Wie sie sich vor gewalttätigen und sexuellen Übergriffen schützen können, lernen Schülerinnen und Schüler der LWV-Schulen in einer Reihe von unterschiedlichen Projekten. Sie alle haben das Ziel, die Selbstwahrnehmung der Jungen und Mädchen zu stärken. Wir stellen zwei Beispiele vor: Das Projekt Prävention im Team (PiT) an der Hermann-Schafft-Schule, das Pädagogen gemeinsam mit einem Polizisten leiten, und das Projekt Linie 8 an der Max- Kirmsse-Schule, das gemeinsam mit dem Verein Wildwasser angeboten wird.
HOMBERG/EFZE. „Ich weiß auch nicht, wie das passiert ist“, sagt Seda und lächelt zerknirscht. „Ich war irgendwie nervös…“ Kein Wunder, Seda hatte mit Sozialarbeiter Thomas Ellenberg vor der ganzen Klasse ein Rollenspiel aufgeführt. Trotzdem fuchst es die Siebtklässlerin, dass sie ihrem Vorsatz nicht gefolgt ist: Eigentlich wollte sie Ellenberg, der in die Rolle des jungen Erics geschlüpft war, keines Blickes würdigen. Denn sie wusste, worauf er es abgesehen hatte: Ihr I-Phone.
Mehrfach hatten andere aus der Gruppe die Szene schon durchgespielt. Alle waren von Eric „abgerippt“ worden. Seine Masche: Freundlich ansprechen, großes Interesse an ihrer Musikauswahl heucheln und dann das Gerät aus der Hand reißen und wegrennen. Seda war fest davon überzeugt gewesen, dass sie diesen aufdringlichen Typen ignorieren könnte. Und nun hat sie doch ein Gespräch mit ihm begonnen. Er hat die Gelegenheit genutzt und das I-Phone ist weg.
Erfahrungen wie diese sind es, die die Trainer von PiT (Prävention im Team) den Siebtklässlern der Hermann-Schafft-Schule vermitteln wollen. Erfahrungen, die ihnen helfen können, sich zu wappnen gegen Gewalt und Übergriffe. Sei es von Mitschülern oder Fremden. Seit 2010 gehört PiT an der Homberger Schule mit den Förderschwerpunkten Sehen und Hören zum Curriculum der siebten Klassen.
„Bei unseren Jugendlichen kommt es im Alltag leicht zu Fehleinschätzungen“, sagt Schulleiter Dietmar Schleicher. „Da ihre Seh- oder Hörfähigkeit eingeschränkt ist, können sie Gefahren nicht mit allen Sinnen wahrnehmen. Deshalb wollen wir sie auf gefährliche Situationen vorbereiten.“ Polizist Uli Gerlach will ihnen beibringen, auf ihr „Bauchgefühl“ zu achten. Für ihn ist die Arbeit mit den Jugendlichen eine Herzensangelegenheit. Deshalb hat er sich für PiT gemeldet. Und kam so zur Hermann- Schafft-Schule.
Die Schule in Trägerschaft des LWV war die erste Förderschule in dem Präventionsprogramm. Die Frankfurter Schule am Sommerhoffpark, LWVSchule mit dem Förderschwerpunkt Hören, wird wohl bald folgen. Sie hat bereits beantragt, ins PiTProgramm zu kommen. Insgesamt sind es bislang 84 Schulen in Hessen, die sich beteiligen. An allen durchlaufen sämtliche Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 7 das Training. Sieben Mal im Jahr treffen sie sich klassenweise einen ganzen Tag dafür. Betreut werden sie von einem Polizisten (an der Homberger Schule ist das Uli Gerlach), von zwei Lehrkräften (Silke Lohrengel und Carola Oehlerking) und einem Mitarbeiter der Jugendhilfe (in diesem Fall ist Thomas Ellenberg als Sozialpädagoge direkt an der Schule angestellt).
