Mit der Wiedereröffnung vieler Dorfläden in ganz Hessen haben Integrationsunternehmen Arbeitsplätze für schwerbehinderte Männer und Frauen geschaffen – und diese Arbeit zugleich ins Zentrum des dörflichen und städtischen Lebens gerückt. Nun hat ein Integrationsunternehmen mit einem Kino die Herzen der Rheingauer erobert: Das Linden-Theater Geisenheim punktet mit digitaler Technik und gutem Programm.
GEISENHEIM. Ein strahlend schöner Tag in Geisenheim, der Tank ist fast leer. Eine gute Gelegenheit, an der Tankstelle nach dem Linden-Theater zu fragen, dem letzten verbliebenen Kino zwischen Wiesbaden und Nastätten. Ein breites Lächeln auf dem Gesicht des Tankwarts: „Oh je, da war ich seit Jahrzehnten nicht mehr. Aber ich habe gehört, die haben modernisiert und dort arbeiten Nicht-Behinderte und Behinderte zusammen. Ein guter Grund, doch mal wieder hinzugehen.“ Es hat sich herumgesprochen, dass sich im Linden-Theater etwas tut, das bundesweit einmalig ist: Die gemeinnützige GmbH Sankt Vincenzstift betreibt das Kino als Integrationsunternehmen. Und: Mit mehr als 28.000 Zuschauern im Jahr 2011 hat die Einrichtung das Ziel für das erste Betriebsjahr deutlich übertroffen.
Vor dem Eingang des Linden-Theaters Geisenheim sitzt ein junger Mann mit dunklen Haaren und Brille entspannt bei Musik aus seinem MP3-Player und genießt die Sonne, bevor die Arbeit beginnt. Alexander Marschner fährt Projektoren hoch, stellt Filme ein, verkauft Eintrittskarten und Popcorn, weist Plätze an und macht noch so manch anderes hier. „Mädchen für alles eben“, grinst er.
Der 26-Jährige, der wegen einer Epilepsie eine leichte Lernbehinderung hat, ist von Beginn an dabei. „Heute kann ich mir das Leben ohne Kino gar nicht mehr vorstellen“, sagt er. Weil der lächelnde, etwas schüchtern wirkende Mann so viele Dinge beherrscht, ist er an diesem Nachmittag der einzige Beschäftigte mit Behinderung im Team. Seine Kollegin Karla Grämer war vormittags hier, hat Lieferungen entgegengenommen und das Kino gereinigt. „Zu dieser Zeit werden Getränke, Knabbereien, Eis, Werbematerial und Filme angeliefert“, erklärt Werner Thorn, Geschäftsführer des Linden-Theaters und Leiter der Werkstatt für Menschen mit Behinderung vom Sankt Vincenzstift.
Während der Vorführungen sind bis zu drei Beschäftigte im Einsatz. Kinoleiter Matthias Göller und seine Stellvertreterin Susanne Seel erstellen die Dienstpläne nach Rücksprache mit dem Team meist in ihrem kleinen Büro im ersten Stock. „Wir wissen, was unsere Kollegen können, und setzen sie entsprechend ihrer Fähigkeiten ein“, sagt die Rheingauerin. Marc Hofmann zum Beispiel ist schwer körperbehindert. Er arbeitet meist an der Kasse und kennt sich ausgezeichnet mit Computern aus. „Mit technischen Dingen, die sich im Sitzen erledigen lassen, kommt er alleine klar. Aber wegen seiner Krücken kann er den Kunden nicht die Tür aufhalten, Eintrittskarten vor dem Saaleingang abreißen oder Popcorn verkaufen“, schildert Susanne Seel. Der Dienstplan sieht deshalb entsprechende Unterstützung durch andere Beschäftigte vor. „Natürlich ist auch immer einer von uns beiden da, um darauf zu achten, dass alles rund läuft“, unterstreicht Kinoleiter Matthias Göller.
Alexander Marschner schleicht sich in den Kleinen Saal des Kinos und sieht nach dem Rechten. Dort schauen 22 Kinder und drei Frauen gebannt zu, wie ein gezeichneter Hai in einer futuristischen Maschine Jagd auf Hühner macht. Aufgeregt stopfen sich einige der Neun- und Zehnjährigen Popcorn in den Mund, während andere hörbar an den Strohhalmen ihrer leeren Limo-Flaschen saugen. Der 26-Jährige verlässt leise lächelnd wieder den Saal. Alles läuft prima, das Wiedergabeformat stimmt, die Lautstärke passt. An der Kasse sitzend prüft Marius Walter (Foto) per Computer die Playlist für das nachfolgende Programm. Anhand dieser Liste kann er kontrollieren, ob das richtige Format eingestellt ist und welche Werbung und Kino-Vorschauen vor dem Hauptfilm laufen. Der Student der Internationalen Weinwirtschaft verdient sich nebenbei etwas dazu: „Ich habe mich bewusst hier beworben, weil ich das Projekt toll finde. Natürlich könnte ich im Service eines Weingutes mehr verdienen, aber ich fühle mich hier wohl.“ Während er das Geld für eine kleine Portion Popcorn kassiert, hantiert sein Kollege an der Maschine, schaufelt die verführerisch duftende Nascherei in die Tüte und reicht sie David Eichholz. Der 15-Jährige will sich mit Freunden eine Komödie anschauen. „Ich bin schon das vierte Mal in diesem Jahr hier“, sagt der Schüler. Für die Jungs, die ein paar Orte weiter wohnen, ist das Linden-Theater ein Glücksfall. „Hierher können wir mit dem Bus fahren“, sagt Colin Frambach. „Das Kino ist technisch auf dem neuesten Stand, hier laufen auch 3D-Filme. Außerdem gefällt mir, dass hier Behinderte arbeiten“, ergänzt David Eichholz.
