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Gut gefördert

Gut gefördert

Inklusion ist in den Schulen des LWV kein Fremdwort. Schon seit den neunziger Jahren begleiten die Lehrkräfte genau so viele Schüler an Regelschulen wie in den eigenen Einrichtungen. Sie beraten, beseitigen Hürden, vermitteln bei Konflikten. In der Mediothek in Friedberg finden sehbehinderte Kinder und deren Eltern zudem Unterstützung bei der Beschaffung von technischen Hilfsmitteln.


Gut gefördert

Rund 1.840 Kinder und Jugendliche besuchen die 13 Schulen des LWV. Es sind Schulen mit den Förderschwerpunkten Sehen, Hören, emotionale und soziale Entwicklung, geistige Entwicklung sowie für kranke Jungen und Mädchen.
Ebenso viele Schülerinnen und Schüler werden ambulant gefördert: Sie besuchen Regelschulen und werden sowohl pädagogisch als auch durch technische Hilfsmittel von den Kollegien der Förderschulen unterstützt. Dieses zweite Standbein der LWV-Schulen stellen wir Ihnen in dieser Ausgabe vor. Es ist ein wichtiger Beitrag zur Inklusion.

DIE SONDERROLLE MACHT MANCHE MITSCHÜLER NEIDISCH

Auf den ersten Blick sieht Katharina Bauscher nicht anders aus als ihre Mitschülerinnen. Sie sitzt in der zweiten Reihe neben ihrer Freundin Magdalena und beteiligt sich fleißig am Unterricht in der Steinataler Melanchthonschule. Dass die zwölfjährige Gymnasiastin gehörlos ist, merkt man ihr nicht an. Geschickt unter ihren langen Haaren verborgen, trägt sie deshalb zwei Cochlear Implantate, Gehörimplantate mit einer Spule und einem Sprachprozessor. Nur damit kann sie überhaupt hören.
Damit sie möglichst viel versteht, trägt Lehrer Jens Bödicker eine Tonübertragungsanlage, eine so genannte FM-Anlage, um den Hals. Das Gerät verstärkt seine Stimme für Katharinas Ohren. Wenn er längere Zeit nicht redet, schaltet er es aus. Wenn die Schüler in Kleingruppen arbeiten, legt er es auf den Tisch der Nachbarin. Zudem achtet er darauf, Diskussionsergebnisse an die Tafel zu schreiben. Eine besondere Belastung sei das nicht, betont der Deutschlehrer: „Wir unternehmen erstaunlich wenig, und es funktioniert trotzdem.“ Es gebe aber auch nur wenige Gehörlose, die so gut sprechen und hören lernen wie Katharina, sagt Förderschullehrerin Stefanie Gonther von der Hermann-Schafft-Schule in Homberg, die die Familie und die Schule ambulant unterstützt. „Nur wenige schaffen es aufs Gymnasium.“ Weil Katharina sich gut mitteilen konnte und keine Entwicklungsverzögerungen hatte, sprach sich die Expertin für Hörgeschädigte schon bei der Einschulung für die Regelschule aus. Das von Geburt an gehörlose Mädchen, das ihr erstes Wort mit knapp drei Jahren sprach, schrieb dort fast nur gute Noten – nur Mathe fällt ihr schwer.
„Wir haben aber auch alles an Frühförderung gemacht, was möglich war“, erzählt Mutter Alexandra Bauscher. Bis heute muss Katharina mehr lernen als andere. Auch das Zuhören ist für sie anstrengender: „Sie hört, aber nicht so differenziert wie ein normal Hörender“, erklärt Gonther.
Nach dem Wechsel auf die Gesamtschule in ihrem Wohnort gab es gleichwohl Schwierigkeiten mit Mitschülern, die sie ausgrenzten. „Das passiert vor allem bei Mädchen oft“, weiß Gonther. Die Sonderrolle mache manche Mitschüler neidisch.