Die Trainingstage beginnen ruhig. Zuerst teilen alle auf einer Hafttafel mit, ob es ihnen heute gut, mittel oder schlecht geht: Die Jugendlichen der H7 sind heute überwiegend gut drauf. Dann stellt Silke Lohrengel das ziemlich stramme Programm für den Tag vor und danach wird gemeinsam gefrühstückt. Jeder hat etwas mitgebracht, eine kleine Gruppe holt frische Brötchen, während die anderen alles anrichten. „Es ist wichtig, dass die Jugendlichen ruhig und entspannt in die Übungen gehen“, sagt Oehlerking. Im Verlauf des Tages wird klar, warum. Die Übungen sind extrem anstrengend. Emotional und gedanklich. Denn immer wieder spielt das gesamte Team brenzlige Situationen und verschiedene Strategien im Umgang damit durch.
Beim vorigen Trainingstag war es eine Szene, bei der ein frustrierter und aggressiver Schüler andere am Hoftor abfing. Gespielt wurde der von Uli Gerlach. Der gab sich als einer, der nur darauf wartete, mit den anderen Streit anzufangen. Direkt am Tor hatte er eine gute Position: Jeder musste hier durch.
Vor einigen Wochen hatten die Schülerinnen und Schüler die Szene mehrmals durchgespielt. Und dabei eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Der einzige Weg, Eric zu entkommen, war, ihm aus dem Weg zu gehen. „Lieber auf die nachfolgenden Mitschüler warten und mit denen gemeinsam durchs Tor“, das war die rettende Strategie gewesen.
Nachdem Silke Lohrengel und Uli Gerlach die Szene kurz noch einmal spielen, ist die Erinnerung sofort da. Und damit die Lösung der kritischen Situation. Später, beim Rollenspiel „Abrippen“, fällt den Jugendlichen diese Möglichkeit sofort wieder ein. Aber leider sind da keine Mitschüler in der Nähe. Die Aufgabe ist anders angelegt. Und nur Christian schafft es, die von der Klasse erdachte und theoretisch sehr einleuchtende Strategie auch praktisch umzusetzen: Er weicht dem distanzlosen Typen, der so aufdringlich versucht, seine Aufmerksamkeit zu erregen, konsequent aus. So gelingt es Christian zu entkommen.
Zwei wirklich harte Szenen. Nicht nur, weil die anderen beim Rollenspiel zugucken. Die Teenager spielen mit ganzem Körpereinsatz und voller emotionaler Beteiligung. Wichtig sind dafür auch die kleinen Übungen, die die Trainer einstreuen. So werden mit Schnüren und Ringen drei große konzentrische Kreise in den Raum gelegt. Ein Jugendlicher oder eine Jugendliche stellt sich in die Mitte und die Umstehenden gehen der Reihe nach auf ihn oder sie zu. Mit einem „Stopp“ geben die, die im Zentrum stehen, den Abstand vor. Eine Übung, bei der die Schülerinnen und Schüler lernen, auf ihr „Bauchgefühl“ zu hören.
Steffen zum Beispiel weist den Lehrerinnen einen Platz im Abstand von anderthalb Metern zu. „Eh“, ruft er, als Carola Oehlerking die Geste missachtet und weitergeht. Uli Gerlach aber darf ganz nah an ihn heran. „Einem Polizisten kann man doch trauen“, lautet seine logische Erklärung.
Uli Gerlach schlüpft aber bisweilen auch in die Rolle des Bösewichts. Nils zeigt er mit einem Stück Kreide, was passiert, wenn der Schüler in die Konfrontation geht statt sich zu schützen. Gerlach nimmt ein Stück Kreide wie ein Messer in die Hand und übersät Nils in Windeseile mit weißen Strichen. „Was, wenn das wirklich ein Messer gewesen wäre?“, fragt er hinterher. Nils lacht, um die Spannung loszuwerden.
Beim nächsten Trainingstag werden sie einige der Übungen wiederholen. Und sich erinnern an den Schreck. Oder an das Gefühl von Ohnmacht, als Eric ihnen das I-Phone entreißt. Oder an die Erfahrung, welche Sogwirkung von einem Blickkontakt ausgeht. Und diese Erinnerung ist es, die sie schützen kann, draußen, wenn Gefahr droht.
