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Nachbarn im Stadtteil

Nachbarn im Stadtteil

Die Gustav-Heinemann-Wohnanlage (GHW) der Baunataler Diakonie Kassel in Waldau ist Partner des LWV beim diesjährigen Hessentag. Wir stellen die Einrichtung, die 120 Menschen mit geistiger Behinderung ein Zuhause bietet, und zwei ihrer Bewohner vor. Stefan Müller lebt erst seit kurzem in Waldau, Angelika Schwarz kam bereits vor 20 Jahren in den Stadtteil. Beide pflegen ihre täglichen Rituale.


KASSEL-WALDAU. Es riecht nach frischer Farbe und neuen Möbeln. Ich bin mit Stephan Möller verabredet. Er zog vor wenigen Monaten aus der Diakonieeinrichtung Eben Ezer in Lemgo in die Gustav-Heinemann-Wohnanlage der Baunataler Diakonie Kassel (bdks) am Wohnort seiner Adoptiveltern. Diese hatten sich seine Nähe schon lange wieder gewünscht. Ich treffe den 30 Jahre jungen geistig behinderten Mann in seiner Wohngruppe. Auffällig sind der lustige Haarschnitt, Sommersprossen und die fröhlichen flinken Augen in einem kindlichen Gesicht. Er schaut mich nur einen Moment direkt an. Zur Begrüßung greift er mein Handgelenk, dann noch das andere. Er ist auf der Suche nach einer Uhr, die er leider nicht findet. Aber nur kurz ist er enttäuscht. Blitzschnell überredet er mich mit Hilfe seiner Hände zu dem bekannten rituellen Kinderspiel: „Kommt ein Mann die Treppe rauf…“

Seine Bezugsbetreuerin Ilona Kern mischt sich in seine Art, mit mir intensiv persönlich in Kontakt zu kommen, nur erklärend ein. Stephan schwankt zwischen Neugier und Aufregung. Ich erfahre, dass seine Eltern ihn hier regelmäßig besuchen, mit ihnen macht er immer wieder gerne Ausflüge zu Verwandten und Freunden. Vielleicht hat er geglaubt, auch ich sei mit ihm heute unterwegs. Sein Entdeckungs- und Bewegungsdrang fällt schnell auf. Für die alltägliche Begleitung sicher eine echte Herausforderung, vermute ich. „Stephan ist mit den ersten Haus-Geräuschen wach und interessiert. Er geht auch als Letzter ins Bett. In dieser Zeit braucht er unsere ständige Unterstützung und Begleitung. Snoozeln gehört jedenfalls nicht zu seiner Lieblingsbeschäftigung. Oder?“ Ilona Kern schaut lachend zu Stephan. Stephan lacht zurück.

Das Ankommen im Haus war in den vergangenen Monaten für beide ebenso spannend wie anstrengend: Selbst bei bester Vorbereitung und mit Hilfe enger Kommunikation zwischen allen Bezugspersonen kann es nicht immer gelingen, unbekannte und konfliktreiche Situationen als solche sofort wahrzunehmen. Dann neigt Stephan dazu, Unsicherheit mit aggressiver Verhaltensweise zu kompensieren.

Für schwerstbehinderte Menschen wie ihn ist ein Umzug umwälzend und braucht besondere Behutsamkeit. Er bietet aber auch Chancen. Schrittweise möchte man ihn hier an die regelmäßige Beschäftigung in der Werkstatt heranführen, die er in Lemgo verweigert hatte. Erster Schritt dahin ist das Angebot einer festen Tagesstruktur. Dazu muss er hier keine weiten Wege zurücklegen. Im Nachbarhaus trifft er nach dem Frühstück in der Tagesgruppe auf vertraute Menschen und kehrt erst am Nachmittag in seine Wohnetage zur Kaffeezeit zurück.

