Sich mitteilen zu können, ist eine wichtige Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Wie geht das für Menschen, die nicht die Welt der Worte kennen? Der Verein Bathildisheim in Bad Arolsen sucht nach Wegen der Verständigung. Die Expertin Prof. Dr. Barbara Fornefeld von der Universität Köln, die kürzlich bei einer Tagung in Bad Arolsen sprach, gab uns ein Interview.
BAD AROLSEN. Arne schaut mich unverwandt an. Er überragt mich fast um Haupteslänge. Sein rechter Zeigefinger ruht in der Hand von Wohngruppenleiterin Claudia Pilvousek. Sie greift seine Hand und legt Arnes Finger in meinen Handteller. „Probieren Sie mal“, sagt sie und wendet sich zum Gehen. Mit „probieren“ meint sie, ich solle versuchen, ohne Worte mit Arne zu kommunizieren. Arne spricht nicht. Er ist 17 und geistig behindert.
Wir gehen langsam den Flur entlang. Sein Finger ruht noch in meiner Hand. Ich versuche zu erfühlen, wohin er mit mir gehen möchte. Als wir uns der Tür zum Garten nähern, ruft er „Nein!“ – „Nein, nein!“ Er lacht. Ich bin unsicher. Traut er sich nicht in den Garten? Denkt er, er dürfe nicht? Warum lacht er? Ich beschließe, mit ihm weiterzugehen Richtung Wohnzimmer und den Garten links liegen zu lassen. Langsam schlurft er mit mir weiter. Er ist müde, kommt gerade von einer anstrengenden Physiotherapie.
Im Gruppenraum setzen wir uns in zwei benachbarte Sessel. Arne ist ruhig. Gibt wenig Laute von sich. Ich ziehe meine Kamera aus der Tasche und zeige sie ihm. Dann fotografiere ich ihn. Er lacht. Immer wieder, bei jedem Auslösen. Zieht die Arme hoch, wirkt fast verzückt. Nun habe ich doch was verstanden. Fotografiert zu werden, gefällt ihm. Ich zeige ihm die Fotos. Andere aus der Gruppe möchten auch aufs Bild. Arnes Zimmernachbar Maik wirft sich geradewegs zwischen uns.
Die Wohngruppe Estamo gehört zum Internat der Karl-Preising- Schule des Bathildisheim e. V. in Bad Arolsen. Hier lernen Kinder und Jugendliche mit völlig unterschiedlichen körperlichen, kognitiven Beeinträchtigungen sowie Verhaltensbesonderheiten. Die Klassen sind klein. Manche der Schülerinnen und Schüler lernen zu lesen oder sich in den kleineren Zahlräumen zu bewegen. Für andere ist es eine Leistung, in der Gruppe zu bleiben, mit anderen den Raum zu teilen. Manche üben sich darin, viele kleine Gegenstände, die um einen Korb herum mit Klettband angebracht sind, hinein zu werfen. Erste Ordnungsversuche. Andere müssen noch lernen, ihre Mitschüler nicht anzuspucken. „Das Ziel ist Selbstständigkeit, so viel wie möglich“, sagt Konrektorin Ursula Braun. Der Weg dahin ist nicht ganz leicht.
Manche der Schülerinnen und Schüler, erklärt sie, seien in einem kognitiven Entwicklungsalter, das dem einjähriger Kinder entspreche. Einer Entwicklungsphase, in der das Sprechen bestenfalls gerade beginne. Und so sind sie abhängig von Menschen, die ihre Bedürfnisse wahrnehmen, die versuchen, sie zu verstehen.
Die Verständigungswege sind vielfältig. Manche der Kinder haben einen Talker. Ein ganz einfaches Aufnahmegerät, auf das die Pädagogen nach dem Unterricht zum Beispiel draufsprechen, was heute Thema war. Oder sie sprechen für die Kinder eine Bitte drauf, mit der diese dann zu anderen gehen können, zum Beispiel zum Bäcker um die Ecke.
Selma, die in der selben Internatsgruppe ist wie Arne und Maik, hat nicht nur den Talker, sondern auch eine Karte, auf der viele Dinge abgebildet sind. Ein lachendes Gesicht für „ja“, zwei Gesichter, die einen schüttelnden Kopf in Zeitlupe andeuten, für „nein“. Zwei Hände für „ich brauche deine Hilfe“. Und ganz viele Lebensmittel, auf die Selma tippen kann, wenn sie Abendbrot essen möchte. An der Wand im Gemeinschaftsraum klebt heute, Mittwoch, ein Telefon neben Selmas Foto. Darunter steht Mama. Es ist der Tag, an dem sie immer mit der Mutter telefoniert. Während Claudia Pilvousek mir das erklärt, greift Selma nach einem länglichen Gebilde aus Duplosteinen, das gerade auf dem Tisch liegt, und hält es ans Ohr. Sie lacht.
