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Erfolgreich mit Perspektiva

Erfolgreich mit Perspektiva

Bessere Chancen für Jugendliche mit Behinderung: Das ist das Ziel von Perspektiva. Die Fördergemeinschaft hat 75 jungen Männern und Frauen seit ihrer Gründung einen Arbeitsplatz vermittelt. Zum Beispiel Holger Jehn und Waleri Liebert

Erfolgreich mit Perspektiva

FULDA. Meterhohe Regale, bis unter die Decke prallgefüllt mit Lebensmitteln – die geheime Ordnung, wo was hingehört, die kennen Holger Jehn und Waleri Liebert ganz genau. Und wehe, sie sind mal nicht da, dann droht das Chaos auszubrechen im Warenlager des Lebensmittelgroßhändlers Groma in Fulda. Schichtleiter Volker Beck zitiert dazu gerne seinen Unternehmenschef Hermann Schneider: „Wenn ich im Urlaub bin“, sagte der einmal, „das fällt keinem auf. Aber wenn Waleri und Holger fehlen – das merken alle sofort.“

Waleri Liebert und Holger Jehn haben über Perspektiva ihren Weg zu einem unbefristeten Arbeitsvertrag als Lagerfacharbeiter bei Groma gefunden. Keine Selbstverständlichkeit für die sympathischen jungen Männer, denn ihre Schullaufbahn war nicht geradlinig. Nach der Förderschule war zunächst unklar, wie es weitergehen würde, denn sie konnten keinen Hauptschulabschluss vorweisen. So wurde die Werkstatt für Menschen mit Behinderung des St. Antoniusheims ihre erste Station.

LEBENSUNTERHALT BESTREITEN

„Perspektiva wurde 1999 für genau diese Jugendlichen gegründet, die aufgrund einer Lernbehinderung keine Möglichkeit haben, Hauptschulabschluss und Lehre zu machen, die aber auf Dauer in einer Werkstatt unterfordert sind“, erklärt Michael Becker, der seit zwölf Jahren die gemeinnützige GmbH Perspektiva in Fulda leitet. „Erklärtes Ziel ist es, diesen jungen Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, ein weitestgehend selbstständiges Leben zu führen.“ Dazu zählt vor allem, dass sie ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten und eine Festanstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt bekommen. Die Idee, die hinter Perspektiva steht, ist, Unternehmer zu gewinnen, die diesen außerordentlich motivierten und arbeitswilligen Jugendlichen eine Chance geben. Dafür erhalten die Unternehmen Unterstützung durch erfahrene Sozialarbeiter, die die Jugendlichen auf ihrem Weg in die Selbstständigkeit begleiten. Immerhin 17 Unternehmen aus Fulda ließen sich 1999 begeistern und wurden Gründungsmitglieder der Perspektiva gGmbH. Treibende Kräfte auf Seiten der sozialen Einrichtungen waren das St. Antoniusheim, ein heilpädagogisches Zentrum für Menschen mit Lern- oder geistiger Behinderung mit eigenen Werk- und Produktionsstätten, und die Grümel gGmbH, eine Fördereinrichtung für schwer vermittelbare Jugendliche. Gemeinsam hoben sie das Projekt aus der Taufe. „Heute hat Perspektiva 71 Gesellschafter und weitere 30 Firmen als Partner“, erläutert Geschäftsführer Becker. Jeder Gesellschafter zahlt bei Eintritt einen Anteil von 2.500 Euro, einmal jährlich findet ein Unternehmerforum statt. Ebenso treffen sich die Personalverantwortlichen zum Austausch. „Dieser Dialog ist das wichtigste Element. Es ist nicht so, dass wir zu den Unternehmen gehen und sagen, wir haben die Lösung. Nein, wir kommen mit Fragen und versuchen, gemeinsam mit den Unternehmern herauszufinden, was für die Jugendlichen und die Firmen das Beste ist.“ Schließlich ist Perspektiva eine gemeinnützige GmbH der Unternehmer, die damit einerseits ihr Profil als sozial engagierter Arbeitgeber schärfen, andererseits aber auch zuverlässige Mitarbeiter für einfache Tätigkeiten gewinnen.

Herzstück von Perspektiva ist der am Rande Fuldas gelegene Theresienhof. Ehemals von Ordensschwestern bewirtschaftet, beherbergt der Hof heute in seinen verschiedenen Gebäuden Werkstätten und Unterrichtsräume. Auf dem dazugehörigen Land betreibt Perspektiva eine Baumschule. Hier können die Jugendlichen ihre Fähigkeiten erproben, erhalten Unterricht und üben den sozialen Umgang miteinander. Zum Hof zählt auch ein Biergarten, den Spaziergänger und Familien mit Kindern gerne aufsuchen.

DREI PHASEN

Becker versucht schon früh in Kontakt zu treten mit Jugendlichen, für die Perspektiva eine Option sein könnte – ihnen kann oftmals der Umweg über eine Werkstatt erspart bleiben. Dafür hält er Kontakt zu Förderschulen. Wer Interesse hat, kann noch während der Schulzeit ein Praktikum auf dem Theresienhof machen. Haben sich Jugendliche für Perspektiva entschieden, führt ihr Weg in die wirtschaftliche Unabhängigkeit über drei Phasen.

