeuten-Patienten-Bindung, überlegen, welcher Patient zu welchen Mitarbeitern passt. Auch praktische Überlegungen spielen eine Rolle, zum Beispiel wo der Patient wohnt“, erklärt er und kurvt durch enge Seitenstraßen. Zwischen gepflegten Reihenhäusern eine Seniorenwohnanlage. „Guten Morgen, Herr Doktor. Möchten Sie ein Glas Wasser oder Kaffee?“, lächelt Dorothea Fischer und macht eine einladende Geste zur Sitzgarnitur. Erstmals mit APAH in Kontakt kam sie vor eineinhalb Jahren: „Da konnte ich mich selbst nicht mehr ertragen. Ich war unruhig, sehr ängstlich, habe keinen Schritt mehr vor die Tür gemacht.“ Jetzt kam die Angst zurück. „Ich musste wegen meines Blutdrucks dreimal ins Krankenhaus. Danach saß ich wieder nur noch auf der Couch“, schildert sie die Situation, die sie erneut zu APAH geführt hat. Heute strahlt die Rentnerin: „Ich war am Freitag erstmals seit Wochen wieder draußen. Sogar das Einkaufen war ein Erlebnis.“ Seither geht sie täglich raus. Auch der Tipp, sich der Gruppe älterer Frauen beim Sozialpsychiatrischen Verein anzuschließen, hat sich gelohnt: „Die sind sehr lebhaft, sehr sympathisch. Ich geh wieder hin.“
Fischer ist voll des Lobes für das APAH-Team: „Die sind alle so menschlich.“ Dazwischen fallen Sätze wie „ich hatte Angst, wie die Mitarbeiter wohl mit mir alter Frau umgehen“. Diese Furcht vor Ablehnung rührt aus der Kindheit in einem kirchlichen Waisenhaus. Dort zählte nur Leistung. Stimmte die nicht, gab es Schläge. „Erst mit 17 kam ich in eine Familie, die mir sehr geholfen hat“, berichtet sie. Dort hat sie ihre Unsicherheit überwunden, sich selbst Stenografie beigebracht, später als Sekretärin gearbeitet. Der Arzt muss los: „Reicht es, wenn am Montag wieder jemand vorbeischaut?“ Dorothea Fischer nickt: „Wenn es gar nicht geht, rufe ich an. Bei Ihnen ist ja immer jemand da.“
Schnell zum Auto, quer durch die Stadt. Was sind das für Menschen, die APAH betreut? „Es kann jeden treffen. Jeder hat seine Sollbruchstelle. Kommt eine schwierige Vorgeschichte unglücklich mit aktuellen Belastungen zusammen oder wird der Druck insgesamt zu groß, meldet sich die Psyche“, erklärt der Arzt. Gespräche helfen oft sehr. „Aber ein Gespräch hat Nebenwirkungen, wie ein Medikament. Deshalb muss ich auch hier auf die Dosierung achten.“
Zeit für die Teamsitzung. Ärzte, Pflegekräfte und der Sozialarbeiter setzen sich gemeinsam an einen Tisch. Auf einer Tafel, die die halbe Wand einnimmt, wird eingetragen, welcher Mitarbeiter wann welchen Patienten besucht. Die Teammitglieder berichten präzise: Was hat der Patient? Welche Medikamente werden eingesetzt? Sind Familie und Freunde eine Hilfe oder gar Teil des Problems? Was ist mit der jungen Frau, schwieriges Umfeld, völlig verschuldet? „Die hat mich bei der Schuldnerberatung versetzt“, klagt Sozialarbeiter Sven Hoffmann. Er hat Wochen um einen Termin für die Patientin gekämpft. „Ich kann deinen Ärger verstehen“, räumt Krankenschwester Ulrike Ohm-Wangler ein. „Aber die hat so hart an sich gearbeitet, die ist einfach an ihrer Grenze. Sie braucht uns noch“, argumentiert sie. Das Team diskutiert, stimmt zu. Gerda Weber muss weiter intensiv betreut werden, auch am Wochenende. Dorothea Fischer soll bald die Ambulanz der Klinik aufsuchen.