„Es gibt Kinder, bei denen wir eine Windel in die Luft halten, wenn wir sie fragen möchten, ob sie auf die Toilette müssen“, sagt Ursula Braun. „Aber selbst für uns einfach erscheinende Symbole müssen erst verstanden und erlernt werden.“ Und es gibt Jugendliche, mit denen auch diese unterstützte Verständigung nicht funktioniert.
Leonie ist 18. Sie antwortet mit Lachen oder Weinen. Ich beobachte sie, wie sie mit Unterstützung ein Bild malt. Carola Eisenblätter hält ihr ein Töpfchen mit gelber Farbe hin und liest an den Augen ab, ob damit weitergemalt werden soll. taucht sie ein und bewegt die Finger anschließend über das Papier. Auf den ersten Blick wirkt Leonie fast unbeteiligt. Doch wenig später wird deutlich, wie genau sie wahrnimmt: Ich mache ein paar Fotos von den Beiden und verabschiede mich. Sobald ich aus Leonies Sichtfeld verschwinde, fängt sie laut an zu weinen. Ich kehre zurück. Sie beruhigt sich augenblicklich.
Parallel beobachte ich Heilerziehungspflegerin Theresa Wistuba mit Fabio. Er ist 13, zart wie ein Grundschüler und sitzt auf einem Kinderstuhl am Nachbartisch. Er trägt ein Korsett und bewegt seine Arme anscheinend ungezielt. Doch auf Theresa Wistubas Aufforderung hin greift er die Gabel und piekst die belegten Brotstückchen auf, die sie ihm vorbereitet hat. Theresa Wistuba assistiert. Sie ist seit kurzem Fabios Bezugsbetreuerin.
Später zeigt sie mir, dass er mit ihrer Unterstützung kleine Schritte machen kann. „Ich finde, es wäre ein großer Erfolg, wenn wir ihn so weit fördern könnten, dass er eines Tages an der Hand kleine Strecken läuft“, sagt die junge Frau. Dann könnte er zu Fuß zur Preising-Schule gehen. Und auch wenn sie ihn nicht fragen kann, ist sie sicher, dass dies für ihn ein großer Schritt wäre.
Elke Bockhorst
JEDER MENSCH MUSS SICH MITTEILEN KÖNNEN
Interview mit Prof. Dr. Barbara Fornefeld, Professorin am Lehrstuhl Pädagogik und Rehabilitation bei Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung, Universität Köln
Frau Prof. Fornefeld, mit dem Ziel der Inklusion ist auch der Anspruch der Selbst bestimmung in Entscheidungen mitformuliert. Wie kann das schwer behinderten Menschen gelingen, wenn sie sich nicht lautsprachlich verständigen können?
Austausch und Dialog sind immer Grundvoraussetzungen für Inklusion. Nur so lerne ich den anderen kennen und kann mich mit ihm verständigen. Ohne Austausch wird es immer Barrieren geben. Jeder will sich mitteilen, jeder hat seine Themen. Die Interessen von Menschen mit schwerer Behinderung entdeckt man, wenn man gemeinsame Erlebensund Erfahrungsräume schafft. Im gemeinsamen Erleben kann man erfahren, was den anderen Menschen bewegt, was zu seinen Neigungen gehört und was seine Persönlichkeit ausmacht.
Das hört sich nach Detektivarbeit an, wenn der andere körperliche und geistige Beeinträchtigungen hat und nicht spricht…
Ja, oder auch Entdeckergeist. Meinen Studenten rate ich: Nehmt bewusst eine forschende Haltung ein: „Wer bist du? Du bist nicht wie ich, aber ich will dich entdecken und schauen, wohin ich mit dir gehen kann. Ich verstehe dich (noch) nicht und doch weiß ich, dass du etwas kannst.“
Selbstbestimmung zeigt sich bei Menschen mit schwerer Behinderung in kleinen Gesten ihres Leibes, den wir als Einheit von Körper und Geist verstehen. Es sind körpereigene Ausdrucksmöglichkeiten, die alle benutzen: Weinen, Lachen, Atmen, Lautieren, Greifen und Wegwerfen, aber auch sich und andere schlagen. Achtet man zum Beispiel beim Geschichtenlauschen auf die Atmung, wird man Variationen erkennen. Ein Schlagen auf den Tisch kann bedeuten, dass die Musik noch einmal erklingen soll. Wer sich freut, reckt sich vielleicht, auch Erschrecken und die Veränderung von Tränenflüssigkeit signalisieren etwas… Wenn wir solche elementaren Körperreaktionen in der Kommunikation mit behinderten Menschen gemeinsam ent - decken, lernen wir auch viel über unsere eigene Kommunikation kennen.
