Christoph Rill braucht besonders viel Unterstützung. Trotzdm kann er in einer eigenen Wohnung leben.
KASSEL. Er sei „in Kassel hängen geblieben“ sagt Christof Rill von sich. Eine gängige augenzwinkernde Formulierung, benutzt von jenen, die zugezogen und geblieben sind, obwohl sie das nicht für sich geplant hatten.
Christof Rill ist ausgebildeter Gärtner und Diplom-Sozialpädagoge. Eigentlich stammt er aus Südhessen, fährt auch immer noch dorthin zu Familienbesuchen, mit Hilfe von Assistenten und Assistentinnen. Rill benutzt einen elektrischen Rollstuhl, er hat eine fortschreitende Erkrankung des zentralen Nervensystems und es fällt ihm schwer, seine Worte zu artikulieren. Zu unserem Treffen in Rills Wohnung ist auch Andreas Glawe gekommen, sein Unterstützer vom Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter (fab e.V.). Glawe arbeitet schon seit Jahren mit Rill zusammen und sein Ohr ist geschult. Er hört ganze Sätze, wo andere nur einzelne Worte verstehen, und ihm entgeht auch nicht, auf welche Weise Rill die Dinge formuliert.
Schon vor der Ausbildung wurde die Erkrankung bemerkt, 1975, noch während der Schulzeit. „Da wusste ich noch nicht genau, was auf mich zukommt.“ Er wusste nur, dass er wohl irgendwann einen Rollstuhl nutzen würde, um sich fortzubewegen. Genaueres habe er zunächst nicht wissen wollen, sagt Rill. Er wollte „immer nur einfach selbstbestimmt leben, wie andere auch“.
Zunächst ging er nach Frankfurt, dann nach Hessisch Lichtenau, um dort vom Rehabilitationszentrum aus an der Freiherrvom- Stein-Schule das Abitur zu machen. Sein Ziel: Er wollte studieren. Aber Hessisch Lichtenau, sagt Rill mit einem Lachen, sei wie „außerhalb der Welt" gewesen, er habe sich gefühlt „wie im Ghetto“. Andreas Glawe dolmetscht.
In Kassel zu wohnen, habe er sich nicht leisten können, fährt Rill fort. Die Mieten seien damals zu hoch gewesen. So pendelte er zwischen seinem Wohnort und der Elisabeth-Knipping- Schule in Kassel. Schließlich hatte er das Fachabitur Sozialwesen in der Tasche und begann sein Studium.
Die Symptome der Erkrankung verstärkten sich, 1984 war die Entscheidung nach einem Sturz nicht mehr aufzuschieben. Er hatte sich dabei eine Hand gebrochen und jetzt war für ihn klar, dass er einen Rollstuhl haben musste. Der war noch mit eigener Muskelkraft angetrieben, ein einfacher Faltrollstuhl. Das Zimmer mit 16 Quadratmetern im Studentenwohnheim wurde zu klein. Mehr und mehr Unterstützung wurde nötig, zunächst einmal pro Woche, dann immer mehr, zehn Stunden pro Woche, dann vier am Tag, irgendwann waren es zehn Stunden Assistenzleistung pro Tag.
Inzwischen sind zehn Assistentinnen und Assistenten im 24- Stunden-Dienst bei Christof Rill beschäftigt.
Wie er neue persönliche Assistenten finde, frage ich. Das geschehe entweder über die örtliche Tageszeitung, oder … Christof Rill lässt sich einen Aktenordner aus dem Regal reichen und ich bekomme ein Flugblatt in die Hand. In fetten Buchstaben steht dort: „Knete bei kompakter Arbeitszeit“ und darunter die Kriterien, die interessierte Arbeitssuchende mitbringen sollten. Bei Bedarf hängt es jemand für ihn an der Universität aus. Nach einem beiderseits positiven Vorstellungs - gespräch von ein bis zwei Stunden und einer mehrstündigen Hospitanz stellt Rill selbst den neuen Assistenten oder die neue Assistentin ein und koordiniert alle Tagesdienste als Arbeitgeber. Urlaubsgeld wird anteilig ausgezahlt.
Draußen beginnt es stark zu regnen, das Prasseln macht die Unterhaltung noch schwieriger. Rill wirkt sehr konzentriert, aber gelassen. Er möchte, dass wir ihn gleich unterbrechen, wenn wir ihn nicht verstehen, damit er nicht so viel wiederholen muss, denn das Sprechen ist mühsam. Er bleibt geduldig. Die Assistentin kommt und schließt die Tür zum Garten.
Friedreichsche Ataxie sei eine seltene Krankheit, erklärt Christof Rill, er habe immer versucht, im Internet neue Erkenntnisse darüber zu gewinnen. Seine Kritik an der Selbsthilfegruppe Deutsche Heredo-Ataxie Gesellschaft (DHAG): Dort ginge es eher um die Fragestellung „Wie schaffe ich meine Behinderung ab?“ anstatt um die Frage „Wie kann ich damit gut leben?“. Im Mittelpunkt stehe dort die Genforschung und die Vermeidung dieser erblichen Krankheit, weniger die tatsächliche Hilfe für Erkrankte.
