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Unterstützung für mehr Selbstständigkeit

Unterstützung für mehr Selbstständigkeit

Das Antoniushaus in Hochheim bietet behinderten Kindern und Jugendlichen gute Lernmöglichkeiten und ein Internat. Der LWV unterstützt Schülerinnen wie Laura Weise, Schüler und ihre Familien finanziell: Viele von ihnen erhalten Hilfe zur Schulausbildung.


HOCHHEIM. Laura Weise und Mariusz Frankowski steuern über das Gelände des Antoniushauses in Hochheim auf ein Nebengebäude der Edith-Stein-Schule zu. Die Luft ist erfüllt vom Lachen tollender Kinder, die im Schatten alter Bäume Verstecken spielen. Die Tür zum Schulgebäude öffnet sich mit leisem Zischen. Ein grauhaariger Mann und ein blonder Junge sitzen im Vorraum, als Mariusz höflich und etwas schüchtern grüßend um die Ecke biegt: Kurze dunkelblonde Haare, blaue Augen, gepflegter Bart, Tattoos auf den muskulösen Armen. Die 20- jährige Laura mit dem rötlich schimmernden Haar lenkt ihren Rollstuhl hinter Mariusz’ Gefährt her.

Laura und Mariusz sind zwei von 120 Internatsschülern. Sie besuchen die Edith-Stein-Schule, wie die berufliche Schule im Antoniushaus heißt. Hier können Schüler mit körperlichen und motorischen Einschränkungen vom Hauptschulabschluss bis zur Fachhochschulreife den ihren Fähigkeiten entsprechenden Bildungsabschluss erlangen. Wie viele Schüler hier erhalten die beiden vom LWV Hessen Hilfe zur Schulausbildung.
Es ist Praktikumsphase, die Schüler sind in Betrieben unterwegs, regulärer Unterricht ist zurzeit keiner. Aber ein Blick in Mariusz’ Klassenzimmer ist möglich: Die Tische sind an die Bedürfnisse des jeweiligen Schülers angepasst, mal höher, mal niedriger, alle mit dem Rollstuhl unterfahrbar. An der Stirnseite des Raums ist ein Whiteboard angebracht, eine elektronische Tafel zum interaktiven Lernen. Die Klassen sind klein, meist um die elf Schüler. „Das ist toll, weil die Lehrer sehr viel Zeit für die Einzelnen haben“, sagt Laura. Und wie läuft der Unterricht ab? Mariusz und Laura stutzen, schmunzeln. „Na, wie an jeder anderen beruflichen Schule auch“, sagt Laura. „Natürlich zugeschnitten auf die jeweiligen Schwerpunkte. Hier bei uns sind das Wirtschaft, Verwaltung und Soziales. Übrigens lernen hier nichtbehinderte und behinderte Jugendliche gemeinsam. Je nachdem, ob und wie stark die persönliche Leistungsfähigkeit durch ein Handicap eingeschränkt ist, bekommen wir etwas mehr Zeit, um unsere Ziele zu erreichen.“

Manche Schüler benötigen auch eine spezifische Unterstützung. Laura beispielsweise wird von ihrer starken Spastik daran gehindert, länger am Stück zu schreiben. „Deshalb habe ich eine Schreibassistenz für den Unterricht oder wenn wir Klausuren schreiben“, erklärt die 20-Jährige.
Die beiden lassen auf „ihr“ Antoniushaus nichts kommen, das gerade erst sein 100-jähriges Bestehen gefeiert hat. „Ich bin durch das Internat sehr viel selbstständiger geworden“, betont Laura. Hier habe sie gelernt, sich alleine anzuziehen und alleine einzukaufen. Mariusz nickt: „Wir werden nicht in Watte gepackt. Die Betreuer fordern uns ganz schön, aber sie geben uns auch die nötige Unterstützung, wenn etwas noch nicht klappt.“

Der 21-Jährige ist seit einem Autounfall vor vier Jahren von der Brust abwärts gelähmt. „Der Sport hat mir aus der Depression geholfen und der Ansporn in Internat und Schule machen mich zunehmend selbstständiger“, sagt er. Längst ist er Vorbild für andere: 2012 Deutscher Meister auf der Marathonstrecke im Handbiken bei den Männern unter 23 Jahren, Platz 11 der Weltrangliste, Mitglied der deutschen Rugby-Nationalmannschaft der Rollstuhlfahrer. RTL hat ein Porträt gesendet über den Hochheimer Vorzeigesportler, der seit diesem Schuljahr die Fachoberschule besucht. Sein Ziel: „Ich würde gerne Sportwissenschaften studieren, später als Trainer oder als Ernährungsberater arbeiten.“ Fünf bis sechs Mal pro Woche trainiert der junge Mann mit den polnischen Wurzeln für das Handbiken, einmal die Woche Krafttraining, ebenfalls einmal Rollstuhlrugby, alle drei Monate fährt er für eine Woche ins Trainingslager der Nationalmannschaft. „Da bleibt abends nur noch Zeit zum Lernen, das war es schon mit der Tagesgestaltung“, räumt er ein. Seine Trainer und sein Klassenlehrer achten darauf, dass seine schulischen Leistungen nicht nachlassen.

