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Eine große Freude

Eine große Freude

Erziehungsstellen gibt es seit 40 Jahren. Einst vom LWV als innovatives Modell entwickelt, wird es nun von Vitos Kalmenhof weitergeführt. Wir stellen eine Familie im Schwalm-Eder-Kreis vor.

SCHWALM-EDER-KREIS. Wenn Fritz nach der Schule nach Hause kommt, stürmt er mit Schwung die Treppe hinauf. „Hallo, Mama!“, strahlt der Neunjährige und lehnt sich kurz an seine Pflegemutter. Am liebsten würde er gleich Hausaufgaben machen. Dann, so die Abmachung mit seinen Pflegeeltern, könnte er nämlich ein wenig am Computer spielen. Elisabeth Frisch* stellt aber erst einen Kartoffelsalat mit Äpfeln und Eiern auf den Tisch. Regelmäßige Mahlzeiten sind wichtig für Fritz.

Der Neunjährige hat eine schwierige Vorgeschichte. Er selbst kann sich kaum noch an seine ersten drei Lebensjahre erinnern, die er bei Mutter und Geschwistern in Südhessen verbrachte. Als die zuständige Sozialarbeiterin ihn mit Hilfe der Polizei aus der Familie herausholte, fand sie ihn deutlich unterernährt und vernachlässigt in einer dunklen, kalten Kammer. Erst nach mehreren Wochen im Krankenhaus konnte er von einer Bereitschaftspflegefamilie aufgenommen werden. Seine überforderte Mutter hatte ihn häufig über Stunden mit seinem kleinen Bruder allein gelassen. Nach draußen war er offenbar nur sehr selten gekommen. Selbst Essen gab es oft nicht.

Als er in das alte Fachwerkhaus von Elisabeth und Peter Frisch in Nordhessen kam, konnte er weder Schmerzen, Kälte noch Hunger fühlen. Er konnte nur wenig sprechen und verstehen. „Eine klare Traumatisierung“, sagt Ute Neumann, Fachberaterin für Erziehungsstellen von Vitos Kalmenhof. Deswegen wurde er auch nicht in einer normalen Pflegefamilie, sondern in einer Erziehungsstelle untergebracht. Wichtigster Unterschied: Einer der Erziehenden muss über pädagogisches Know-how verfügen.

Elisabeth Frisch ist Sozialpädagogin, ihr Ehemann Informatiker. Beide haben für den Deutschen Entwicklungsdienst in Kambodscha gearbeitet. „Das war eine tiefgreifende Erfahrung vom Teilen mit anderen Menschen“, sagt das kinderlose Paar. Als sie 2007 nach Deutschland zurückkamen, wollten auch sie ihr Leben mit einem aufgenommenen Kind teilen.

Im März 2008 kam der damals vierjährige Fritz zu ihnen. Monatelang trugen die Frischs den Jungen auf dem Rücken, der ganz viel Nähe und Sicherheit brauchte. Allein lassen – und sei es auch nur für eine Viertelstunde – konnten sie Fritz in dieser Anfangsphase nicht. Einschlafen konnte der Junge nur, wenn sie bei ihm im Zimmer blieben. „Er hatte Angst, dass wir die Wohnung verlassen und ihn zurücklassen“, sagt Elisabeth Frisch. Dass zum Einschlafen inzwischen auch oft offene Türen reichen und dass sie tagsüber in die Waschküche oder in den Garten gehen kann, ist ein großer Entwicklungsschritt.

Gerade hat er seine Autokiste auf dem Teppich seines Kinderzimmers ausgeschüttet. Busse, Monstertrucks, Feuerwehrautos, Kräne und Rennautos purzeln bunt durcheinander. Kater Mikesch schaut interessiert zu, während Fritz die Autos aufbaut. Der kleine Tiger ist für Fritz eine verwandte Seele. Auch er war halb verhungert, als er von den Frischs aufgenommen wurde. Von Fritz lässt er sich fast alles gefallen.

Ein Nachbarsjunge klingelt an der Tür. Er möchte den Neunjährigen zum Spielen abholen. Fritz ist schon seit der Kindergartenzeit gut im Dorf integriert, geht mit Schulkameraden zum Bus und hat mehrere Freundschaften geschlossen. Obwohl er ausgerechnet am 24. Dezember Geburtstag hat, kommen die Freunde zum alljährlichen Geburtstagsbrunch.