Heute, sagt Rill, sei er soweit zufrieden mit dem Leben. Die Gesellschaft sei es, die ein Problem mit Behinderungen habe. Er möchte vermitteln, dass das Leben auch mit Behinderung lebenswert sei.
Die Assistentin kommt, löst ein Stützelement von den schmerzenden Beinen.
Seit drei Jahren verfügt er über ein Persönliches Budget, er kann seine Assistentinnen und Assistenten so einsetzen, wie er es sich selber vorstellt, kann selbstbestimmt leben. Im Gegensatz zum Leben in einem Heim. Er möchte nicht einfach nur gepflegt werden, sagt er.
Andreas Glawe unterstützt Christof Rill als Mitarbeiter im Betreuten Wohnen etwa zwei Stunden pro Woche bei Fragen, die die Planung und Organisation seiner Situation betreffen. Die Höhe des Trägerübergreifenden Persönlichen Budgets, das Rill vom LWV erhält, wurde seinen Bedürfnissen entsprechend ausgehandelt, bis es 2008 in dieser Form festgesetzt wurde.
Ob es nicht naheliegend in der Situation wäre, wieder nach Südhessen zu ziehen, da er doch dort Familie hat? Rill antwortet, für ihn sei es immer wichtig gewesen, sein Leben autonom zu führen und selbstbestimmt leben zu können. Trotz der Einschränkungen komme er mit seinen technischen Hilfsmitteln gut klar, sagt er. An der linken Armlehne des Rollstuhls ist ein zusätzliches Steuerungselement angebracht worden.
Nachdem er im Sommer 2010 eine Entzündung am Halswirbel bewältigen musste, kann er Arme und Hände nur noch wenig benutzen, kann aber mit der zusätzlichen Bedienung den rechten Arm entlasten. Was neue Hilfsmittel betrifft, sei er immer interessiert, sagt Christof Rill. Er lässt sein neuestes Gerät holen, einen augengesteuerten PC.
Er sei noch dabei zu lernen, sagt er. Für den nächsten Tag hat er geplant, mit einem Assistenten in die Nähe von Offenbach zu fahren, um an einem Workshop teilzunehmen.
Ob es schwierig sei, Kontakte zu pflegen, frage ich. Rill antwortet stumm, mit einem sehr langen Blick.
„Mein Leben ist mein Hobby“, sagt er lakonisch und gleichzeitig freundlich.
Er lässt einen anderen Aktenordner aus dem Regal nehmen. Darin befindet sich ein Foto von ihm mit einer Rose, die er noch selber gepflanzt hat Mitte der neunziger Jahre, kurz nach seinem Einzug hier. Das Haar war damals noch dunkler. Er ist im letzten Sommer 50 Jahre alt geworden.
Die große Glastür führt ebenerdig in einen kleinen Garten. Es gibt eine Fläche, auf der im Sommer Blumen wachsen: Lilien, Glockenblumen und andere Pflanzen, mit Hilfe seiner Assistentinnen und Assistenten gesetzt, nach seinen Vorstellungen. Ob diese Rose auf dem Foto einen symbolischen Charakter für ihn hat, weil er sich immer wieder gern damit fotografieren lassen möchte? Er lacht, etwas erstaunt: Nein, nein, es sei einfach eine schöne Pflanze.
Petra Bühler
426 Menschen erhalten vom LWV bisher ein Persönliches Budget.
Herr Rill ist zu hundert Prozent erwerbsgemindert, benötigt eine 24-Stunden-Assistenz. Zusätzlich unterstützt ihn fab e.V. mit bis zu zehn Stunden im Monat im Rahmen des Betreuten Wohnens.
Seine Assistenz und deren Arbeitsabläufe organisiert Christof Rill selbst und er ist auch der direkte Arbeitgeber mit allen Verpflichtungen gegenüber Finanzamt und Versicherungen. Besprechung mit dem Team und Planung der Dienste stehen einmal für den laufenden und den jeweils nächsten Monat auf dem Kalender. Für die Büroplanung rechnet Rill täglich etwa eine Viertel Stunde, über den ganzen Monat sind es insgesamt 7 bis 8 Stunden. Für die Assistentinnen und Assistenten steht im selben Haus eine weitere Wohnung zur Verfügung. Für Aufenthalte bei der Familie nimmt Christof Rill Unterstützung von Assistentinnen und Assistenten vor Ort in Anspruch.
pb
Weitere Informationen unter www.lwv-hessen.de, in dem Faltblatt Das Persönliche Budget und einer Broschüre in Leichter Sprache „Jetzt entscheide ich selbst“, beides erhältlich unter info@lwv-hessen.de