Die Personenzentrierte Steuerung der Eingliederungshilfe in Hessen (PerSEH) soll schrittweise ausgeweitet werden. Charlene Toles, Peter Oslizlo und Alexander Socher aus Fulda haben bereits Erfahrungen damit sammeln können.
FULDA „Ja, dann stelle ich mich mal vor. Ich heiße Charlene Toles, bin 21 und lebe mit meiner Mutter und unserem Hund in Horas. Meine Hobbys sind lesen und Gassi gehen.“ Die junge Frau lächelt verbindlich und schaut mich unverwandt an. Ein bisschen verzögert spricht sie manchmal. Das wirkt so, als wähle sie ihre Worte mit Bedacht.
Auftritte wie diese sind ihre Stärke und zugleich ihr Problem. Denn sie führen dazu, dass andere Charlene Toles überschätzen. Noch ist sie schnell zu verunsichern. Wenn zu viele Anforderungen gleichzeitig auf sie einstürmen, wenn ihr der Rückhalt bei Kolleginnen fehlt oder wenn der Zeitdruck zu groß wird: An vier Tagen pro Woche arbeitet sie im Drogeriemarkt, auf einem Betriebsintegrierten Beschäftigungsplatz, jeden Freitag kehrt sie in die vertraute Umgebung in der Werkstatt für behinderte Menschen zurück. Dieser Rückhalt ist ihr wichtig, und so hat sie es auch in der Hilfeplankonferenz erklärt. „Da kann ich dem LWV sagen, wie das mit der Arbeit ist“, sagt sie. Ganz offensichtlich hat sie das Gefühl, dass man ihr dort zuhört, ihre Anliegen ernst genommen werden.
Charlene Tholes ist eine von jenen Mitarbeiterinnen der Caritas-Werkstatt, die die Konferenz gern für sich nutzen. Die Zuständigen vom LWV, Vertreter der Behinderten-Einrichtungen der Region sitzen dabei an einem Tisch und beraten, wie Unterstützungsangebote für Einzelne organisiert werden können. Die Betroffenen selbst sind – sofern sie das möchten – dabei und können sich zu Wort melden. „Nicht für alle ist das der richtige Rahmen“, sagt Barbara Oerder vom LWV. „Manchmal ist eine kleine Runde mit jemandem vom LWV und Vertrauenspersonen, die die Betroffenen selbst bestimmen, besser. Wichtig ist uns, dass ihre Interessen im Mittelpunkt stehen.“
Charlene Toles zeigt jetzt Fotos von ihrer Arbeit im Drogeriemarkt. Schon seit September 2013 füllt sie dort Regale auf, bestückt und gestaltet „Gondeln“ („Die stehen am Ende der Regale. Da muss ich Aktionsware schön präsentieren“). Das ist nicht immer einfach, die Kolleginnen wechseln oft, alles soll möglichst schnell gehen und neulich hat eine Kollegin gesagt: „Behinderte hatten wir hier noch nie!“ Das war nicht abfällig gemeint. Sie war nur ratlos angesichts der Frage, wie viel Urlaub der jungen Frau zusteht. Charlene Toles war dennoch tief gekränkt. Gut, dass sie am nächsten Tag in der Werkstatt gearbeitet hat und alles mit Anja Heil vom Sozialen Dienst besprechen konnte.
Individuelle Lösungen, personenzentrierte Angebote – das ist das Ziel der „Personenzentrierten Steuerung der Eingliederungshilfe in Hessen“, kurz PerSEH. Seit 2009 sind eine neue Vergütungsform, Hilfeplankonferenzen und der Integrierte Teilhabeplan (ITP) zur Bedarfsermittlung Alltag im Landkreis Fulda. Im ITP werden unter anderem Ziele benannt und auch, wie sie erreicht werden sollen. In regelmäßigen Abständen, spätestens nach einem Jahr, folgt darauf eine kritische Bilanz. Manche der Bewohner und Werkstatt-Mitarbeiter freuen sich auf das regelmäßige Gespräch mit den Betreuern, berichten diese. „Wann haben wir wieder Ziele und Wünsche?“, fragen sie.
Peter Oslizlo hat viele Wünsche. Allein zu leben, steht ganz oben auf der Liste seiner Lebensträume. Doch der 27-Jährige, der im Rollstuhl sitzt, weiß, dass das kaum realistisch ist. „Das fängt ja mit dem Duschen morgens und dem ganzen Kram schon an“, sagt er selbst skeptisch. „Das kann ich nicht allein.“ Vor allem aber ist er alles andere als ein Einzelgänger. Er genießt den Kontakt zu Mitbewohnern und Betreuern.