SPAZIERENGEHEN MIT DER TAGESGRUPPE

Unter Leitung der Ergotherapeutin Esther Koinzer begleiten Fachkräfte und junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr die Tagesgruppe. Sie machen Vorschläge, bieten kreative Möglichkeiten für jeden Einzelnen oder kochen gemeinsam mit der Gruppe. Stephan entscheidet sich oft zum Spazierengehen, ist unterwegs mit den Tieren oder beim Einkaufen dabei. Heute lässt er sich einladen, das Spezial-Mensch-ärgere-dich-nicht - zu spielen, das der Heilerziehungspraktikant im Anerkennungsjahr, Felix Tour-Romeo entwickelt hat.
Anderes am Tag ist stark ritualisiert, so zum Beispiel das morgendliche Durchblättern der Zeitung. Seit seinen Kindertagen gibt es ihm vielleicht so etwas wie Orientierung im Alltag. Vertraute Rituale sind auch für die 49-jährige Angelika Schwarz ganz wichtig. So sorgt sie immer rechtzeitig in ihrer achtköpfigen Wohngruppe dafür, dass die jahreszeitliche Dekoration stimmt. Sie ist die häusliche unter den acht Bewohnern einer großzügigen Wohngemeinschaft geistig behinderter Menschen, übernimmt gerne notwendige Handgriffe, zum Beispiel beim Kochen.

Eine helle Wohnküche mit weitem Wintergartenblick lädt geradezu zum gemeinsamen Kochen und Essen ein und bietet auch den beiden WG-Katzen ein Zuhause. Heute sind Praktikanten der Offenen Schule Waldau da. Sie werden den Bewohnern unter anderem beim Pizzabacken assistieren. Kleine Flure führen zu den Einzelzimmern der Bewohner. Angelika lässt mich einen Blick in ihr kleines gemütliches Reich werfen, sie schließt mir extra dafür auf. Hier bewahrt sie sorgfältig aufgereiht ihre Schätze, Unordnung mag sie nicht. Das weiß hier jeder, da kann sie auch schon einmal ärgerlich werden. Man kennt sie auch als Kümmerin der WG, Planen ist ihr Hobby. Niemanden wundert es: Schon heute bereitet sie in aller Einzelheit für Februar 2014 ein großes Fest zu ihrem runden Geburtstag vor, am liebsten möchte sie dazu alle Bewohner einladen.

Seit über 20 Jahren bietet ihr die Gustav-Heinemann-Wohnanlage die familiäre Gemeinschaft, die ihr bis dahin fehlte. Im Zuge der Enthospitalisierung geistig behinderter Langzeitpatienten der Psychiatrie kam sie von Weilmünster nach Kassel. Zu ihrem Alltag gehört der morgendliche Aufbruch zur Arbeit in den Baunataler Werkstätten ebenso wie das Ankommen in der WG und die Kaffeezeit am Nachmittag. Donnerstags geht sie neuerdings zum Training in den neuen Fitnessbereich im Nachbarhaus. Ob sie sich gerne fit halte, frage ich sie. Ihr „Ja“ löst in der Runde Heiterkeit aus. Ich scheine einen schwachen Punkt angetippt zu haben und wechsle das Thema. Ob sie uns gerne zum „Haustierzoo“ begleiten möchte, von dem immer wieder die Rede ist, frage ich. Sie ist einverstanden.
Die Esel Emma, Pauline und Nikolaus wurden wie die anderen Tiere des Hofes im vergangenen Sommer im Rahmen der Ferienspiele im Stadtteil mit Kindern und Bewohnern von der evangelischen Pfarrerin Barbara Gallenkamp getauft. Sie ist hier im Ortsteil eine wichtige Förderin und Begleiterin der Integration der behinderten Menschen. Dabei hat sich gezeigt: Die Tiere haben nicht nur für die Bewohner enorme Bedeutung, sie bieten auch immer wieder Möglichkeiten der Begegnung. In diesem Jahr lädt man regelmäßig und kostenlos Kinder und Jugendliche ins Außengelände ein. Regelmäßige Spaziergänge, Fütterung, Pflege und Reiten soll für jeden möglich werden, der sich dafür interessiert. Geplant ist die gemeinsame Gestaltung ungenutzter Flächen, zum Beispiel mit einer Feuerstelle und einem Lehmbackofen, jede neue Idee ist willkommen.