Die erste Phase dauert ein Jahr. Dies ist die Zeit der Orientierung auf dem Theresienhof. Sie dient dazu, die Jugendlichen an eine geregelte Arbeitsweise heranzuführen, ob in der Baumschule oder beim Zusägen von Anfeuerholz aus alten Paletten – die Schüler lernen hier, wie wichtig jeder einzelne Arbeitsschritt für das Ergebnis der Arbeit aller ist. Sie üben sich in sozialen Verhaltensweisen, erlernen Pünktlichkeit, die Bedeutung von Hygiene und Zuverlässigkeit – und von Ausdauer, wenn eine Tätigkeit einmal nicht so viel Freude bereitet.
Wenn sie diese Arbeitstugenden verinnerlicht haben, ist es Zeit, „raus“ zu gehen. Phase zwei beginnt. Ist der passende Arbeitgeber gefunden, erfolgt der Einstieg in den Betrieb. Zwei Jahre lang erhalten die Vorgesetzten im Unternehmen und der Jugendliche Unterstützung durch die Sozialarbeiter des Theresienhofs. In dieser Zeit zahlt der Arbeitgeber 767 Euro monatlich an Perspektiva, davon erhält der Jugendliche 320 Euro. Perspektiva begleicht die Sozialversicherung, mit den restlichen rund 300 Euro werden allgemeine Kosten, zum Beispiel die Lohnkosten der Mitarbeiter, die Betriebe und Auszubildenden begleiten, getragen. Daneben erhält Perspektiva Zuschüsse, vor allem von der Agentur für Arbeit. Phase zwei ist entscheidend. „Holger war gleich ein Volltreffer, das hat von Anfang an gut gepasst. Aber bevor Waleri zu uns kam, hatten wir zwei, drei andere Bewerber hier, da hat es leider nicht funktioniert“, sagt Groma-Marktleiterin Simone Volkmer. Schichtleiter Beck ergänzt: „Manche machen sich doch falsche Vorstellungen von der Arbeit, die sie dann hier tatsächlich erwartet.“ Beck ist ganz dicht an den jungen Kollegen dran, ist mit seiner freundlichen und geduldigen Art Vertrauensmann. „So einen Vorgesetzten brauchen die Perspektiva- Mitarbeiter, das ist ganz wichtig“, betont Volkmer. Waleri Liebert bestätigt: „Wenn alle freundlich sind, macht die Arbeit doppelt Spaß!“ In seiner Einarbeitungszeit dauerte es eine Weile, bis die richtige Tätigkeit für ihn gefunden war. Im Lager ist er jetzt zuständig für die Hygiene bei der Anlieferung der Waren und beim Säubern der Transportkisten.

ZUSCHÜSSE VOM INTEGRATIONSAMT

Seit einem Jahr hat er seinen unbefristeten Arbeitsvertrag in der Tasche und befindet sich damit in Phase drei des Perspektiva-Modells. Groma erhält vom Integrationsamt beim LWV einen Lohnkostenzuschuss für die Arbeitszeit, die Volker Beck für die intensive Betreuung von Waleri Liebert aufwendet. Für Holger Jehn, der im vierten Jahr bei Groma ist, ist diese Förderung bereits ausgelaufen. Bei Bedarf kann das Unternehmen die Beratung des Integrationsfachdienstes in Anspruch nehmen, die ebenfalls vom Integrationsamt bezahlt wird. Die Anschaffung eines Elektro-Staplers unterstützte der LWV mit 7.000 Euro. Bei Groma ist man stolz darauf, dass mit der Anerkennung im Job beide Mitarbeiter an Selbstvertrauen gewonnen haben. Waleri Liebert hat seinen Staplerführerschein bestanden und will jetzt den KfZ-Führerschein in Angriff nehmen.

„Auf dem Theresienhof üben die jungen Leute ein, was sie später im Arbeitsalltag brauchen“, unterstreicht Theresia Helfrich, Sozialarbeiterin bei Perspektiva. „Wenn das gut klappt, bekommen sie das nötige Selbstvertrauen, das trägt sehr zur Persönlichkeitsentwicklung bei.“ So lässt sich der Gewinn vielleicht nicht in Heller und Pfennig ausrechnen, aber zum Glück haben viele Unternehmen in Fulda begriffen, wie wichtig diese weichen Faktoren für ein gutes Arbeitsklima im Unternehmen sind.
Katja Gußmann


HINTERGRUND
AUF DER LANDKARTE DER INKLUSIVEN ORTE

  • Aktuell engagieren sich in der Fördergemeinschaft Perspektiva rund 100 Unternehmen, davon 71 als Gesellschafter, überwiegend aus klein- und mittelständigen Betrieben aus unterschiedlichsten Branchen und Dienstleistungen in der Region Fulda.

  • Derzeit werden zehn Jugendliche auf eine Ausbildung vorbereitet, vier absolvieren eine Vollausbildung, vier eine Ausbildung im Helferbereich. Insgesamt sind durch Perspektiva rund 100 Arbeitsplätze in der Region entstanden.

  • 75 Jugendliche haben ein unbefristetes sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis erreicht.

  • Davon haben 26 Jugendliche eine ausgewiesene Schwerbehinderung.

  • Davon kommen 12 Jugendliche aus einer Werkstatt für behinderte Menschen.

  • In den letzten Jahren hat Perspektiva fast 50 Prozent seiner Ausgaben aus eigener Kraft erwirtschaftet, unterstützt wird es zu mehr als 40 Prozent von der Agentur für Arbeit.

  • Mit seinem außergewöhnlichen Engagement hat es Perspektiva auf die Landkarte der „Inklusiven Orte“ geschafft: Dort verzeichnet der Bundesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung vorbildliche Initiativen.

gus

www.perspektiva-fulda.de