Wie kann Kommunikation gefördert werden, die zur Inklusion beiträgt?
Das Verstehen-Wollen ist Voraussetzung. Nehme ich körperbetonte präverbale Äußerungen dieser Menschen nicht als gleichwertig wahr, sondern als primitiven Ausdruck, kann kein Dialog entstehen, ist es unmöglich herauszufinden, wer der andere ist. Was durch interessierte Menschen entstehen kann, macht das Beispiel eines Mitarbeiters in einer Werkstatt für behinderte Menschen deutlich, der mit dem Kopf schreibt. Seine einzige Förderung in der Schule bestand darin, einen Igelball in der Hand zu halten. Als Erwachsener traf er auf Menschen, die feststellten, dass er lesen konnte. Diese ermöglichten ihm auch das Schreiben.
Moderne Technik für Unterstützte Kommunikation wurde in der jüngsten Vergangenheit für viele behinderte Menschen zu einem Quantensprung in der Kommunikation…
…und das nicht nur durch die Entwicklung der Technik. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von pädagogischen Methoden der Unterstützten Kommunikation. Sie reichen von körpereigenen Ge - bärden und einem gebärdenunter stützten Unterricht über Bild- und Symbolkartensysteme bis hin zu Computern mit Sprachausgaben. Um für jeden Menschen ohne Verbalsprache die angemessene Methode der Unterstützung seiner Kommunikation zu finden, sind eine Diagnose seines Sprachverständnisses und Kommunikationsbedürfnisses notwendig. Zudem muss untersucht werden, welche Form von Symbolen derjenige versteht und welche elektronischen Hilfsmittel er bedienen kann. Solche individuellen Diagnosen werden z. B. am Forschungs- und Beratungszentrum für Unterstützte Kommunikation an der Universität Köln durchgeführt. Neben der Gebärdensprache für gehörlose Menschen, der Leichten Sprache für Menschen mit Lernschwierigkeiten wird die Unterstützte Kommunikation für Menschen mit Körper- oder geistiger Behinderung zunehmend anerkannt.
Was sind dann heute die Stolpersteine für gelingende Kommunikation?
Bevor es darum geht herauszufinden, welches System zu welchem Menschen passt, sind gemeinsam erlebte Situationen, Nähe und Beziehung grundlegend. Sie sind Start und Grundlage jeder Kommunikation (siehe Beispiel unter Hintergrund). Wir leben aber in einer extrem schnelllebigen und visualisierten Zeit. Auf dem Tablet erfassen wir mit einem Blick, was los ist. Unserem Zeitgefühl entspricht die Schnelligkeit eines ICEs, während sich der Mensch mit schwerer Behinderung gemächlich mit der Draisine fortbewegt. Darum verpassen wir uns permanent, weil wir uns nicht die Zeit nehmen, auf sie zu warten, hinzusehen und zu lauschen, was sie uns zu sagen haben.
Ritualisierte Fragen wie „Hast du Hunger?“ oder „Wie geht es dir heute?“ verhindern zu sehen, dass die Menschen oft ganz andere Themen jenseits von Hunger oder körperlichen Bedürfnissen beschäftigen. Darum nehmen wir in einem stark ritualisierten Alltag auch selten wahr, dass behinderte Menschen älter werden und sich damit auch ihre Themen ändern. Ein Beispiel: Über Biografiearbeit erfuhr ein Einrichtungsteam, das unter der Dokumentationslast litt, mehr über die Themen der Bewohner. Hierdurch veränderte sich das Arbeitsklima für die Mitarbeiter und die Lebensqualität für die Bewohner.
Ältere behinderte Menschen kommen noch zu selten in den Genuss Unterstützter Kommunikation. Es ist jedoch in keinem Alter zu spät, Sprachanlässe zu schaffen. Es muss nicht immer der Talker sein. Immer mehr Einrichtungen gehen zum Beispiel dazu über, für die Orientierung ihrer Bewohner Bilder oder Symbolkarten z. B. vom Essen, Arbeiten oder von Freizeitbeschäftigungen in den Fluren zu platzieren. Das erleichtert die Orientierung und lädt zur Kommunikation ein.
Stimmt es, dass vor allem behinderte Menschen in langen Betreuungsverhältnissen dem Druck unterliegen können, „Ja“ zu sagen, wo sie „Nein“ meinen?
