Göhkan Cimentag und sein Chef Sebastian Seitz haben gute Erfahrungen mit einem individuellen Training im Arbeitsalltag gemacht: Job Coaching vereint die Interessen des Arbeitgebers mit den Fähigkeiten des Mitarbeiters und setzt da an, wo Probleme beginnen.
FRANKFURT. „Sammeln Sie Payback-Punkte?“ Göhkan Cimentag lächelt die Kundin freundlich an, schaut ihr in die Augen und bedankt sich für das Kärtchen, das sie ihm reicht. Eine alltägliche Szene an der Kasse des Alnatura-Marktes im Frankfurter Nordend. Doch so selbstverständlich wie es scheint, ist es für Göhkan Cimentag nicht, dass er heute in weinrotem Poloshirt und grüner Schürze Waren im Bio-Supermarkt verkaufen kann.
Als Kind war er aufgrund einer Erbkrankheit auf den Rollstuhl angewiesen, lernte erst sehr spät laufen und besuchte die Förderschule. Der 24-Jährige ist froh und stolz darauf, einen Arbeitsplatz mit unbefristetem Vertrag gefunden zu haben. Den zu sichern, half Job Coach Stefan Frühling. Der frei berufliche Ergotherapeut mit eigener Praxis in Hanau übernimmt schon seit mehreren Jahren Aufträge des Integrationsamtes in Darmstadt zur Schulung von behinderten Menschen am Arbeitsplatz.
Mit Göhkan Cimentag hat Frühling unter anderem Kundengespräche trainiert, ein neues System zur Regalbestückung erarbeitet, er hat ihm die richtige Körperhaltung an der Kasse gezeigt und ihm für den Notfall, wenn er auf eine Kundenfrage gar keinen Rat mehr weiß, einen Standardsatz mit an die Hand gegeben: „Für diese Frage haben wir einen Experten. Einen Moment bitte, ich hole meinen Kollegen.“
Allzu oft muss sich Göhkan Cimentag nicht mehr dieser Floskel bedienen. Er ist selbstbewusst geworden und hat auch gelernt, mit Kritik umzugehen. Vor zwei Jahren begann er mit einem Praktikum im Rahmen der Maßnahme „Unterstützte Beschäftigung“ der Agentur für Arbeit bei Alnatura. „Wir sind wie eine Familie hier“, sagt er und macht deutlich, dass die positive Arbeitsatmosphäre im Team ihn besonders motiviert. Warum es dennoch nötig und sinnvoll war, einen Job Coach einzuschalten, erklärt Filialleiter Bastian Seitz: „Immer, wenn Göhkan nach dem Urlaub wieder zur Arbeit gekommen ist, hatte er viele Dinge wieder vergessen, die er eigentlich schon beherrscht hatte. Auch konnte er Kundenfragen nach Standorten von Produkten nicht beantworten - obwohl er die Regale selbst eingeräumt hatte.“
Chef und Kollegen waren ratlos. „Oft ist es so“, erklärt Stefan Frühling, „dass ein Vorgesetzter nicht vermitteln kann, was er von seinem Mitarbeiter wünscht oder nicht versteht, warum er bestimmte Aufträge nicht ausführen kann. Dann bin ich dafür da, das zu übernehmen.“ So genügte es dem Job Coach, seinem Klienten Göhkan Cimentag einen Tag lang bei der Arbeit mit geschultem Blick über die Schulter zu schauen und die Arbeitsabläufe zu analysieren. Schnell wurde ihm klar, warum Cimentag nicht wusste, in welchem Regal das Demeter-Mehl zu finden ist oder die Marmelade. Um die jeweilige Ware absolut korrekt in das richtige Regalfach einzuräumen, glich Cimentag die Nummer des Barcodes mit der Produktnummer auf dem Preisschild am Regal ab, ohne die Aufschrift auf der Packung zu lesen. Die Gestaltung der Verpackung – Glas, Dose oder Tetrapack – und die Bilder darauf lieferten eine grobe Orientierung. So sortierte er die Ware nicht nach Namen und Inhalt, sondern nach Produktnummern zu. Frühling musste nicht lange Überzeugungsarbeit leisten, Cimentag erkannte sofort die Vorteile des neuen Systems: Nun liest er die Aufschrift der Packung und kennt sich entsprechend besser im Sortiment aus.