Nach Ende des Zeichentrickfilms verlässt die kleine Geburtstagsgruppe plappernd und lachend das Kino. Das Geburtstagskind bekommt als Andenken ein Filmplakat mit nach Hause. Die Mütter bedanken sich für den unterhaltsamen Nachmittag. Der Kinoleiter freut sich über das Lob. „Eine Sondervorstellung für einen Kindergeburtstag ist eben nur in einem kleinen, familiären Kino möglich“, sagt der ehemalige Druckerei-Abteilungsleiter. Auch für ihn ist das Kino-Geschäft Neuland: „Ich finde es spannend, eine schöne Herausforderung, nichts ist planbar, man muss immer wieder improvisieren.“ Susanne Seel kontrolliert den Getränkevorrat im Lagerraum. Alexander Marschner poliert die Glasfronten der Theke und klärt nebenbei mit Marius Walter, wer an diesem Tag bis nach der letzten Vorstellung bleibt. Werner Thorn informiert eine Kundin, wann der von ihr gewünschte Film startet und empfiehlt ihr die Vorführung im Original mit Untertiteln. Kaum hat sich die Frau verabschiedet, ertönt von der Tür ein fröhliches „Hallo Herr Thorn!“ – und sofort umringt das Kino-Team den Besucher. „Mensch Wolle, wie geht’s dir“, strahlt Susanne Seel. Der ehemalige Praktikant Wolfgang Basler strahlt zurück, schüttelt Hände und will wissen, wann der große Umbau beginnt. Denn das Kino-Team hat noch viel vor: Foyer, Kinosäle und sanitäre Anlagen brauchen eine Generalüberholung. „Nur so können wir die Kunden an uns binden“, unterstreicht Werner Thorn. Er weiß, dass dies noch ein hartes Stück Arbeit ist. „Aber das ist es wert, und vielleicht macht unser Vorbild ja Schule.“
Stella Dammbach
Im Januar 2011 startete das Sankt Vincenzstift Aulhausen (heute Sankt Vincenzstift gGmbH) ein bundesweit einzigartiges Projekt: Die Rheingau-Werkstätten Rüdesheim gestalteten das Geisenheimer Kino zu einem integrativen Betrieb um, in dem sechs Menschen mit und vier Menschen ohne Behinderung gemeinsam arbeiten. „Der Kinopächter wollte sich zur Ruhe setzen und fand keinen Nachfolger“, erzählt Werner Thorn, Geschäftsführer des Kinos und Leiter der Rheingau-Werkstätten. „Weil wir immer Arbeitsplätze für unsere Klienten außerhalb der Werkstatt suchen, haben wir überlegt, wie wir das realisieren können“, ergänzt der 57-Jährige. Finanziell unterstützt wird das Projekt vom LWV Hessen (Integrationsamt), der Stadt Geisenheim, dem Bund, dem Land Hessen, der Film-Förderanstalt sowie der Aktion Mensch. Insgesamt kosten Modernisierung und Sanierung rund 500.000 Euro. Seit Juli 2011 ist das Kino, das in zwei Sälen 231 Besuchern Platz bietet, mit digitaler Projektionstechnik auf dem neuesten Stand. In diesem Sommer werden Foyer, Inneneinrichtung und sanitäre Anlagen saniert. Danach wird es vollständig barrierefrei sein.
Das Linden-Theater veranstaltet zusätzlich zum normalen Programm Filmvorführungen auf Rheingauer Weingütern, spezielle Kinotage für Zuschauer mit und ohne Behinderung, ermöglicht Sondervorführungen für Kindergeburtstage oder Betriebsfeste und kooperiert mit der Fachhochschule. Filme in Originalsprache sind fester Bestandteil. Unterstützt und beraten wird das Linden-Theater-Team von Ralf Holl, dem Kinobetreiber aus Nastätten. „Ohne ihn wäre das hier nicht möglich. Er hat uns beigebracht, wie man Kino macht“, sagt Werner Thorn.
dam
Weitere Informationen unter www.linden-theater.de