Frieda Becker hat das leidvoll erfahren. Ihr Werdegang war zunächst genauso wie der von Katharina. Als die ersten Schwierigkeiten mit Mitschülern an der Gesamtschule auftauchten, versuchte sie, sich Hilfe bei ihren Lehrern zu suchen. Vergeblich. „Mein Klassenlehrer sagte immer, er könne sich nicht vorstellen, dass die anderen aus der Gruppe so gemein seien“, sagt Frieda rückblickend. Dabei waren die Pausen nach jeder Klassenarbeit die Hölle. „Ich hatte mehr Zeit, bekam einen Nachteilsausgleich, weil ich länger brauche, um geschriebene Texte zu verstehen. Deshalb habe ich meist in einem anderen Raum geschrieben. Die anderen kamen dann immer sofort angelaufen und wollten wissen, wie viel Zeit ich hatte.“ Am schlimmsten aber war es, wenn sie eine Eins hatte. Dann sagten manche Mitschüler: „Der Lehrer hat Dir doch alles verraten!“

Die Sonderrolle machte ihr zu schaffen. Sie kapselte sich ab. Nur eine Mitschülerin hielt zu ihr. „Ansonsten war ich außen vor.“ Das nagte an ihrem Selbstbewusstsein. Trotzdem hielt sie bis zur achten Klasse durch. Dann passierten zwei Dinge: Eine frühere Freundin aus der Grundschulzeit behauptete bei Facebook, sie sei lesbisch. Und während eines Englischreferates machten die Mitschüler ständig Grimassen, weil ihre Aussprache nicht so gut war.
Danach wollte sie nur noch weg. Als sie in der Hermann- Schafft-Schule hospitierte, war ihr schon am ersten Tag klar, dass sie bleiben will. Inzwischen hat sie ihren Abschluss und besucht ein Oberstufengymnasium mit Internat in Essen.

Auch Katharina wechselte die Schule. Seit sie das evangelische Gymnasium in Steinatal besucht, geht es ihr besser. Die Lehrer gehen selbstverständlich und unauffällig mit ihrer Behinderung um. Mit Magdalena hat sie eine gute Freundin gefunden. Die Klasse hat sie mit offenen Armen aufgenommen. Nur die FM-Anlage, dieses „Symbol ihrer Sonderstellung“, wäre sie am liebsten los. Aber das geht leider nicht.
Stefanie Gonther berät die Lehrer und hat sie in die Bedienung der FM-Anlage eingewiesen. Für die Klasse startete sie ein Projekt, bei dem die Schüler im Eigenversuch probierten, einem Diktat zu folgen, während sie „schwerhörig“ waren: Sie trugen Ohrstöpsel und Kopfhörer.
Katharina findet vor allem das Schwimmen „cool“. Hören kann sie dort nichts, weil sie ihre Geräte im Wasser nicht tragen kann. Dann verständigt sie sich mit Händen und Füßen, liest von den Lippen ab oder schwimmt einfach hinterher. Und das gut. Jeden zweiten Tag schwimmt sie in der Leistungsgruppe bei der Eintracht Stadtallendorf.
Gesa Coordes/Elke Bockhorst