Das ist Folge der sogenannten „erlernten Hilflosigkeit“. Sie entsteht, wenn der Mensch mit Behinderung im Verlauf seines Lebens gelernt hat, dass seine Bedürfnisse oder Wünsche nicht beachtet werden oder er sie nicht durchsetzen kann. Zwischen Mitarbeitern und behinderten Menschen besteht ein enormes Hierarchiegefälle. Schon deshalb erfährt der behinderte Mensch oft, dass er besser zurechtkommt, wenn er den Erwartungen der Bezugspersonen folgt. Und ein „Nein“ braucht natürlich auch zu seiner Durchsetzung bestimmte kognitive Fähigkeiten.
Damit sich diese Praxis ändert, muss in der Teamrunde über die eigene Gesprächskultur nachgedacht werden, z. B. indem man sich fragt: „Frage ich wirklich, oder suggeriere ich, was jetzt am besten in den Tagesablauf passt?“ Wird Kommunikation in den Dienst ökonomischer Notwendigkeiten gestellt, führen diese das Prinzip der Selbstbestimmung ad absurdum. Versteht man dialogische Kommunikation als Prinzip des Arbeitens und Wohnens, kann sie auch ohne große Konzepte allmählich ihren Platz im Alltag finden.
Auch die institutionellen Bedingungen spielen also eine große Rolle…
Ja. Wichtig sind Freiräume, in denen sich behinderte Menschen und Mitarbeiter begegnen und gemeinsam entwickeln können und frei verfügbare Entscheidungsspielräume haben, die sie selbst verantworten. Entwicklung vollzieht sich eben nicht linear, sondern sprunghaft, d.h., die Fortschritte von Menschen mit schwerer Behinderung orientieren sich nicht an Skalen und Messlatten, die für kognitive, körperliche oder auch sprachliche Förderung entworfen wurden. Das Leben ist mehr oder anders, als wir es in der Hilfeplanung erfassen können. Wenn man nur noch Ziele formuliert, die operationalisiert werden können, verpasst man das Leben (eines Menschen).
Sie plädieren dafür, das Leben nicht zu verpassen, aber auch im Leben der anderen zu sein, wie der Titel einer Fachtagung des Rehazentrums Bathildisheim lautete. Wie meinen Sie das?
Der Titel wendet sich gegen die Trennung der sogenannten perfekten von den imperfekten Menschen. Ich kann diese Trennung nur dann auflösen, wenn ich im Leben der anderen bin. Dazu muss ich nicht auf den großen Entwurf warten, das kann ich selbst an der einen oder anderen Stelle leben. Der LEA-Leseklub des KUBUS e.V. zum Beispiel führt an vielen Orten Deutschlands einmal in der Woche erwachsene nichtbehinderte und behinderte Menschen zusammen, die Lust auf Bücher, Bilder und Geschichten haben. Sie lesen miteinander, tauschen sich aus und gehen wieder in ihr Leben. Wenn man sich umschaut, gibt es viele andere Beispiele in Sportverbänden, Kultur- und Jugendhäusern, die Inklusionsansätze leben und nicht inszenieren, wie man es auch mitunter antrifft.
Das Interview führte Ines Nowack.
Weitere Informationen unter
www.kubus-ev.de/lea-leseklub,
www.isaac-online.de und
www.hf.uni-koeln.de/31801
HINTERGRUND
Prof. Dr. Barbara Fornefeld schildert ein Beispiel für gelungene Kommunikation: Eine Studentin las einem achtjährigen blinden und geistig behinderten Mädchen „Jona und der Wal“ vor, die bekannte Geschichte aus dem Alten Testament. Das Mädchen, von dem bisher noch kein Laut zu hören war, saß auf dem Schoß der Studentin. Diese wiederholte die Geschichte. Als sie beim dritten Mal an die Stelle kam, wo Gott auftrat, sinnlich erfahrbar dargestellt in Form eines wärmenden Körnerkissens, das sie dem Mädchen in die Hand gab, streckte das Mädchen plötzlich ihre Hände in die Höhe und fing an zu lautieren. Ihr ganzer kleiner Körper war in Aufregung, entdeckte sie doch gerade zum ersten Mal ihre Stimme.
Die Studentin unterbrach ihre Geschichte und ließ sich auf einen Dialog mit dem Mädchen ein. Sie antwortete in ihren Tönen, modulierte ihre eigene Stimme. Das wiederholte sich auch in den folgenden Lesestunden, das Mädchen wurde sicherer, variantenreicher und mutiger im Gebrauch ihrer eigenen Stimme.
Diese Situation ereignete sich im Rahmen des „mehr-Sinn-Geschichten-Projektes“ des Vereins Kubus. Darin werden Geschichten aus der Kultur der Völker vor allem für Menschen mit Beeinträchtigungen sinnlich erfahrbar gemacht. Märchen, Sagen, Bibelgeschichten und erdachte Geschichten sind so gestaltet, dass sie alle verstehen können. ino