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Leben wie alle

Leben wie alle

Die Nieder-Ramstädter Diakonie geht in die Region: Bis 2020 sollen 400 Wohnplätze vom Kerngelände auf ganz Südhessen verteilt sein. Andere Träger in Hessen ziehen nach. Wenn Wohngruppen Komplexeinrichtungen ablösen, profitieren auch Menschen mit mehrfachen Behinderungen. Sascha D. lebt bereits seit einem Jahr im Neubaugebiet an der Hundertwasserallee in Ober-Ramstadt.


Leben wie alle

OBER-RAMSTADT. Sascha D. hat nur ein Ziel. Kaum hat Auszubildende Ann-Christin Praast ihm beim Tausch der Straßen- gegen die Hausschuhe geholfen, da zeigt er zum Fenster. Sie bietet ihm den Arm, er legt seine Hand darauf und gemeinsam gehen sie zur großen Glastür neben der Küchenanrichte. Praast zieht einen Stuhl heran und Sascha nimmt Platz. Immer wieder zeigt er aufgeregt zum Nachbarhaus. Kein Wunder, das Fertighaus war heute morgen noch nicht da. Gerade fügen Dachdecker mit Hilfe eines Krans ein letztes Bauteil in den Dachstuhl ein. Spannende Ausblicke.

Seit Sascha D. und die anderen 15 Bewohner in die beiden Häuser an der Hundertwasserallee in Ober-Ramstadt eingezogen sind, ist immer was los. Sie leben mitten in einem Neubaugebiet.

Damit hat sich einiges in ihrem Leben verändert. Vor gut einem Jahr wohnten die meisten von ihnen noch im „Bo- Haus“: Das ist die Abkürzung für das Bodelschwinghhaus auf dem Kerngelände der Nieder-Ramstädter Diakonie (NRD) in Mühltal. „Dort lebten wir oben unter dem Dach“, sagt Teamleiter Amin Ali. „Das waren gemütliche Räume, aber die schwerstbehinderten Bewohner teilten sich meist ein Zimmer.“ Mit der neuen Umgebung veränderten sich auch die Bewohner. „Sie sind viel ruhiger geworden“, sagt Ali.

Bei manchen konnten die beruhigenden Medikamente abgesetzt werden. Bei anderen, die früher – mit Erlaubnis des Gerichts – eingeschlossen werden mussten, weil sie sich sonst in Gefahr brachten und die anderen am Schlafen hinderten, bleibt die Tür nun nachts unverriegelt. Woran liegt das? „Es gibt für jeden gute Rückzugsmöglichkeiten“, stellt Ali fest. Nur zwei Bewohner werden jetzt noch nachts eingeschlossen. In den neuen Häusern haben sie sich nach kurzer Zeit problemlos zurechtgefunden. „Christoph S. hat trotz seiner Sehbehinderung innerhalb von zwei Wochen gelernt, den Aufzug zu bedienen“, ergänzt Ali. „Als wir einige Monate nach dem Umzug noch mal im Bo-Haus waren, wollten die Bewohner gar nicht mehr in ihre früheren Zimmer. Sie haben damit abgeschlossen.“

Beim Gang durch die neuen Passivhäuser in Ober-Ramstadt wird der Unterschied zu dem alten Mansardengeschoss schnell klar. Jede Bewohnerin und jeder Bewohner hat ein eigenes, von Licht durchflutetes Zimmer. Jeweils eine Wand ist abgetönt, die Farbe haben sich die Bewohner selbst ausgesucht. Das Bett von Sascha D. steht vor einer blauen Wand. Barbara L. und Martina S. haben sich für einen Fliederton entschieden. Und alles andere – Kissen, Bettüberwürfe, Vorhänge - ist darauf abgestimmt. Immer zwei Bewohner teilen sich ein barrierefreies Bad. Die verschieden gemusterten Duschvorhänge entsprechen ebenfalls den Vorlieben: Bernd A. und Andreas N. zum Beispiel lieben den Wald. Duschvorhang und Gardinen in ihren Zimmern schmücken verschiedene Blattornamente. Barbara L. und Martina S. nutzen das Rosenbad. Außerdem gibt es ein Pflegebad.

Das Wichtigste aber: Die Zimmer haben große Fenster, selbst im Treppenhaus geben diese den Blick frei auf die Umgebung. Auf Sportplatz, Baustellen, Schotterstraße oder den Waldstreifen am Horizont. Ganz anders als die Gauben im alten Bodelschwinghhaus. An der Hundertwasserallee hat man den Eindruck, ständig in Kontakt zur Außenwelt und dennoch geborgen zu sein.

