In der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bad Emstal haben Ärzte und Psychologen ein offenes Ohr für die Kinder der Patienten. Sie wollen verhindern, dass diese stärker als nötig belastet werden durch die Krankheit ihrer Eltern.
BAD EMSTAL. Sven* lächelt, als er das elastische Band sieht, das zwischen zwei Bäumen auf dem Klinikgelände gespannt ist. Sein Lächeln ist verhalten, aber seine Augen leuchten. Sofort steigt er mit Hilfe des studentischen Mitarbeiters Simon Stache auf das Band und beginnt zu balancieren. Jetzt wechselt seine Mimik zwischen Konzentration und Stolz. Als er sich schrittweise vorwärts tastet, tritt Tim Jeppe hinzu und hält ihn am Arm. Simon Stache und Tim Jeppe sind Psychologie-Studenten an der Uni Kassel. Sie leisten Sven Gesellschaft, wenn seine Mutter einen Termin in der Vitos Klinik Kurhessen in Bad Emstal hat. Dieses Angebot ist Teil eines Präventionsprojektes, wie Dr. Michael Franz, der Ärztliche Direktor des Vitos Klinikums Kurhessen erklärt.
Svens Mutter ist bereits zweimal in den vergangenen zehn Jahren an einer Depression erkrankt. Zweimal war sie in Bad Emstal zur Behandlung. Franz und seine Mitarbeiterin, die Psychologin Beate Kettemann, wollen Kinder und Eltern in solchen Situation entlasten. Ziel ist zu verhindern, dass auch die Kinder psychische Störungen entwickeln. Das Risiko für die Kinder, selbst – zum Beispiel an einer Depression – zu erkranken, ist für sie zwei- bis dreimal höher als für ihre Altersgenossen.
„15 bis 30 Prozent unserer Patientinnen und Patienten haben Kinder unter 18“, sagt Franz. „Diese Kinder sind besonderen Belastungen ausgesetzt.“ Studien belegen: Sie leiden zum Beispiel unter der Tabuisierung der elterlichen Erkrankung, unter Schuldgefühlen, Scham, Angst oder unter der Unberechenbarkeit des erkrankten Elternteils. Manche von ihnen ziehen sich zurück und geraten in eine Situation der Isolation, oder sie müssen erleben, dass sich die Eltern als Folge der Erkrankung trennen. Und oft kehrt sich das Rollenverhältnis zwischen dem erkrankten Elternteil und dem Kind um. Psychiater nennen das Parentifizierung. „Das ist eine besondere Herausforderung für den Reifungsprozess und kann sehr belastend und überfordernd für die Kinder sein“, so Franz. „Zum Glück entwickeln nur ein Drittel der betroffenen Jungen und Mädchen persistierende, also nachhaltige Auffälligkeiten. Sie haben auch Resilienzfaktoren, also die Fähigkeit, trotz Belastung nicht zu erkranken. Dabei wollen wir sie unterstützen.“
Ein ganzes Maßnahmenbündel haben Franz und Kettemann entwickelt. Bereits bei der Aufnahme werden Patientinnen und Patienten gefragt, ob sie Kinder haben. Wenn sie das bejahen, dann verweist sie der Arzt auf das Beratungsangebot auf dem Klinikgelände. Im sogenannten Benderhaus wird von Psychologen der Vitos Kinder- und Jugendpsychiatrie Bad Wilhelmshöhe regelmäßig eine Sprechstunde und auch eine Infostunde mit den Referenten der Arbeitsgruppe für psychisch kranke und suchtkranke Eltern der Region Kassel angeboten. Dort können sich Eltern informieren und weitere Termine vereinbaren. Für sich und ihre Kinder.
