Das Haus Sandkorn des Stephanus Werks der Diakonie Lahn-Dill in Wetzlar macht Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehörigen viele Angebote. Betreutes und Begleitetes Wohnen gehören dazu, psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen, Tagesstätten, der offene Sandkorn-Treff und seit 2008 das Bistro Lahnblick, das in kurzer Zeit zur festen Mittagstisch-Adresse auch von Wetzlarer Geschäftsleuten geworden ist. Haus Sandkorn ist Kooperationspartner des LWV beim diesjährigen Hessentag.
WETZLAR. Wenn Julia anruft, weiß Andreas Richter, dass es Zeit ist, einen seiner festen Termine im Sandkorn-Treff wahrzunehmen. Julia ist Andreas Richters mobile Freundin, ein Handy, in dem alles Wichtige gespeichert ist. Und der Besuch in der Obertorstraße ist wichtig: Seit Juni 1996 ist er hier regelmäßig zu Gast. Jeden Tag um Viertel nach zwei trifft er ein, um Punkt halb drei holt er sich seine Flasche Wasser. Er bleibt, bis Julia ihm sagt, dass der nächste Termin ansteht. „Ich fühle mich hier wohl. Hier habe ich meinen festen Platz“, sagt der Mann mit den Taschen voller Geld. Acht Kilo Münzrollen trägt er mit sich, immer zur Stelle, wenn Busfahrer und Geschäftsleute der Stadt Geldscheine in Kleingeld wechseln wollen.
Andreas Richter ist einer von vielen psychisch kranken Menschen, die das Sandkorn-Angebot in Wetzlar nutzen. Jährlich kommen um die 200 Betroffene in eine der Beratungsstellen, der Sandkorn- Treff und das Bistro Lahnblick verzeichneten im vergangenen Jahr mehr als 6.000 Besuche. Tendenz steigend.
„Am Anfang hatte ich Angst, herzukommen“, sagt Willi Look. Eine Betreuerin hatte ihn vor drei Jahren in den Sandkorn-Treff mitgenommen. Bis dahin hatte der 58-jährige Mann mit der sanften Stimme Jahre fast nur allein in seiner Wohnung verbracht. „Alles war neu hier, doch als ich erst einmal da war, hat es mir gefallen.“ Mittlerweile ist Willi Look festes Team-Mitglied im Bistro Lahnblick, kocht, spült, bedient. Was er sich früher nicht zutraute, packt er heute an, und schafft es. „Herr Look“, sagt Wolfgang Muy, Leiter des Hauses Sandkorn, „hat hier eine große Entwicklung gemacht.“
Marc Crone ist ebenfalls eine feste Service-Größe im Bistro in der Brückenstraße. „Durch das Haus Sandkorn und die Arbeit im Bistro hat sich mein ganzes Leben verändert“, sagt er. „Andere brauchen Tabletten, damit es ihnen besser geht, ich brauche das Bistro.“ Engagiert erzählt er von seiner Arbeit. „Wir sind hier eine gute Gesellschaft, jeder ist für jeden da. Das Schönste ist, dass auch ‚Normalos’ kommen. Geschäftsleute, Zahnärzte, Anwälte, die sich zu uns setzen und sich ganz normal mit den psychisch Kranken unterhalten.“ Marc Crone ist nicht nur im Bistro Lahnblick mit viel Elan dabei. Er ist auch Mitglied der Sandkorn-Fußballgruppe, spielt Theater bei den Sandkörnern und organisiert gemeinsam mit anderen Betroffenen Ausflüge wie den nach Dresden im letzten Jahr. „Wir sind zu sechst ohne Betreuer gereist und von Montag bis Freitag in Dresden geblieben. Gewohnt haben wir in einem Selbstversorgerhaus der Kirche. Auch die Ausflüge haben wir selbst organisiert, zum Beispiel zum Zwinger und zur Frauenkirche.“
„Unsere Klienten“, sagt Wolfgang Muy, „nehmen nicht nur an den Aktivitäten teil, die unsere Tagesstätten anbieten, einige von ihnen organisieren auch eigene, wie Spieleabende, Wochenendtreff oder eben Ausflüge. Wir unterstützen dieses Engagement, indem wir zum Beispiel die Räume zur Verfügung stellen.“
Das Haus Sandkorn ist für mich ein wichtiger Punkt in meinem Leben“, sagt Karsten Walter. „Hier sind Leute, die die gleichen Probleme haben, man versteht sich, kann sich austauschen. Die Tagesstätte hilft mir, jeden Tag sinnvoll zu gestalten.“ Seit vielen Jahren ist Karsten Walter bei vielen Aktivitäten dabei. Er schreibt Gedichte, malt, spielt Schach mit anderen Besuchern. Auch öffentliche Auftritte scheut er nicht. Beim letzten Hoffest des Hauses Sandkorn übernahm er die Moderation und assistierte dem Jongleur. „Solche Aktivitäten sind ein guter Aufbaufaktor für meine Psyche. Bei diesen Auftritten denke ich mir, das dürfte jetzt nie aufhören.“