TECHNIK, DIE BEIM LERNEN HILFT: DIE MEDIOTHEK 

Kaum ist Wulf an seinem Platz angekommen, da beginnt er, sein Laptop aufzubauen. Als er es aufklappt, wird ein großer Bildschirm sichtbar. Daneben stellt der Sechstklässler eine Halterung für die kleine Leselampe und seine Kamera auf. Mit zwei Handgriffen klappt er den silbernen Quader auf und richtet die Kamera auf die Tafel. Auf dem Laptop kann Wulf sich nun das Tafelbild von Nahem anschauen.
Es ist die Technik, die ihm ermöglicht die Ulstertalschule in Hilders zu besuchen.
Wulf fehlen Pigmente. Albinismus heißt das, betroffen ist auch der Punkt des schärfsten Sehens im Auge. Trotz Brille sieht der Gymnasiast nur zehn Prozent.
Dass er die Regelschule besucht, „hat sich so entwickelt“, sagt seine Mutter Roswitha Büttner. Seit er drei Monate war, bekam er Frühförderung, und im Kindergarten kam er gut zurecht. So wurde er in der Dorfschule angenommen. Und der Leiter der Ulstertalschule nahm sich Zeit, um sich Wulf genau anzusehen. Dann nahm er ihn auf.
Jetzt sitzt der zierliche Wulf neben seinem Freund Maximilian im Englischunterricht. Beide interviewen sich gegenseitig, was sie in den Ferien gemacht haben, und schreiben es anschließend auf. Maximilian ins Heft, Wulf in sein Laptop.
Den hat er von der Mediothek des LWV an der Johann-Peter- Schäfer-Schule in Friedberg bekommen. „Bei solchen notwendigen Spezialausstattungen übernehmen wir 70 Prozent der Anschaffungskosten, die von der Krankenkasse nicht getragen werden“, erläutert Koordinatorin Dagmar Stöhlker. „Der Schulträger vor Ort beteiligt sich mit 30 Prozent.“ 50.000 Euro stellt der LWV jährlich für die Mediothek zur Verfügung. 2010 konnten 34 Kinder davon profitieren. Über 480 Spezialgeräte stehen in der Mediothek zur Verfügung. Wenn ein Schüler die Geräte nicht mehr braucht, etwa weil er die Schule verlässt, dann gehen sie in den Bestand ein.
Sein Laptop hat Wulf in der 4. Klasse bekommen. Damit er bereits damit vertraut war, bevor er aufs Gymnasium kam. Die Lehrbücher spielt er mittels einer CD auf.
„Mir ist wichtig, dass Wulf dieselben Dinge macht wie alle anderen“, sagt seine Klassenlehrerin Myriam Kluge-Hohmann. Für die Interviews stehen alle auf und suchen sich im Raum immer wieder neue Geprächspartner. „Mit Wulf geht Ihr dann zu seinem Platz, damit er ins Laptop schreiben kann“, fügt sie hinzu.
Roswitha Büttner ist froh, dass ihr Sohn zurecht kommt. „Hilders ist weit von der nächsten Förderschule entfernt. Ich wollte ihn ungern jetzt schon ins Internat geben.“ Aber: „Es war sehr beruhigend für uns, zu wissen, dass es eine solche Alternative gibt. Für den Fall, dass es mit der Regelschule nicht geklappt hätte.“
Heute Nachmittag geht Wulf mit zu Maximilian. „Wir haben sturmfreie Bude“, sagt der. Zuerst werden sie sich was zu essen zubereiten („Maxi kann super kochen“, versichert Wulf.) und dann Wrestling machen, auf dem Trampolin. „Kannst Du Dich gegenüber Deinem kräftigen Freund behaupten“, frage ich Wulf. „Das kann er!“, trompetet Maximilian und lächelt seinen zierlichen, athletischen Mitschüler verschwörerisch an.
Elke Bockhorst

Kontakt und weitere Informationen:
Katja Wendel, Landeswohlfahrtsverband Hessen, Tel. 0561 1004-2316, katja.wendel@lwv-hessen.de oder
Dagmar Stöhlker, Johann-Peter-Schäfer-Schule, Tel. 06031 608-280, stoehlker@jpss-fb.de
 