Elke Bockhorst
Interview mit Annette Sauer, Schulleiterin der Max-Kirmsse-Schule, Annette Lüders, Abteilungsleiterin des Förderschwerpunkts geistige Entwicklung, Armin Borst, Sozialpädagoge, Patrizia, Schülerin (15 Jahre), Marcel, Schüler (18 Jahre) sowie Marina Rabe, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin von Wildwasser Wiesbaden.
Linie 8 heißt ein Projekt zur Prävention sexueller Gewalt, das die Idsteiner Max- Kirmsse-Schule mit dem Verein Wildwasser Wiesbaden ihren Schülerinnen und Schülern seit 2010 anbietet. Es ist benannt nach der Buslinie, mit der man die Beratungsstelle Wildwasser erreicht.
Während des Interviews steht auf dem Tisch eine Schatzkiste. Sie ist offen. Patrizia angelt sich eine Streichholzschachtel. „Gleich siehst Du das Wertvollste auf der Welt“, steht darauf. Patrizia schiebt sie vorsichtig auf, weist auf den kleinen Spiegel im Innern.
Was bedeutet der Spiegel?
Patrizia (lächelt): Dass ich das Wichtigste bin für mich und deshalb auf mich und meine Gefühle achten soll.
Was hast du bei diesem Projekt noch gelernt?
Patrizia: Dass ich mir Hilfe holen kann, jederzeit, hier in der Schule bei Lehrern und Freunden, oder aber bei der Wildwasser- Beratungsstelle. Die haben wir auch besucht.
Wie kam das Projekt Linie 8 an die Max-Kirmsse-Schule?
Annette Sauer: Durch eine Lehrerfortbildung von Wildwasser an unserer Schule. Wir waren sicher, dass unsere Schüler von einem gemeinsamen Projekt profitieren würden. Begonnen haben wir mit Schülern mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Dabei stellten wir schnell fest, dass das Konzept nicht einfach auf die Bedürfnisse der Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung übertragbar ist. Für sie ist es aber besonders wichtig. Deshalb wurde es von einem Team um Martina Kleid von Wildwasser und einigen unserer Lehrer angepasst.
Warum ist das Projekt für Jugendliche mit geistiger Behinderung so wichtig?
Marina Rabe: Sie sind besonders schutzbedürftig. Das hat eine Studie des Bundesfamilienministeriums gezeigt. 34 bis 56 Prozent der Frauen mit geistiger Behinderung oder mit Lernbehinderungen werden Opfer sexueller Gewalt. In der übrigen Bevölkerung sind etwa jedes vierte Mädchen und jeder 14. Junge betroffen. Es gehört zur Strategie der Täter, sich das Vertrauen der Opfer zu erschleichen. Sie suchen bewusst sehr schwache Opfer aus dem engen sozialen Umfeld. Es ist schmerzhaft, sich klar zu werden, dass jemand, den ich sehr mag, schreckliche Dinge mit mir tut. Trotzdem ist das Projekt an der Max-Kirmsse-Schule das einzige dieser Art in Hessen und unseres Wissens sogar bundesweit.
Worauf mussten Sie achten?
Annette Lüders: Wir müssen behutsamer vorgehen, weil es unseren Jugendlichen schwerer fällt, zwischen angemessenen Berührungen und einem Übergriff zu differenzieren. Hier gilt noch stärker der Grundsatz, dass wir Erwachsenen für den Schutz der Kinder verantwortlich sind, weil sie das selbst nicht können.
Welchen Sinn hat die Schatzkiste?
Annette Lüders: Zu Anfang bastelt sich jeder Teilnehmer eine solche Kiste, die nach und nach gefüllt wird, zum Beispiel mit Leporellos, die verschiedene Arten von Berührungen zeigen. Oder Karten, auf denen Gesichter mit unterschiedlichen Emotionen zu sehen sind. Diese Bilder helfen den Jugendlichen, auch noch lange nach dem Kurs, die eigenen Gefühle und die Berührungen von anderen einzuschätzen und sich im Zweifel Hilfe zu holen.