Für die jährlichen Hoffeste lässt Wolfgang Muy einen Teil der Straße sperren. „Es ist jedes Mal eine lebendige, bunte Veranstaltung mit Vorführungen und Musik, mittendrin im Altstadtleben“, sagt er. „Manche Nachbarn kommen, um mitzufeiern, Außenstehende werden angelockt. Für uns schafft das Fest immer kleine Berührungspunkte.“
Noch mehr dieser Berührungspunkte schaffen die „Sandkörner“ mit ihrer Theatergruppe. „Als ich hörte, dass im Haus Sandkorn auch Theater gespielt wird, wollte ich unbedingt dabei sein“, lächelt Ute Gäbisch und erzählt begeistert von den Proben und der Leiterin der Gruppe, der engagierten Theaterpädagogin Juana Sudario. Seit 6 Jahren ist Ute Gäbisch festes Ensemble-Mitglied. „Ich wollte immer etwas machen. Theaterspielen macht mir so viel Freude. Wenn ich mir vorstelle, dass es das Haus Sandkorn und die Theatergruppe nicht mehr gäbe, das wäre sehr schlimm. Keine Gemeinschaft mehr, keine Auftritte, kein Applaus vom Publikum.“ Ihre Texte lernt die 51- Jährige allein zu Hause. Es ist ihr wichtig, zu betonen: „Wir sind genau so wie alle anderen. Wir wollen zeigen, dass man auch etwas leisten kann, auch wenn man krank ist.“
Die Theaterstücke sind sozialkritisch und nehmen Bezug auf die Situation psychisch kranker Menschen. 2008 erhielten die Sandkörner den Walter-Picard-Preis des LWV Hessen, worauf alle sehr stolz sind. Die Sandkörner treten in anderen Einrichtungen auf, aber auch öffentlich wie im Wetzlarer Stadthaus am Dom oder im kommenden Juni auf der Bühne der Landesausstellung beim Hessentag 2012 in Wetzlar. Hier wird sich das Haus Sandkorn außerdem gemeinsam mit dem LWV mit einem Stand präsentierten. „Wir haben einiges geplant“, sagt Wolfgang Muy, „Besucher dürfen gespannt sein.“
Volker Martin ist morgens einer der ersten in der Obertorstraße. „Als ich damals aus der Klinik kam, war ich froh, dass hier das ambulante Team war, Leute, die erst mal zugehört haben. Mittlerweile koche ich hier und bin seit 9 Jahren bei vielen Aktivitäten dabei, in der Schwimmgruppe zum Beispiel oder in der schönen Männergruppe von Herrn Muy, die außerhalb des normalen Tagesstättenangebots stattfindet.“ Gespannt wie alle anderen blickt er dem neuesten Sandkorn- Projekt entgegen: Dem Kiosk Obertor. „Der Bedarf an teilstationären Angeboten ist weiter gestiegen“, erklärt Wolfgang Muy, „aktuell ist die Tagesstätte in der Obertorstraße mit 127 Prozent ausgelastet, und es stehen 12 Personen auf unserer Warteliste. Das neue Projekt wird vier weitere Tagesstättenplätze schaffen und die Inklusion in diesem Stadtteil fördern.“ Geplant ist die Einrichtung eines Kiosks gegenüber der Tagesstätte Sandkorn in unmittelbarer Nähe zu einem Hotel, einer Seniorenwohnanlage und eines viel genutzten Schulweges. An Kundschaft dürfte es nicht mangeln. „Wir hoffen auch bei diesem Inklusionsprojekt sehr auf die Unterstützung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, damit wir gemeinsam noch mehr erreichen können.“
Karsten Walter nickt. „Man muss den Menschen, die nicht psychisch krank sind, klar machen: Wir gehören mit zur Gesellschaft. Menschen mit psychischen Erkrankungen sind darauf angewiesen, dass sie auch von der Gesellschaft anerkannt werden, dass man sieht, was sie leisten können und wollen. Jedem von uns fällt es oft sehr schwer, herzukommen und aktiv mitzumachen, doch wir tun es mit all unserer Kraft. Bei allem Positiven darf man nicht vergessen: Die Krankheit ist immer da. Da muss es auch genug Berater und Angebote geben. Da draußen sind viele Menschen, die Hilfe brauchen und gerne einen Platz wie wir ihn haben hätten.“
Sigrid Krekel