Bis zum Jahr 2020 sollen im Zuge der Regionalisierung 400 Wohnplätze vom Kerngelände auf Orte in ganz Südhessen verteilt sein. In der Falcon-Straße in Ober-Ramstadt entstehen gerade zwei weitere Häuser. 16 Männer und Frauen leben an der Hundertwasserallee. Tagsüber gehen sie in die Werkstatt oder eine Tagesstätte der NRD. Am Wochenende kochen die Mitarbeiter in den beiden offenen Küchen. Wer kann, hilft mit. Die anderen sehen fern, schauen DVDs, bauen mit großen Spielzeugkränen und vieles mehr. Wenn auf dem benachbarten Sportplatz eine Feuerwehrübung oder ein Fußballspiel ist, dann gehen sie hin. Manchmal besuchen sie eins der beiden Restaurants im Viertel. Und im sonntäglichen Gottesdienst haben sie schon einmal die Geschichte von Zachäus, dem Zöllner nachgespielt. Zur Einweihung der Häuser spielte der Posaunenchor der evangelischen Gemeinde.

„Menschen mit Behinderung wollen leben wie wir“, sagt Hans-Christoph Maurer, Vorstand der Nieder-Ramstädter Diakonie. „Die haben keine anderen Bedürfnisse als Sie und ich.“ Auch wenn die Bewohner an der Hundertwasserallee nur wenig sprechen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellen sich auf sie ein. Auch mit ihren Dienstzeiten: Nachts gibt es eine Nachtwache für beide Häuser. Den Frühdienst beginnen drei Mitarbeiter um sechs Uhr morgens. Die Bewohner brauchen Assistenz beim Duschen und Anziehen. Um halb sieben kommt eine Hauswirtschafterin dazu. Und ab drei am Nachmittag beginnt alltags die nächste Schicht.

Ab kurz nach drei trudeln die Bewohner wieder ein. Daniel H. ist der erste. Er hat einen Außenarbeitsplatz bei dem Farbenhersteller Caparol, dessen Hauptstandort in Ober-Ramstadt ist. Daniel H. geht zu Fuß den Weg zur Firma und zurück. Er gehört zu den Selbstständigsten, bewohnt eines der beiden Ein-Zimmer-Apartments, die sich direkt an das Haupthaus anschließen. Mit eigenem Eingang und kleiner Küche. Im Glasfenster der Haustür prangt eine Eintracht-Fahne. Und während er jetzt mit den anderen in dem offenen Wohn- und Essraum wartet, zeigt er stolz seinen Fan-Schal in die Kamera. Die anderen haben sich an Tischen zusammengefunden. Fragen immer wieder, wann es losgeht. Doch Mitbewohner Hans H. fehlt noch. Erst wenn alle da sind, gibt es Kaffee.

Ulrich Eisenhut verteilt Schokoladestückchen, um alle über die Wartezeit hinwegzutrösten. Sascha D. hat er damit sogar von der großen Glastür weggelockt. Seinen Helm, den der 33-Jährige trägt, damit er geschützt ist, wenn er wegen eines epileptischen Anfalls oder seiner Gehbehinderung fällt, hat er nun am Esstisch abgelegt. Er ist zuhause. In der Hundertwasserallee.

Elke Bockhorst 


TEILHABE FÜR MENSCHEN MIT KOMPLEXER BEHINDERUNG

Interview mit Hans-Christoph Maurer, Vorstand der Nieder-Ramstädter Diakonie

Sie haben begonnen, Wohnmöglichkeiten vom jetzigen Kerngelände der Nieder- Ramstädter Diakonie in die Region zu verlagern. Darunter auch Angebote für Menschen mit schweren Behinderungen. Was gab den Anstoß?
Seit Ende der neunziger Jahre haben wir festgestellt, dass das, was wir anbieten, von den Menschen mit Behinderung immer weniger angenommen wurde. „Ist ja schön hier“, haben manche zu uns gesagt. „Aber habt Ihr nicht was in Darmstadt oder Groß-Gerau oder etwas Kleineres?“ Eine Bewohnerin hat es vor Jahren auf den Punkt gebracht. Sie fragte: „Warum muss ich hier wohnen? Nur, weil ich behindert bin?“ Und da mussten wir feststellen, dass Menschen mit Behinderung andere Vorstellungen von ihrem Leben haben, als in einer großen Heimeinrichtung zu wohnen.