PROZESSE BEGLEITEN

Dennis H. hat ein Ziel vor Augen. Er möchte die Mittlere Reife schaffen. An einer neuen Schule. Der 15-Jährige will einen Neuanfang, denn die zurückliegenden Schuljahre waren von Konflikten geprägt.
Weil Daniela Westermann ihn begleitet hat, hat Dennis H. es bis hierher geschafft. Nun will er sich aus seiner alten Rolle lösen. Daniela Westermann ist Lehrerin an der Schlossbergschule in Wabern, einer Förderschule für emotionale und soziale Entwicklung. Seit fünf Jahren gehört sie zum Team des Überregionalen Beratungs- und Förderzentrums (BFZ). Sie berät Kolleginnen und Kollegen an der Regelschule sowie Eltern und fördert Schülerinnen und Schüler ambulant, wenn Schulprobleme zu groß werden.
Dennis kennt sie schon seit der 5. Klasse. Die Lehrkräfte beklagten, dass Dennis distanzlos sei, sich oft einmische in Konflikte anderer Schüler. Er störe den Unterricht, sagten sie, vernachlässige die Hausaufgaben und habe keine Ordnung in seinen Heften und Büchern.

„Dennis fühlte sich selbst als Außenseiter“, sagt Daniela Westermann. Er hatte wenige Freunde, seine Mutter war zugewandt, musste aber viel arbeiten, und von den Lehrern fühlte er sich schnell angegriffen. Er reagierte resigniert oder wurde laut.

Daniela Westermann setzte sich dafür ein, dass er in eine Parallelklasse versetzt wurde, damit er eine neue Chance bekam. Das war der erste Schritt. Dann folgten viele Gespräche mit seinen Eltern, mit den Lehrkräften und viele Treffen am Runden Tisch mit außerschulischen Kooperationspartnern wie dem Jugendamt.

Dennis erhielt regelmäßig Einzelförderstunden, die dazu dienten, sein Selbstwertgefühl zu stärken und die Konflikte zu reflektieren. Außerdem konnte er Probleme besprechen, die außerhalb der Schule lagen. „Langsam hat Dennis gelernt, Vertrauen zu fassen und seine Emotionen auch in Streitsituation besser zu kontrollieren“, stellt Westermann fest. Danach konnten sein Lernverhalten und der Umgang mit Hausaufgaben besprochen werden.

Bis zu 35 Kinder begleitet Daniela Westermann pro Jahr. „Manchmal ist die Beratung schon nach zwei klärenden Gesprächen abgeschlossen“, sagt die Pädagogin, „manchmal dauert sie Jahre. Es ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem Lösungsansätze erarbeitet und von allen, die an der Erziehung des Kindes beteiligt sind, angenommen werden.“

Timo* zum Beispiel konnte nach mehreren Beratungsgesprächen probeweise die Vorklasse besuchen. Er war bereits im Kindergarten durch aggressive Ausbrüche aufgefallen. Auslöser konnte schon ein anderes Kind sein, das ihn anschaute. Die Eltern stimmten einer psychiatrisch-psychologischen Diagnostik zu. Dabei kam heraus, dass Timo unter ADHS, dem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom leidet. Daniela Westermann begleitete nur die Lehrkräfte im Umgang mit dem Kind. Mittlerweise besucht Timo die 2. Klasse. Lehrerinnen und Lehrer bitten sie nur noch bei Bedarf um Beratung. Sie haben Sicherheit im Umgang mit dem Jungen gewonnen.
*Name geändert
Elke Bockhorst


LERNORTE ZUM WOHLFÜHLEN

Interview mit Dr. Peter Barkey, Beigeordneter des LWV, Erika Carstensen-Bretheuer, Leiterin des Fachbereichs Überregionale Schulen, und Dietmar Schleicher, Leiter der Hermann-Schafft-Schule in Homberg

Was ändert sich für den LWV mit dem neuen Schulgesetz?

Carstensen-Bretheuer: Herzlich wenig. Denn die Schulen in unserer Trägerschaft haben ihren Schwerpunkt schon seit vielen Jahren auf die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung gelegt. Sie betreuen ebenso viele Schüler an den Regelschulen, wie in den Förderschulen des LWV unterrichtet werden.
Außerdem sah das Schulgesetz auch bisher schon vor, dass Kinder an der Regelschule unterrichtet werden, wenn die Eltern keinen Antrag auf Besuch einer Förderschule stellen. Nur bei Kindern mit erheblichen Lernbeeinträchtigungen machte das Gesetz eine Ausnahme: Da entschied das Staatliche Schulamt, ob sie eine Regel- oder eine Förderschule besuchen konnten.
Das neue Hessische Schulgesetz sagt: Alle Kinder besuchen die Regelschule, wenn die Eltern nicht ausdrücklich eine Förderschule wählen.