„Wenn ich als Job Coach engagiert werde, bin ich ein Mitarbeiter auf Zeit“, erklärt Frühling seinen Ansatz. Er trägt die gleiche Arbeitskleidung und arbeitet mit. So lernt er die Arbeitsprozesse und Anforderungen an seinen Klienten kennen. „Ich muss mich nach den Bedürfnissen des Betriebes richten“, sagt Frühling, „und gleichzeitig die Möglichkeiten des Mitarbeiters im Blick behalten und dessen Grenzen erkennen.“ So ist Cimentag beispielsweise verantwortlich für die Verkostungstische. Er sorgt für Nachschub an Probierhäppchen und sollte eigentlich auch die Dekoration der Stände übernehmen. Davon riet der Job Coach ab. Auch der Wunsch des Filialleiters, der junge Mann möge so ordentlich schreiben lernen, dass er die Tafel im Laden mit aktuellen Tagesangeboten beschriften kann, erfüllte sich nicht. „Man muss sehen, dass der Zeitaufwand für ein Training in Relation zum Nutzen steht“, begründet der Jobtrainer die Entscheidung, diesen Wunsch auszuschlagen. Stattdessen übte er im Rollenspiel mit Cimentag das richtige Verhalten in Verkaufsgesprächen ein. Dazu gehörten die Frage nach der Payback-Karte, der Blick in die Augen, das freundliche Lächeln.
In anderen Punkten waren Frühling und Cimentag sehr erfolgreich. Göhkan Cimentag hatte an der Kasse das Problem, dass seine Hände bei der Eingabe auf dem Touchscreen zitterten. Eine Korrektur der Körperhaltung schaffte Abhilfe. Frühling: „Das habe ich ihm einmal gezeigt, er hat es sofort umsetzen können.“ Nicht jeder Klient befolgt die Tipps so mühelos. Doch Job Coaches sind darin geschult, je nach Lerntyp individuelle Lehrmethoden zu finden.
Auch das sehr spezielle Sortiment des Bio-Supermarktes stellte eine Herausforderung für Cimentag dar. Wörter wie Sojamilch und Bärlauch-Pesto - unverzichtbare Bestandteile des Wortschatzes im Bio- Handel – kamen ihm nicht immer klar und deutlich über die Lippen. Die Aussprache bereitete ihm Schwierigkeiten, denn er lebt bei seinen Eltern und spricht Zuhause nur türkisch. Jetzt nimmt er regelmäßig Logopädiestunden und schaut mehr deutschsprachige Fernsehprogramme. Sein Chef unterstützt ihn mit kleinen Aufgaben: „Morgens frage ich Göhkan immer, was in den Nachrichten am Vorabend gelaufen ist“, erzählt Seitz.
Stefan Frühling hat eine Zusatzausbildung als Job Coach für behindete Menschen in Münster absolviert. Er kennt sich mit Krankheitsbildern aus und aufgrund seiner ergotherapeutischen Ausbildung weiß er, wie er seinen Klienten mit teils einfachen Mitteln helfen kann. Auch in Fragen der Gestaltung des Arbeitsplatzes kann der Job Coach dem Arbeitgeber Hinweise geben. Zum Beispiel wäre für die Bestückung der Regale eine kleine Hubmaschine von Nutzen.
Ein einfacheres Hilfsmittel ist dagegen das kleine schwarze Notizbuch, das Göhkan Cimentag immer mit sich führt. Hierin hat er sein ganz individuelles „Regelwerk“ notiert. Gerade nach dem Urlaub hilft es ihm dabei, wieder die gewohnten Arbeitsschritte auszuführen, ob beim Einräumen der Regale oder an der Bäckertheke. Sein Chef Bastian Seitz ist mit dem Erfolg des Job Coachings sehr zufrieden und Göhkan Cimentag fällt die Arbeit nun leichter. Stefan Frühling hat damit sein Ziel erreicht: „Wir haben gemeinsam eine Win-win-Situation geschaffen, in der alle Beteiligten profitiert haben.“
Katja Gußmann
Wenn Probleme am Arbeitsplatz entstehen, gibt es eine Reihe von Unterstützungsmöglichkeiten, die das LWV Hessen Integrationsamt anbieten kann. Eine Möglichkeit ist, einen Job Coach einzusetzen. Anlass können zum Beispiel behinderungsbedingte Leistungs- und Kommunikationsprobleme sein, die Einführung neuer Technologien oder wenn jemand den Einsatzort wechselt. Ziel ist immer der Erhalt des Arbeitsplatzes.
Der Job Coach schult den Beschäftigten individuell an seinem Arbeitsplatz, damit dieser die Anforderungen erfüllt. Voraussetzung ist ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis. Für das Job Coaching kann das Integrationsamt bei schwerbehinderten Beschäftigten die Kosten aus Mitteln der Ausgleichsabgabe übernehmen. In der Regel werden zunächst 40 Stunden bewilligt. Bei Bedarf können später Stunden zur Wiederauffrischung folgen.
Wenn der Arbeitgeber oder der Arbeitnehmer selbst ein Job Coaching beantragen, stellen Mitarbeiter des Integrationsamtes zunächst das Anforderungsprofil fest. Dabei unterscheidet man drei Aufgabenfelder: Kommunikation, die Tätigkeit selbst und Anpassung des Arbeitsumfeldes. Für Hessen stehen schätzungsweise 30 Job Coaches mit unterschiedlichen Schwerpunkten zur Verfügung. Sie kommen in allen Berufsfeldern zum Einsatz. In Einzelfällen zieht das Integrationsamt auch Spezialisten hinzu, wenn berufsspezifische Fachkenntnisse vermittelt werden sollen.
kg