Toni Karcher kann sich nur in vertrauter Umgebung orientieren. Ihre Sehfähigkeit ist sehr stark eingeschränkt. Dass sie vom LWV Blindengeld erhält, hilft ihr, ihren Alltag zu organisieren. Sachbearbeiter Sven Sielaff hat ihr außerdem Büchereien nennen können, in denen sie ihre geliebten Hörbücher ausleihen kann.
SCHWALMSTADT-ZIEGENHAIN. An einem sonnigen Tag wie heute geht sie am liebsten raus auf den Schwalmdamm. „Der soll die Stadt vor Überschwemmung schützen und verläuft direkt hier bei uns neben der Seniorenresidenz“, erklärt Toni Karcher. „Oben auf der Krone ist er schwarz asphaltiert und die Böschung hebt sich farblich dagegen ab.“ Das kann die 85-Jährige gut sehen. Verkehr gibt es auch nicht, nur ein paar Radfahrer. „Die nehmen aber Rücksicht.“
Toni Karcher besitzt zwei Prozent Sehkraft und ihr Gesichtsfeld ist aufgrund einer Veränderung der Makula, des sogenannten Gelben Flecks auf der Netzhaut, eingeschränkt. Sie gilt als blind. „Ich bin froh, dass es mit meiner Blindheit so ist, dass ich mich räumlich zurechtfinde. Hier im Haus und da, wo mir die Umgebung vertraut ist, auch draußen.“ Toni Karcher gewinnt den Dingen immer etwas Positives ab. Das wird im Gespräch schnell deutlich. „Andere sind viel schlechter dran“, sagt sie mehrmals. Und sie erwähnt nur ganz kurz, dass sie sich momentan sehr geschwächt fühlt und schon seit Tagen nicht aus dem Zimmer geht.
Sie erwartet Sven Sielaff vom LWV auf ihrem Biedermeiersofa sitzend. Sielaff bearbeitet Frau Karchers Blindengeld-Anträge. Es freue sie, ihn einmal kennenzulernen, hatte sie zuvor am Telefon gesagt. „Hausbesuche sind bei uns normalerweise nicht üblich“, erklärt der Sachbearbeiter. Jetzt, da Frau Karcher als eine der rund 13.000 Blindengeldempfängerinnen und -empfänger in Hessen in der LWV-Zeitschrift vorgestellt werden soll, ist er als Experte gefragt. „Die meisten unserer Leistungsempfänger sind zwischen 60 und 90 Jahre alt. Rund drei Viertel“, erläutert er. „Und die altersbedingte Makuladegeneration ist in den Industrieländern die häufigste Ursache für Erblindungen bei älteren Menschen.“
„Das war schon ein großer Schock, als ich meine Sehkraft verloren habe. Erst auf dem rechten Auge und anderthalb Jahre später fing das andere an. Aber vielleicht war ich ein bisschen darauf vorbereitet, weil mein Mann bereits vor mir erblindet ist. Er hatte Diabetes.“ Für ihn sei es schlimm gewesen, die Vögel nicht mehr zu sehen. „Er war ein Naturfreund.“ Wie Toni Karcher. „Wir hatten eine Staudengärtnerei in Eisenach und waren den ganzen Tag draußen.“ Deshalb zieht sie es oft raus auf den Schwalmdamm.
Durch die Erblindung ihres Mannes hatte Toni Karcher bereits Kontakt zur Blindengeldstelle. Zunächst in Thüringen. Die Mitarbeiter dort hatten ihnen auch den LWV als Ansprechpartner genannt, als sie in die Nähe ihres Sohnes in Schwalmstadt umzogen. Denn als sie ebenfalls ihr Augenlicht verlor und sich in ihrem Haus zunehmend schlechter zurechtfand („Ich konnte die Dinge in der Küche nicht mehr bedienen“), gaben sie ihr Haus auf und zogen 2009 in die Seniorenresidenz. Ihr Mann starb nur wenige Monate später. „Aber ich bin froh, dass wir anfangs hier noch zusammen waren und uns gemeinsam eingelebt haben.“
Ihr wichtigster Zeitvertreib sind Radio, Hörbücher und klassische Musik. „Auf hr2 laufen Berichte über Theateraufführungen und Buchbesprechungen. Und Hörbücher sind eine tolle Sache.“ Wie der CD-Spieler funktioniert, hat sie sich angeeignet, als ihr Mann blind wurde. „Anfangs hatte ich mir das aufgeschrieben und den Zettel neben das Gerät gelegt.“ Jetzt kann sie es auswendig bedienen.