Barkey: Das Gesetz richtet sich im Grunde an die Regelschulen. Sie müssen sich auf den besonderen Förderbedarf der Kinder einstellen.

Werden den Förderschulen des LWV da nicht die Schülerzahlen wegbrechen?

Carstensen-Bretheuer: Das glaube ich nicht. Schon heute kommen die meisten Schüler zu uns, weil ihre Eltern oder die Schüler selbst das wünschen. Die Kinder und Jugendlichen werden bei uns außerordentlich gut gefördert und zielgleich unterrichtet. Das heißt: Die meisten nehmen an den zentralen Abschlussprüfungen für die Haupt- und Realschule teil. 61 Prozent unserer hörgeschädigten Schülerinnen und Schüler und 54 Prozent der Jugendlichen an den Schulen mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung sowie für kranke Jungen und Mädchen schaffen das. An den Schulen für sehbehinderte und blinde Kinder sind es immerhin 25 Prozent. Dort werden auch schwerst und mehrfach behinderte Schüler unterrichtet.

Schleicher: Wo es möglich war, wurde der Weg zur Regelschule immer schon genutzt. Das liegt auch an unserer Frühförderung: Die Hälfte aller sehbehinderten und blinden Kinder, die früh gefördert wurden, geht in die normale Grundschule. Bei den Kindern mit Hörschädigung ist der Anteil sogar noch größer. Aber es wird auch künftig Jungen und Mädchen geben, die einen speziellen Förderbedarf haben. Manche brauchen zum Beispiel die Gebärdensprache, um kommunizieren zu können, andere brauchen kleine Klassen und ausgezeichnete akustische Lernbedingungen. Nur so erreichen sie den Abschluss und damit eine gute Startposition fürs weitere Leben.

Wie kommt es, dass der LWV so stark außerhalb der eigenen Schulen engagiert ist?

Carstensen-Bretheuer: Bereits vor Inkrafttreten des ersten hessischen Schulgesetzes 1992 haben Pädagogen unserer Schulen Kinder ambulant an Regelschulen betreut. Deshalb wurde dies als Auftrag ins Schulgesetz aufgenommen. Seit 1994 sind unsere Schulen Überregionale Beratungs- und Förderzentren. Diese beraten und betreuen Kinder, ihre Eltern und Lehrkräfte.

Schleicher: Wir begleiten Kinder mit einer Hörschädigung oder Sehbehinderung und deren Eltern vom Säuglingsalter bis zum Ende der Schulzeit, ohne dass die Kinder Schüler unserer Förderschulen sein müssen.

Barkey: Wir verstehen uns als pädagogische Paten. Die Eltern einzubeziehen ist besonders wichtig. Sie brauchen Unterstützung, denn sie tragen große Verantwortung.

Das Wahlrecht im Sinne der UN-Konvention ist aber nur gewährleistet, wenn es wirkliche Alternativen gibt. Viele wählen unsere Schulen, weil diese Ganztagsangebote machen und weil sie die Kinder und Jugendlichen gerade in den lebenspraktischen Fähigkeiten sehr gut qualifizieren. Experten sprechen ja von einem zweiten Curriculum für Jungen und Mädchen mit Behinderung. Sie müssen lernen, sich trotz Sehbehinderung im Straßenverkehr zu bewegen oder trotz Hörbehinderung zu kommunizieren, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Solche Angebote müssen Eltern nicht extra organisieren, wenn ihre Kinder unsere Schulen besuchen. Manche Familien ziehen deshalb sogar in die Nähe einer LWV-Schule.
Unsere Schulen waren schon immer Förder- und keine Sonderschulen.