Fachberaterin Ute Neumann würde sich freuen, wenn sie noch mehr Erziehungsstellen dieser Art finden würde: „Entgegen vieler Vorurteile geht es in erstaunlich vielen Fällen gut“, sagt die Expertin. Allerdings gibt es auch viele auffällige Kinder unter ihren Schützlingen. Manche prügeln sich, andere stehlen oder bunkern Essen im Bett. Viele können kaum still sitzen.

Auch Fritz ist ein lebhaftes, unruhiges Kind. Doch der Neunjährige hat aus der Unruhe eine Tugend gemacht. Er ist der schnellste Läufer seiner Klasse, ist im Leichtathletikverein und beteiligt sich an Mini-Marathons. Manchmal joggt Peter Frisch mit ihm zusammen. „Erziehungsstelle zu sein, ist eine Belastung. Aber es ist auch eine große Freude“, sagt er.

Problematisch findet Elisabeth Frisch Begegnungen wie die mit dem Psychologen, der sagte, dass es schwierig werden könne mit der Regelbeschulung. Sie selbst ist überzeugt, dass Fritz vor allem Zeit zum Nachreifen braucht. Er blieb ein Jahr länger im Kindergarten und wurde dann in die Grundschule des Nachbarortes eingeschult. Das klappt gut. Nur Schönschreiben liegt ihm nicht. „Fritz ist ein aufgeschlossener, musischer, kontaktfreudiger Junge“, sagt Elisabeth Frisch.

Auf eigenen Wunsch lernt er Klavierspielen. „Wir schauen lieber auf seine Stärken“, sagen die Frischs. An der Wand seines Kinderzimmers hängen auch Fotos von seinen leiblichen Eltern und Geschwistern. Den ebenfalls in einer Pflegefamilie lebenden jüngeren Bruder Marcel sieht er regelmäßig. Der leibliche Vater war gelegentlich da. Der Kontakt zu seiner Mutter und der bei ihr lebenden Schwester ist unterbrochen. Warum die Kindsmutter nicht mehr zu Besuch kommt, ist unklar. Aber sie befürwortet sein Leben in der Erziehungsstelle.

Das sei nicht selbstverständlich, berichtet Neumann. Manchmal machten die leiblichen Eltern ihren Kindern falsche Hoffnungen auf eine Rückkehr in die Familie. Manchmal seien die Kontakte so schwierig, dass sie dabei sein müsse. Doch für die Identität der Kinder ist die Bindung an die Herkunftsfamilie wichtig. Deshalb gehört das Leben „mit zwei Familien“ zum Konzept.

Auch für Fritz ist seine Herkunft immer wieder Thema. Manche im Dorf wissen, dass die Frischs nicht seine leiblichen Eltern sind. Da gab es schon blöde Sprüche von anderen Kindern. Doch das kann er inzwischen besser an sich abprallen lassen. Und wenn er heute Angst hat, weil seine Pflegeeltern kurz unterwegs sind, setzt er sich in die Küche, stellt das Radio an und isst Cornflakes. Dazu holt er sich Kater Mikesch. Der ist ein guter Gesellschafter.

Gesa Coordes

*Namen im Text geändert


HINTERGRUND
40 JAHRE ERZIEHUNGSSTELLEN IN HESSEN

Mit den Erziehungsstellen war der Landeswohlfahrtsverband in Hessen Vorreiter: Vor 40 Jahren führte er das pädagogische Konzept ein, das die Leistungen einer professionellen Heimerziehung mit den Vorteilen einer Unterbringung in Familien verknüpft. Das vom LWV ins Leben gerufene Angebot wurde nach 20 Jahren in einer empirischen Studie wissenschaftlich untersucht. Die positiven Forschungsergebnisse führten dazu, dass das Angebot im Kinder- und Jugendhilfegesetz aufgenommen wurde.

Heute betreut der Fachbereich unter dem Dach von Vitos Kalmenhof rund 300 Kinder und Jugendliche in Erziehungsstellen in ganz Hessen. In der Regel haben sie gravierende Entwicklungsdefizite, Gewalt-, Vernachlässigungs- oder Missbrauchserfahrungen und sind oft traumatisiert.

Die Erziehungsstelle ist eine professionelle Pflegefamilie – es kann auch ein Paar sein. Ein Mitglied hat pädagogisches Knowhow, ist zum Beispiel Erzieher, Pädagoge oder Psychologe oder verfügt über langjährige praktische Erfahrung mit Pflegekindern. Die Interessenten werden einem sorgfältigen Auswahlverfahren unterzogen. Sie erhalten Unterhaltsleistungen und eine Aufwandsentschädigung und werden von Fachberatern von Vitos unterstützt. Dazu gibt es Fortbildungen und Supervision.

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