Das Team eilt wieder zu den Patienten: Ohm-Wangler ruft die junge Frau an. Grunz flitzt zum Auto, Dr. Henrike Patenoga in die Institutsambulanz. Sven Hoffmann greift zum Telefon. Georg Vogt und Facharzt Peter Hustedt brechen auf zu einer Neuaufnahme.
Stella Dammbach
Interview mit Dr. Barbara Bornheimer, Leiterin der Vitos Klinik Bamberger Hof
Die Vitos Klinik Bamberger Hof verfügt neben der Ambulanten Psychiatrischen Akutbehandlung zu Hause (APAH) auch über eine Tagesklinik und eine psychiatrische Institutsambulanz. Die Einrichtung im Herzen Frankfurts bietet seit elf Jahren die ambulante Behandlung zu Hause an und betreut im Schnitt 17 Patienten pro Monat. Das APAH-Team besteht aus fünf Ärzten, vier Pflegekräften, einem Sozialarbeiter und einer Bürokraft in Teilzeit.
Welche Erkrankungen haben die APAH-Patienten?
Vertreten sind alle Diagnosegruppen. Besonders profitieren psychisch kranke Menschen, die noch nie in der Klinik waren und Angst davor haben, und solche, die klinikmüde sind. Auch für junge Mütter, die nach der Geburt an einer Depression erkranken, und Patienten mit Demenz ist APAH ideal. Die Mütter werden nicht von ihren Kindern getrennt. Die Demenzpatienten müssen ihr gewohntes Umfeld nicht verlassen. Etwa ein Drittel der Patienten sind Migranten. Für sie bieten wir Beratungen in verschiedenen Sprachen an.
Aber gehören diese Patienten nicht in eine Klinik?
Die Erfahrung zeigt, dass vieles ambulant möglich ist. Was wir von den Patienten einfordern müssen, sind verbindliche Vereinbarungen. Und der Patient darf für sich selbst und für andere keine Gefahr sein. Aber wir gehen natürlich oft ein gewisses Risiko ein.
Welche Voraussetzungen müssen noch erfüllt sein?
Es muss eine Einweisung vorliegen, vom Haus- oder Facharzt oder aber einer Klinik.
Der Bamberger Hof ist die einzige Einrichtung in Hessen, die ambulante Akutbehandlung anbietet. Wie kommt das?
Unsere 1976 als Außenstelle des Waldkrankenhauses Köppern gegründete Klinik war vor elf Jahren von der Schließung bedroht. Die Mitarbeiter wollten aber weitermachen. Und auch viele Patienten mochten nicht auf uns verzichten. Also haben wir uns in England über die aufsuchende Behandlung zu Hause informiert. Dort wird das schon lange erfolgreich praktiziert. Wir haben es probiert. Und sind sehr zufrieden.
Was zeichnet die Arbeit der APAH aus?
Wir kommen nach Hause. Patienten mit Angststörungen haben oft seit Jahren ihre Wohnung nicht verlassen. Denen kommt das sehr entgegen. Unsere Pflegekräfte üben mit Patienten schrittweise das Verlassen der Wohnung oder das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Teammitglieder arbeiten auf Augenhöhe ohne Hierarchien. In schwierigen Situationen rufen die Pflegekräfte bei den Ärzten an, diskutieren mit ihnen die Behandlung. Eine Behandlung umfasst bis zu 30 Termine, in den ersten sechs Tagen muss immer jemand den Patienten besuchen. Auch an Wochenenden, Feiertagen. Innerhalb des Teams müssen wir uns deshalb aufeinander verlassen können. Das ist anstrengend. Aber diese Arbeitsweise hat Vorteile.
Welche?
Wir sehen, wie der Patient lebt, wie er agiert, in welchem Zustand seine Wohnung ist. Wir hatten einen Patienten, der die ganze Wand seiner Wohnung vollgeschrieben hat, da konnten wir den gesamten Krankheitsverlauf ablesen. Das lässt Rückschlüsse auf die Verfassung des Patienten zu. Der Patient wiederum hat Heimvorteil, wir sind seine Gäste. Im Extremfall kann er uns wegschicken. Und wir selbst erfahren, dass Teamentscheidungen jeden einzelnen tragen können, uns Sicherheit geben.
Das Interview führte Stella Dammbach