Andere Ziele sind da leichter zu erreichen. Von einem Doppelzimmer ist er vor ein paar Jahren in ein Einzelzimmer gezogen. Ein Praktikum wollte er in der Werkstatt im benachbarten Antoniusheim machen. „Das habe ich dann in der Hilfeplankonferenz gesagt.“ Und dann hat es geklappt.
„Ich finde die neue Sache viel schöner, damit der LWV überhaupt weiß, was der Bewohner will“, sagt Peter Oslizlo. Das gilt auch für die Arbeit in der Caritas- Werkstatt. Er arbeitet in der Verpackung, aber besonders liebt er es, Botengänge innerhalb der Werkstatt zu übernehmen. Wann immer es interne Post gibt und es in die Arbeitsabläufe hineinpasst, ist er nun mit seinem Spezial-Rollator unterwegs.
Selbst Ziele, die einen größeren organisatorischen Aufwand bedeuten, konnte er mit der Unterstützung seines Vaters und der Einrichtung schon für sich verwirklichen. „Vor einiger Zeit hatte ich eine Freundin in Tann. Da bin ich regelmäßig hingefahren.“ Auch über Nacht konnte er bleiben. „Alle waren bereit, unbürokratische Lösungen zu finden“, sagt Thomas Vogel, stellvertretender Leiter der Wohnheime. Sei es in der Frage, wie das Essen verrechnet wird, das Peter Oslizlo in Tann bekam, oder bei der Organisation der Fahrten dorthin.
Insgesamt ist der Austausch zwischen den unterschiedlichen Trägern und Einrichtungen durch die regelmäßigen gemeinsamen Hilfeplankonferenzen besser geworden. „In unserem Wohnheim hatten einige Interesse an Tischtennis. Sie gehen jetzt regelmäßig rüber ins Antoniusheim“, schildert Vogel. „Dafür kommen Bewohner von dort in unsere Gesprächsgruppe.“ Solche Kooperationen habe es früher auch schon gegeben, ergänzt er, aber der Kontakt sei intensiver geworden. Auch sei der Austausch zwischen den Betreuern im Wohnen und denen in der Werkstatt enger, seit es mit dem ITP nur noch einen Hilfeplan gebe, ergänzt Anja Heil.
PerSEH hat noch einen weiteren Vorteil: Der Übergang von einer Unterstützungsform in die andere ist leichter geworden. „Früher war der Wechsel unserer Bewohner vom Heim zu einer ambulanten Betreuung nur möglich, wenn sie auch zu einem anderen Träger wechselten“, erklärt Edgar Erb, Leiter der Wohnangebote der Caritas für seelisch behinderte Menschen. „Das bedeutete auch, dass die Betreuungsperson wechselte. Das ist jetzt nicht mehr nötig.“ Davon profitiert Alexander Socher, der einst wegen Körperverletzung, die er unter dem Einfluss von Drogen begangen hat, in der forensischen Klinik war. Seit 14 Jahren ist er drogenfrei. Heute arbeitet er ganztags in der Werkstatt Carisma in Küche und Wäschepflege. Er hat inzwischen keine Bewährungsaufsicht und keine gesetzliche Betreuung mehr. Doch die psychosoziale Betreuung von Harald Erb ist eine Konstante in seinem Leben. Für fünf Stunden pro Woche kommt der Sozialarbeiter in seine Wohnung. „Das hat mir alles total geholfen“, sagt Socher. „Sonst wäre ich nicht da, wo ich heute bin.“
Auch wenn das ambulant betreute Wohnen für Peter Oslizlo bislang noch keine wirkliche Alternative ist, durch PerSEH hat er ein neues Ehrenamt gewonnen, das sein Selbstbewusstsein stärkt. Da die Fachhochschule Fulda das Projekt anfangs fachlich betreut hat, insbesondere die Entwicklung des ITP, entstand ein Kontakt zu Forschern, die verständliche Antragsformulare für geistig behinderte Menschen entwickeln. Peter arbeitet seit einiger Zeit dort mit. Er zeigt mir einen ersten Entwurf: Statt Text gibt es dort Symbole, damit Menschen wie er, die nicht lesen können, damit zurechtkommen.