Was passierte dann?
Wir haben den Beschluss gefasst, alle unseren großen Heimeinrichtungen zu schließen und an deren Stelle kleinteilige Wohnangebote in sogenannten „normalgesellschaftlichen Wohnquartieren“ zu schaffen. Wir haben uns auf den Weg gemacht und sind nun schon ein gutes Stück vorangekommen.

Hatten sie irgendwann Zweifel an diesem Weg?
Keine grundsätzlichen. Aber wir sind insbesondere zu Beginn auf große Widerstände gestoßen. Angehörige zum Beispiel waren besorgt, wie wir außerhalb des „Mutterhauses“ die neurologische Versorgung der Bewohner mit Epilepsie sicherstellen. Das nehmen wir sehr ernst. Wir kooperieren mit niedergelassenen Ärzten, und unser Fachdienst Pflege schult Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den regionalen Wohnprojekten.

Wie bekommen Sie heraus, was die Bewohner wollen? Gerade bei jenen, die sich sprachlich nicht mitteilen können?
So schwer ist das nicht. Menschen mit Behinderung wollen so normal wie möglich leben. Dem wollen wir Rechnung tragen. Vor 15 Jahren lebten noch 596 Menschen auf dem Kerngelände, heute sind es weniger als 300 Bewohner. Und in einigen Jahren werden vielleicht noch 30 oder 40 Wohnplätze bleiben. Dies hier wird dann ein ganz normaler Stadtteil von Nieder- Ramstadt sein, mit einer Altenpflegeeinrichtung, einer Kita und Wohnhäusern. Wir lösen also die Anstalt auf und richten unseren Fokus darauf, welche Lebensentwürfe die Menschen mit Behinderung selbst haben.

Was passiert mit denen, die bleiben wollen?
Die können bleiben. Wir machen die Menschen nicht heimatlos. Im Gegenteil, viele ziehen gerade im Alter in ihre alten Heimatorte zurück, in denen sie ihre Kindheit verbracht haben, wo sie konfirmiert wurden. Das war für uns die größte Überraschung, dass Menschen, die Jahrzehnte in der Großeinrichtung gelebt haben, wegziehen wollen.

Was bedeutet die Regionalisierung wirtschaftlich?
Ein Aufzug, den wir in einem kleinen Haus bauen müssen, ist natürlich verhältnismäßig teurer. Aber wir sparen auch. Zentrale Großsysteme haben eine hohe Regelungsdichte und eine Spezialisierung, die aufwändig und sehr teuer ist. Solche Großsysteme entwickeln ein Eigenleben, das Wünsche von Klienten tendenziell als Störung der Abläufe ansieht, man spricht auch von „struktureller Gewalt.“

Ein Beispiel: Auf dem Kerngelände in Nieder- Ramstadt müssen wir einen hohen Aufwand für die Müllentsorgung betreiben. In den regionalen Wohnprojekten stellen Bewohner oder Mitarbeiter die Tonnen selbst an die Straße. Wenn Sie so wollen, ist unsere Regionalisierung auch ein Enthospitalisierungsprogramm. Weg von erlernter Hilflosigkeit zu einem Leben so normal wie möglich. Übrigens reden wir dabei von Integration. Inklusion ist eine Vision und längst noch keine Realität.

Das Interview führte Elke Bockhorst 


HINTERGRUND


NEUE WOHNKONZEPTE IN GANZ HESSEN

Seit 2004 pflegen sie ihr Netzwerk: Sieben junge Erwachsene mit Behinderung und ihre Eltern. Sie alle sind aus dem Raum Korbach und gemeinsam hatten sie die Idee, eine Wohngemeinschaft zu gründen. Denn seit der Volljährigkeit steht für die 18- bis 26-Jährigen der Umzug in eigene vier Wände an. In eine stationäre Einrichtung wollen sie nicht. Deshalb sind sie auf die Lebenshilfe Waldeck-Frankenberg zugegangen. Die hat das Vorhaben aufgegriffen, denn die Lebenshilfe Hessen hat sich zum Ziel gesetzt, neue Wohnformen für Menschen mit einer geistigen Behinderung und intensivem Unterstützungsbedarf zu entwickeln.