Welche Bedeutung haben die Karten?
Vielen unserer Kinder fällt es schwer, Gefühle zu zeigen. Sie können nicht lächeln, nicht traurig schauen. Wer das nicht kann, erkennt Gefühle auch bei anderen nicht. Wir veranschaulichen damit, woran sie erkennen können, ob jemand fröhlich, traurig oder wütend ist. Sie müssen ihre Gefühle und ihren Körper kennenlernen, sich ihre Empfindungen bewusst machen – und einen Weg finden, deutlich nein zu sagen. Das braucht Zeit, wir nehmen uns dafür ein Schulhalbjahr.
Wie arbeiten Sie mit den Jungen?
Armin Borst: Für sie gibt es ein eigenes Projekt. Die Jungen sollen wissen, dass sie nicht immer hart sein müssen, Gefühle zeigen dürfen, auch weinen. Wir versuchen, ihnen den richtigen Umgang mit dem anderen Geschlecht zu vermitteln. Denn unsere Schüler könnten auch zu Tätern werden. Deshalb machen wir klar, dass Sex sich für beide Partner gut anfühlen muss, keinerlei Macht ausgeübt werden darf. Die Grenzen meines Gegenübers zu akzeptieren, ist generell wichtig, ganz besonders aber, wenn Liebe und Körperlichkeit im Spiel sind. Um hier keinen falschen Eindruck zu erwecken – auch bei den Jungs steht die Opferrolle stärker im Fokus als die des Täters.
Marcel, was war für dich wichtig bei Linie 8?
Marcel (denkt nach, schaut zu Annette Lüders, die ihm ein Stoppschild zeigt): Stopp und Nein sagen. Gute Geheimnisse von schlechten zu unterscheiden. Hilfe zu holen. Und lernen, wo Berührungen okay sind und wo nicht.
Wie habt ihr das gemacht?
Marcel: Wir haben den Umriss unseres Körpers auf den Fußboden gemalt und Schilder darauf verteilt, rote Schilder dort, wo uns keiner anfassen darf, grüne Schilder, wo wir Berührungen mögen. Dabei habe ich gemerkt, dass das Gefühl auch davon abhängt, wer mich anfasst.
Hat Euch das Projekt Freude gemacht?
Patricia und Marcel nicken strahlend. Annette Lüders: Aber ja! Wir machen Traumreisen, um uns selbst zu spüren. Wir backen auf dem Rücken unseres Partners eine imaginäre Pizza, um angenehme Berührungen zu erleben. Wir schlüpfen bei Rollenspielen in die Haut von Tätern und Opfern. Ich muss aber zugeben, dass ich mich als Täter richtig fies fühle. Ich komme mir schäbig vor, wenn ich eine Schülerin zu etwas überrede, was sie nicht tun will.
Was zeichnet das Projekt Ihrer Ansicht nach aus?
Annette Sauer: Der ganzheitliche Ansatz. Wir binden Lehrer, Eltern und Schüler ein. Wir schüren keine Ängste, sondern zeigen, wie wichtig es ist, seine eigenen Gefühle ernst zu nehmen. Das stärkt die Selbstwirksamkeit der Schüler. Und das Projekt lebt von der sehr konstruktiven und lebendigen Zusammenarbeit mit Wildwasser, bei der beide Seiten lernen.
Das Interview führte Stella Dammbach.
Die Max-Kirmsse-Schule in Trägerschaft des LWV ist eine Förderschule für soziale und emotionale Entwicklung und für Kranke. Sie hat eine Abteilung mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.
Feldbergschule
Idstein
Freiherr-von-Schütz-Schule
Bad Camberg
Johann-Peter-Schäfer-Schule
Friedberg
Schule am Sommerhoffpark
Frankfurt