Hat sich das Verhältnis von ambulanter Förderung im Verhältnis zu den Schülerzahlen im Lauf der Jahre verändert?

Carstensen-Bretheuer: In der Tat. Wir erreichen heute doppelt so viele Schülerinnen und Schüler an den Regelschulen wie noch vor zehn Jahren. An unseren eigenen Schulen verzeichnen wir aber nur einen leichten Rückgang.

Wie kommt das?

Schleicher: Diagnostik und Früherkennung sind sehr viel weiter. Heute werden Beeinträchtigungen in der Sinneswahrnehmung schneller und früher erkannt. Dies belegen die steigenden Zahlen in der Frühförderung.

Barkey: Es ist aber auch ein Hinweis auf die Qualität unserer Schulen. Wir haben eine sehr gute räumliche Ausstattung mit zum Beispiel hervorragenden akustischen Bedingungen und sehr guten Beleuchtungsstandards, die sehbehinderten Schülern die Orientierung erleichtern.

Carstensen-Bretheuer: Die Qualität unserer Arbeit zeigt sich meiner Ansicht nach auch daran, dass unsere Schüler gute Perspektiven nach dem Schulabgang haben: 29 Prozent bekommen einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz, 42 Prozent gehen in die Berufsvorbereitung, 10 Prozent wechseln auf eine Regelschule, und 19 Prozent arbeiten anschließend in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Nur ganz wenige verlassen die Schule ohne Perspektive.

Barkey: Das ist besser als an vielen Regelschulen und liegt an der spezifischen, heilpädagogischen und passgenauen Förderung, wie zum Beispiel den SCHUB-Klassen, die schulische und berufliche Bildung verbinden.

Schleicher: Positiv ist auch die große Durchlässigkeit. Schüler wechseln von uns zur Regelschule und zurück. Sie besuchen zum Beispiel bei uns die Vorklasse und gehen anschließend in die örtliche Grundschule.

Aber ist das nicht was ganz anderes als die jetzt geforderte „Schule für alle“?

Carstensen-Bretheuer: Ja. Aus unserer Sicht ist es wichtiger, die richtigen Bildungsangebote für alle zu haben. Deshalb haben wir zum Beispiel die Mediothek eingerichtet, die bei der Ausstattung mit teuren und wichtigen technischen Hilfsmitteln für Blinde und Sehbehinderte hilft. Solche Dinge sind unerlässlich für eine inklusive Bildung. Und wir haben unsere Angebote in die Fläche gebracht, um die Wege für Eltern und Kinder zu verkürzen. Das gelingt auch über eine gute Vernetzung mit anderen: Die Frühförderung für sehbehinderte und blinde Kinder geschieht zum Beispiel gemeinsam mit Diakonie und Blindenstudienanstalt. Oder in Fulda nutzt unsere Frühförderung die Räume des „Zitronenfalters“, einer Einrichtung des Antoniusheims. Und in Bad Camberg bauen wir mit dem örtlichen Schulträger und der Stadt gemeinsam eine Sporthalle.

Wie sehen Sie die Zukunft?

Schleicher: Wenn man Inklusion ernst nimmt, muss man die Frühförderung weiter ausbauen. Und wir brauchen einen Lernort für jedes Kind, an dem es sich auch wohlfühlt. Auch der Erziehungswissenschaftler Prof. Otto Speck sieht die Gefahr, dass heilpädagogische Bedürfnisse in einer Schule für alle zu kurz kommen.

Barkey: Der Rechnungshof hat uns 2005 attestiert, dass wir hervorragend arbeiten. Kommunale Träger und Landesbehörde kooperieren ausgezeichnet mit uns. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Aber leider ist es so, dass die Schulen für kranke Schülerinnen und Schüler, also für jene Kinder und Jugendlichen, die in psychiatrischer Behandlung sind, in diesem Schuljahr personell schlechter ausgestattet sein werden.
Ich wünsche mir, dass unsere Aufgabe weiter wichtig genommen wird.

Das Interview führte Elke Bockhorst