„Wir müssen Antworten auf die UN-Behindertenrechtskonvention finden“, sagt Geschäftsführer Werner Heimberg. Darüber hinaus hätten sich die stationären Einrichtungen seit dem Wegzug vieler Bewohner ins Betreute Wohnen verändert. „Zurückgeblieben sind die Männer und Frauen mit schweren und mehrfachen Behinderungen“, ergänzt Teilhabemanagerin Martina Giller-Risse. „Da gibt es weniger Möglichkeiten als früher, voneinander zu lernen.“

MITLEBEN
Die neuen Wohnmöglichkeiten sollen in den Zentren der Städte und Gemeinden entstehen. Parallel dazu will die Lebenshilfe Netze von ambulanten Unterstützungsdiensten und offenen Hilfen entwickeln. „Mitleben“ nennt die Lebenshilfe Hessen das Vorhaben. In acht Kreisen will sie erste Projekte verwirklichen. Begleitet wird das Ganze von der Hochschule Rhein-Main. Die Wissenschaftler sollen ermitteln, welche Rahmenbedingungen nötig sind, damit solche Projekte gelingen können. Und sie sollen geeignete Methoden erarbeiten, um die künftigen Bewohner, auch jene, die sich sprachlich nicht ausdrücken können, zu beteiligen. Gefördert wird das Projekt von der Aktion Mensch.

DULLES-SIEDLUNG GIESSEN
Die Lebenshilfe Gießen hat auf dem Gelände der Dulles-Siedlung eine Hälfte eines Mehrfamilienhauses gekauft, das einst von US-Soldaten und ihren Familien bewohnt wurde. Es soll nun barrierefrei umgebaut werden und Wohnraum für Menschen mit sowie ohne Behinderung bieten. Bis 2015 läuft das Programm Mitleben. Bis dahin sollen acht regionale Vorhaben so weit gediehen sein, dass die Umsetzung gesichert ist und die gewonnenen Erfahrungen für neue Projekte genutzt werden können.

Für die WG in Korbach gibt es konkrete Pläne. Da sich in Zentrumsnähe kein geeignetes Haus fand, das barrierefrei umgebaut werden könnte, ließen die Initiatoren eins entwerfen. Auch ein passendes Grundstück am Bahnhof haben sie gefunden. Jetzt gilt es, ein tragfähiges Finanzierungsmodell zu entwickeln. Alle Beteiligten arbeiten dabei intensiv zusammen. Für die jungen Erwachsenen ist klar: Es muss gelingen. Leben im Heim – das wollen sie sich einfach nicht vorstellen.

REGIONALISIERUNG NORD
Das Förderprogramm der Aktion Mensch nutzt auch die Baunataler Diakonie Kassel (bdks): Zwei Mitarbeiter wurden eingestellt, die nun die Regionalisierung der Angebote im sogenannten Wohnverbund Nord planen. „Wir suchen derzeit noch geeignete Kommunen, in deren Zentrum Wohneinheiten entstehen könnten“, erläutert Vorstand Ernst Georg Eberhardt.

72 Plätze sollen von einer großen Einrichtung in Hofgeismar und einer kleineren in Burguffeln verlagert werden. Das ist mehr als Hälfte. Am Anfang stand eine Analyse. „Wir haben uns gefragt: Woher kommen unsere Bewohner? Und stellten fest, dass das Einzugsgebiet sehr groß ist.“ Zudem müsste in den nächsten Jahren umgebaut und saniert werden. Aus Sicht des Vorstands ein guter Anlass, nun Veränderungen anzugehen.

Einer von insgesamt fünf Standorten ist schon gefunden: Im ehemaligen Amtsgerichtsgebäude in Wolfhagen sollen spätestens in zwei Jahren 15 Bewohner einziehen. Das Gebäude liegt mitten in der Stadt. Arztpraxen, Geschäfte und Dienstleistungsangebote sind gut zu erreichen. Im Rahmen des vorgesehenen Umbaus wird das Gebäude so gestaltet, dass es zwei kleine Wohngruppen und Wohneinheiten geben wird, die selbstständiges Wohnen ermöglichen. Das Haus wird barrierefrei sein und ein Pflegebad haben, so dass auch Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf dort wohnen können.

Vier weitere Standorte im Landkreis Kassel werden nun gesucht. Innerhalb der nächsten zehn Jahre soll die Regionalisierung abgeschlossen sein. Ein Beirat begleitet das Projekt. Parallel dazu möchte die bdks eine Befragung unter den Bewohnern in Auftrag geben. „Uns ist wichtig herauszufinden, wie sie selbst sich ihre Wohnsituation wünschen“, betont Eberhardt.

ebo