Sven Sielaff zieht einen DINA4-Bogen hervor. „Wussten Sie, dass man Hörbücher auch bei der Blindenstudienanstalt und bei dem Evangelischen Blinden- und Sehbehindertendienst ausleihen kann?“ Er kreuzt die Adressen auf dem Bogen an und reicht ihn Frau Karcher. „Da können sie sich auch informieren, was es so alles als Hörbuch gibt.“ Sie nimmt das Papier lächelnd entgegen. „Das kann ich gut gebrauchen. Das schaue ich mir auf dem Lesegerät an.“
Das Lesegerät steht neben dem Sofa. „Es hilft mir, wenn ich Kontoauszüge anschauen will oder Behördenpost.“ „Das ist ein wichtiges Stück Selbstständigkeit, oder?“, fragt Sven Sielaff. „Unbedingt. Ich bin froh, solange ich das noch selbst regeln kann.“
Bei anderen Dingen braucht sie Hilfe. „Wenn ich zum Arzt fahre, brauche ich ein Taxi.“ Eines der Dinge, die sie von ihrem Blindengeld finanziert. Und beim Einkaufen braucht sie Begleitung. „Ich bitte dann Bekannte oder meine Schwiegertochter. Denn die Waren in den Läden kann ich nicht erkennen. Ich bezahle dann das Fahrtgeld und bedanke mich immer mal wieder mit einem Geschenk.“ Und auch die Sonderausstattung des Lesegerätes konnte sie vom Blindengeld bezahlen. Das Gerät selbst hat die Krankenkasse finanziert. „Aber ich musste zuzahlen für die Ergänzungen, mit denen das Gerät an meine persönlichen Bedürfnisse angepasst wurde.“
Den Kontakt mit dem LWV lobt Toni Karcher in den höchsten Tönen. „Das läuft alles sehr gut. Wenn ich Fragen habe, kläre ich das am Telefon.“ Und der Betrag, den sie erhalte, sei deutlich höher als er im Nachbarland Thüringen war, betont sie. Einer der Vorteile ihres Umzugs nach Hessen. Ansonsten freut sie sich über jeden Gruß aus der Heimat. Deshalb war sie sehr erfreut, als sie mit Hilfe des Lesegeräts in der Zeitung entdeckte, dass in Sichtweite ihres Fensters eine Störchin aus Lauchröden brütet. Auf dem Schornstein der ehemaligen Schnapsbrennerei hatten ihr die Ziegenhainer ein Nest vorbereitet. Dort zieht sie jetzt ihre Jungen auf. „Man könnte denken, die Storchenmutter ist mir gefolgt“, sagt Toni Karcher mit einem verschmitzten Lächeln. Die 85-Jährige denkt eben positiv.
Elke Bockhorst
Hörbüchereien für Blinde in Hessen
Deutsche Blinden-Bibliothek (DBB)
in der Deutschen Blindenstudienanstalt
Am Schlag 8
35037 Marburg
Tel. 06421 606-0
dbb@blista.de
www.blista.de
Ev. Blinden- und Sehbehindertendienst
in Deutschland e.V.
Blindenhörbücherei
Lessingstraße 5
35039 Marburg
Tel. 06421 94808-20 oder -22
hoerbuecherei@ebs-deutschland.de
www.ebs-deutschland.de
Blindengeld ist eine einkommens- und vermögensunabhängige Leistung, die Blinde und wesentlich sehbehinderte Menschen in Hessen auf Antrag erhalten können. Sie wird vom LWV im Auftrag des Landes bewilligt. Grundlage ist das Hessische Landesblindengeldgesetz.
Anspruch haben Menschen, deren Sehvermögen auf dem besseren Auge nicht mehr als 2 Prozent beträgt. Sie erhalten Blindengeld in Höhe von 528,89 Euro.
Menschen mit einem Sehvermögen von 5 Prozent oder weniger auf dem besseren Auge gelten nach dem Gesetz als wesentlich sehbehindert. Sie erhalten monatlich 158,67 Euro. Menschen, die besondere Beeinträchtigungen, vor allem Einschränkungen des Gesichtsfeldes haben, können diesen Personenkreisen gleichgestellt werden.
Das Blindengeld soll ihnen ermöglichen, trotz der visuellen Einschränkungen am täglichen Leben teilzunehmen. Es soll Mehraufwendungen abdecken, z. B. Kosten für eine Begleitperson, für Fahrten mit dem Taxi sowie für den Zugang zu speziellen Medien wie Blindenzeitschriften und Hörbücher.
ebo