Eins ist dabei sicher: Dieses ambitionierte Projekt wird dem Leben hier wieder ein Stück mehr Vielfalt geben, auch für Angelika und Stephan.

Ines Nowack


LEBENSRÄUME AUCH FÜR ÄLTERE

Interview mit Jan Röse, Leiter der Gustav-Heinemann-Wohnanlage und des Wohnverbundes Mitte der bdks

Bei meinem Besuch in Waldau habe ich neben jüngeren Menschen viele ältere behinderte Menschen gesehen. Ist der demografische Wandel auch bei Ihnen angekommen?
Ja. Unbedingt. Fast die Hälfte unserer Bewohner ist über 50 Jahre alt. Auch behinderte Menschen werden deutlich älter als noch vor wenigen Jahrzehnten. Als 1974 die Erwerbsunfähigkeitsrente für Menschen, die in der Werkstatt arbeiten, eingeführt wurde, hatte man das nicht in der Größenordnung erwartet. Immer mehr Rentner auch in unserem Hause brauchten nach dem Ausscheiden aus ihrem Arbeitsleben neue tagesstrukturierende Angebote. Ende der 1990-er Jahre fiel die Entscheidung dafür im Hause. Und im vergangenen Jahr haben wir uns noch einmal gerüstet: Der Neubau, der unter anderem mit finanzieller Unterstützung des LWV errichtet wurde, gibt uns für die kommenden 15 Jahre Planungssicherheit. Bis zu 65 Menschen können in den vorhandenen Räumlichkeiten tagsüber mit verschiedenen Angeboten von uns unterstützt und begleitet werden.

Welche besonderen Angebote haben Sie hier für ihre Rentner geschaffen?
Unsere Rentner können im Snoozelraum bei Lichteffekten und Entspannungsmusik träumen, im Medienraum Musik und Filme auswählen oder in der Kreativwerkstatt aktiv mit Begleitung des Künstlers Matthias Sebode sein. In mehreren Gemeinschaftsräumen finden Begegnung und gemeinsame Aktivitäten statt. Im Sommer ist draußen viel los. Sie haben so viele Angebote sozialer Kontakte, in Ruheräumen können sich altersgerecht ausruhen und Kraft schöpfen.

Wie erleben Sie das Älterwerden hier im Haus?
Wie alle Rentner kommen auch unsere Bewohner sehr verschieden damit klar. Auch gesundheitlich gibt es große Unterschiede. Unsere große Künstlerin des Hauses, Irma Gunkel, ist an der Staffelei unentwegt kreativ und produktiv mit ihren 68 Jahren. Erst 2012 hatte sie ihre letzte Ausstellung in der Stadtteilbibliothek. Menschen mit Down-Syndrom, die bei uns leben, erkranken fast alle im höheren Lebensalter an Demenz. Andere werden zusehends pflegebedürftig. Das erlebt unser Team als große Herausforderung. Eine Fachkraft Pflege koordiniert dafür alle notwendigen Pflegearbeiten. Allein im Jahre 2011 sind neun Bewohner verstorben. Eine harte Zeit, die von allen getragen wurde, weil wir in unserem Haus den Bewohnern ein lebenslanges Wohnrecht gewähren. Schließlich ist es ihr Zuhause.

Das Interview führte Ines Nowack.