„ICH HABE MICH RAUSGEKÄMPFT“
Wie alle anderen Internatsschüler lebt er gemeinsam mit anderen in einer Wohngruppe. Klar hat hier jeder seine Aufgabe, auch Mariusz wird da nicht ausgenommen, ist mal mit Einkaufen, mal mit Küchendienst dran. „Der Sport, die Schule, der Alltag… manchmal ist das schon etwas viel, aber da muss man eben durch“, sagt er leise lächelnd. „Durch den Unfall ist mir vieles genommen worden, zum Beispiel die Fähigkeit zu laufen. Das hat mein Leben ziemlich verändert, aber nicht unbedingt nur negativ. Denn ich habe mich rausgekämpft. Dazu hat das Leben hier viel beigetragen“, fügt er ernst hinzu.
Es ist diese Stärke, die Laura bewundert. „So bin ich nicht“, sagt sie. Die junge Frau arbeitet sich Schritt für Schritt vor, strebt derzeit ihre Mittlere Reife an. Auch sie träumt vom Fachabitur. Aber sie hat auch einen Plan B. „Wenn es beim Realschulabschluss bleibt, möchte ich Verwaltungsfachangestellte bei der Polizei werden“, erzählt sie. Polizei – das passt zu ihr. „Ich hab’s mit der Gerechtigkeit. Wenn mir etwas gegen den Strich geht, sage ich das deutlich“, erläutert die 20-Jährige. Gemeinsam mit der Pressesprecherin des Antoniushauses kämpft sie dafür, dass der Hochheimer Bahnhof barrierefrei gestaltet wird. Zudem ist sie Referentin der Stadt Frankfurt, hält regelmäßig Vorträge über den Umgang mit behinderten Menschen.

„Das gehört zur Ausbildung der Rettungssanitäter, hilft, Berührungsängste und Vorurteile abzubauen“, schildert Laura die Hintergründe. Sie steuert über einen schmalen Weg zum Eingang des Internats, vorbei an einer Handvoll Teenager, die sich in der Sonne niedergelassen haben. Ihre Wohngruppe ist im zweiten Stock des Gebäudes, über Lauras Bett hängt die Vereinsfahne von Eintracht Frankfurt. „Ich hab eine Dauerkarte“, lacht sie. Ihr Schreibtisch ist penibel geordnet, „sonst hab ich ja keinen Platz zum Lernen“.
Zielstrebig, fröhlich, selbstbewusst – so verfolgen die beiden ihre Träume. Auch sie werden vermutlich nicht alle ihre Ziele verwirklichen können, aber sie sind fest entschlossen, ganz nah ran zu kommen: „Ein guter Schulabschluss ist unsere Chance auf ein Leben nach unseren Vorstellungen. Und hier bekommen wir die Unterstützung, die wir brauchen.“

Stella Dammbach



HINTERGRUND

HILFE ZUR SCHULAUSBILDUNG

Im Rahmen der Hilfe zur Schulausbildung übernimmt der Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen die Kosten für den Besuch einer Internatsschule wie dem Antoniushaus, wenn die schulische Ausbildung eines Kindes oder Jugendlichen wegen einer Körperbehinderung oder einer Sinnesbehinderung nur dadurch gesichert werden kann. Der LWV bezahlt Internatsschülern zudem ein altersabhängiges Taschengeld.

In Einzelfällen übernimmt der LWV auch die Finanzierung von Integrationshelfern. „Das ist abhängig davon, wie stark ein Schüler körperlich eingeschränkt ist“, sagt dazu Gisela Schumm von der LWV-Regionalverwaltung Wiesbaden.

Bis zur 10. Klasse ist der Schulträger für die Beförderungskosten der Schüler zuständig. Ab der 11. Klasse erstattet der LWV die Fahrtkosten zur Schule, bei Internatsschulen die Kosten für die Heimfahrt der Schüler am Wochenende. „Manche Kinder müssen auf dem Schulweg begleitet werden, beispielsweise wenn sie häufig epileptische Anfälle haben. In diesen Fällen übernehmen wir natürlich auch die Fahrtkosten für die Begleitperson“, erläutert Gisela Schumm.

All dies gewährleistet, dass jeder Schüler eine Schulausbildung erhält, die auf seine persönliche Leistungsfähigkeit zugeschnitten ist. Das legt die Basis für ein selbstbestimmtes Leben.

dam