„Das Plakat auf der Station zu den Angeboten für erkrankte Eltern fiel mir gleich ins Auge“, sagt Elke Bernd*, die Mutter des zwölfjährigen Sven. Sie hat das Angebot genutzt. „Da war eine Distanz zwischen mir und den Kindern, als ich krank war“, sagt sie. „Das habe ich genau gespürt.“ Frau Kettemann sei eine Vermittlerin zwischen den Angehörigen, erläutert sie und schaut die Psychologin unverwandt an. „Wir haben von Ihnen das Kinderbuch ‚Traurige Sonnentage’ bekommen. Als wir das gelesen haben, haben meine Kinder und ich zum ersten Mal über meine Krankheit gesprochen.“
Es sei nicht der Regelfall, dass Eltern und Kinder über die psychische Erkrankung ins Gespräch kämen, ergänzt die Diplom- Psychologin. Und so seien die Jungen und Mädchen mit ihren Sorgen oft allein. „Kinder denken meist, sie seien schuld, wenn es den Eltern nicht gut geht. Oder sie plagt die Frage: ‚Kann ich selbst krank werden?’“
Auch für Jugendliche, die schon fast erwachsen sind, ist das Gesprächsangebot der Psychologin eine große Unterstützung. Maria Sommer*, 18 Jahre, bestätigt das. „Ich weiß jetzt, wie ich reagieren soll, was ich meine Mutter fragen kann. Und dass ich sagen darf, wenn mir etwas nicht passt. Anfangs hatte ich immer Angst, was Falsches zu sagen.“
Ihre Mutter war ebenfalls an einer Depression erkrankt. In der Institutsambulanz hatten die Ärzte schnell den Verdacht, dass sie auch unter dem Borderline-Syndrom leidet. Dies ist von starken Gefühlsschwankungen, Spannungs- und Erregungszuständen begleitet. Sie kam nach Bad Emstal und blieb auf einer Spezialstation für Borderlinestörungen. Auch sie kam zur Infostunde ins Benderhaus. Es folgte ein Familiengespräch. „Damit beginnen wir in der Regel“, erklärt Beate Kettemann. Und dann kam die Tochter regelmäßig allein in die Sprechstunde.
Als besonders hilfreich empfinden beide Mütter, dass die Begleitung nach der Entlassung nicht abrupt aufhört. „Wenn ich fühle, dass bei Maria irgendwas ist, wo ich nicht drankomme, dann weiß ich: Ich darf noch mal bei Frau Kettemann anrufen“, schildert Andrea Sommer*. Diese Gewissheit entlaste sie sehr.
„Dieses Angebot ergänzt die störungsspezifischen Behandlungskonzepte unserer Klinik“, erläutert Franz. Schon zum zweiten Mal wurde der Ärztliche Direktor und Privatdozent in der Zeitschrift Focus als ausgewiesener Experte bei der Behandlung von Depressionen und bipolaren Störungen genannt.
Neben der individuellen Sprechstunde können Eltern, Kinder und weitere Angehörige die allgemeine Informationsstunde über familiäre Unterstützungsangebote im Benderhaus nutzen. Die Vitos Klinik Kurhessen stellt hierzu das Informationsheft der Arbeitsgruppe psychisch kranker und suchtkranker Eltern der Region Kassel zur Verfügung. Diese Arbeitsgruppe steht für die regionale Vernetzung mit verschiedenen Einrichtungen und Institutionen aus Region und Stadt, zum Beispiel mit den Jugendämtern, der Vitos Klinik Bad Wilhelmshöhe für Kinder- und Jugendpsychiatrie, mit den Vitos Ambulanzen, dem sozialen Dienst der Jugendämter, dem Gesundheitsamt und Beratungsstellen. „Es gibt eine Vielzahl von Angeboten“, sagt Franz. „Unser Ziel ist, dass die Eltern dabei einen Lotsen und Vermittler haben, damit die Angebote sie erreichen.“
Teil des Bad Emstaler Projektes ist auch eine Studie. An fünf Kasseler und Gießener Schulen hat Kettemann mit ihrem Team Schüler und Schülerinnen befragt – Kinder und Jugendliche, deren Eltern schon einmal eine psychische Erkrankung hatten, sowie eine Vergleichsgruppe ohne diese Erfahrung. Insgesamt unterschieden sich ihre Antworten kaum von denen ihrer Altersgenossen. Nur in zwei Punkten ergab sich ein bedeutsamer Unterschied: Kinder psychisch kranker Eltern gaben häufiger an, unter Ängsten oder sozialem Rückzug zu leiden. Hinzu kommt, dass sie ihre Elternbeziehung aufgrund der psychischen Erkrankung eines Elternteils als beeinträchtigt erleben. Genau deshalb hoffen Franz und Kettemann, dass sich ihr Präventionsprojekt als dauerhaftes Angebot etablieren kann.
ebo
*Namen im Text geändert