HINTERGRUND
VIELFALT LEBEN

Das alte Waldau mit seiner Gartenstadt ist ein Ortsteil von Kassel, in dem viel Kreativität und Bürger-Gemeinschaft gelebt wird. Mittendrin haben 120 Menschen mit Behinderung in der diakonischen Gustav-Heinemann-Wohnanlage in verschiedenen Wohnangeboten ihr Zuhause. Fast die Hälfte von ihnen ist altersberentet. Manche von ihnen sitzen auf Bänken vor den Häusern und sonnen sich in der Wintersonne.
Eine große Wiese zwischen den Häusern mit Gartenpavillon, Teich und kleinem Fußballfeld wirkt selbst im Winter einladend. Eine Spezial-Schaukel für körperbehinderte Menschen hängt im alten Obstbaum. Man kann das sommerliche Treiben hier förmlich ahnen. Zwischendrin überraschen kleine Gehege mit Eseln, Schafen, Ponys und Ziegen. Ein großes Schild, das auf die stationäre Einrichtung der Baunataler Diakonie Kassel hinweist, sucht man hier vergeblich. Man kennt sich, lebt hier offene Nachbarschaft. Es gibt einen täglichen Mittagstisch für die Bürger des Stadtteils und vielfältige nachbarschaftliche Beziehungen, zum Beispiel zu der Offenen Schule Waldau, der beruflichen Elisabeth-Knipping-Schule, mit Sportvereinen, der Jugendfeuerwehr und der Evangelischen Kirchengemeinde. Einrichtungsleiter Jan Röse erklärt: „Natürlich treiben uns in der aktuellen Inklusionsdebatte die großen und wichtigen Fragen der Dezentralisierung von großen Wohneinrichtungen wie andere Träger auch um. Unsere positiven Nachbarschafts-Erfahrungen hier in Waldau möchten wir aber nicht außer Acht lassen. Diese sind ganz wichtig für die behinderten Menschen, die hier leben. Wenn diese in kleinen Einheiten in der Stadt wohnen, ohne Begegnungsmöglichkeiten im Sozialraum zu haben, werden wir ihnen auch nicht gerecht. Insofern ist es wichtig, auch diesen Aspekt im Veränderungsprozess mit zu bedenken.“ Er ist schon gespannt, wie die jüngste Nachbarschaftsidee Idee ankommen wird: Mitten auf dem alten Dorfplatz öffnet ab Mai 2013 am Wochenende das Stadtteilcafe „Schnuckewerk“. Der Kuchen dafür wird in der Küche und den Wohngruppen selbst gebacken.

Vielfalt ist in der Gustav-Heinemann-Wohnanlage gewachsen. Seit ihrer Gründung 1975 haben sich die Wohnangebote verändert – hin zu mehr personenzentrierter Unterstützung und Begleitung selbstständiger Entwicklungsprozesse von behinderten Menschen. Individuell präsentieren sich nicht nur die architektonischen Lösungen, sondern auch die Möglichkeiten der Lebensplanung. Neben gemeinschaftlichen Wohngruppen mit Einzelzimmern für die Bewohner gibt es heute Trainingswohneinheiten zur Verselbstständigung und Appartements für das Stationär Begleitete Wohnen oder das Betreute Wohnen in weitgehender Selbstständigkeit.

Ein Wohnprojekt für neun Menschen mit besonders intensivem Betreuungsbedarf, welches der Landeswohlfahrtsverband mit 640.000 Euro finanziell unterstützt hat, ist Ende 2012 fertig geworden. Ein multiprofessionelles Team von Krankenschwestern, Erziehern, Pflegefachkräften, Ergotherapeuten und Assistenzkräften begleitet die Bewohner.

Im gesamten Wohnverbund Mitte der bdks werden derzeit 280 Menschen mit einer geistigen Behinderung in verschiedenen nach dem individuellen Hilfebedarf abgestimmten Wohnangeboten in der Stadt Kassel betreut, 180 Menschen in stationären und 100 Menschen in ambulanten Wohnangeboten.

ino