Und Charlene Toles ist froh, dass ihr der Freitag in der Werkstatt geblieben ist. Um schneller zu werden beim Bestücken der „Gondeln“ und Regale, übt sie heute, Paletten nach Plan zu bepacken. Auch im Drogeriemarkt bekommt sie solche Setzpläne, bei denen die einzelnen Konfektionen nur umrisshaft erscheinen. Das erfordert Abstraktionsvermögen. Doch mit Hilfe von Anja Heil hat sie schon viele solcher Entwicklungsschritte geschafft. Nach drei Praktika hat sie nun den Betriebsintegrierten Beschäftigungsplatz. Kundenfragen, die sie früher manchmal noch aus der Fassung brachten, beantwortet sie längst souverän.
Elke Bockhorst
Interview mit Barbara Oerder,
die das Projekt seit 2008 federführend für den LWV begleitet
Die Abgeordneten der LWV-Verbandsversammlung haben im Dezember beschlossen, die Personenzentrierte Steuerung der Eingliederungshilfe in Hessen (PerSEH) mittelfristig auf das ganze Bundesland auszudehnen. Der genaue Zeitpunkt ist noch offen, angestrebt ist eine Frist von zwei Jahren.
Seit 2008 wird PerSEH in Hessen erprobt. Zunächst in Wiesbaden, später kamen Landkreis Fulda und der Werra- Meißner-Kreis dazu. Was ist nötig, bevor PerSEH in allen Landkreisen eingeführt werden kann?
Zunächst muss ein Konzept entwickelt werden, wie die Umstellung vor Ort geschieht. Zum Beispiel bei der Vergütung: Die bisherigen fünf Leistungsgruppen (nach Metzler) müssen auf sieben Leistungsgruppen plus zwei Gruppen mit besonders kleinem und besonders großem Unterstützungsbedarf übertragen werden. Als wir PerSEH in den Pilotregionen und mit einigen wenigen Trägern eingeführt haben, wurden mit allen Leistungsberechtigten zu einem bestimmten Stichtag die neuen Integrierten Teilhabepläne, kurz ITP, erstellt. Bei einer hessenweiten Umstellung ist das nicht zu leisten. Also muss man ein Verfahren entwickeln, wie man die bisherigen Leistungsstufen in das neue System überträgt.
Daneben wird es eine Vielzahl von Schulungen und Informationsveranstaltungen geben, für Leistungserbringer und deren Mitarbeiter vor Ort, aber auch für Kolleginnen und Kollegen beim LWV. Und außerdem müssen für all diese Veränderungen auch die entsprechenden EDV-Unterstützungs-Systeme angepasst werden. All diese Schritte gehen wir gemeinsam mit den Partnern der hessischen Vertragskommission.
Bleibt PerSEH denn so, wie bislang in den Pilotregionen eingeführt?
Einzelne Elemente sollen verbessert werden. Unter anderem wird der Integrierte Teilhabeplan noch einmal überarbeitet. Er soll übersichtlicher gestaltet und an einigen Stellen eindeutiger werden. So soll Seite 3 des ITP, die auf der ICF, der International Classification of Functioning, Disability and Health, basiert, verbessert werden. Derzeit gibt es dort sehr viele Einzelabfragen. Künftig wollen wir uns noch deutlicher auf die Rahmenbedingungen für die Teilhabe konzentrieren: auf Barrieren, Ressourcen, Förderfaktoren. Daneben soll es transparenter werden, wie man vom geschätzten Zeitbedarf zur Leistungsgruppe kommt.
Zurzeit wird viel über die Hilfeplankonferenzen geredet. Wie geht es damit weiter?
Wichtig ist, dass die Betroffenen möglichst weitgehend einbezogen sind und selbst über ihr Leben bestimmen. Dazu gehört auch, dass sie selbst nicht nur bei dem Gespräch zum ITP ihre Wünsche und Ziele äußern, sondern auch in weiter notwendige Beratungen über die Art und Weise der Unterstützung einbezogen sind. Welche Rolle die Hilfeplankonferenz dabei hat, darüber sind wir gerade intensiv im Gespräch mit allen Beteiligten. Unser Ziel: Die positiven Aspekte der Hilfeplankonferenz sollen erhalten bleiben, überflüssige Bürokratie in der Hilfeplanung soll abgebaut werden.
Was bringt PerSEH für die Menschen?
Es soll künftig möglich sein, Ideen mit ihnen gemeinsam zu entwickeln, wie ihre Unterstützung organisiert werden könnte, BEVOR sie sich festlegen oder festgelegt werden – auf einen Wohnheimplatz, auf Betreutes Wohnen oder die Werkstatt. Sie sollen sich nicht entscheiden müssen zwischen zwei fertigen Angeboten. Sie sollen mit uns gemeinsam überlegen können, welche Möglichkeiten der Teilhabe es in der Umgebung gibt, auch in Vereinen, Selbsthilfegruppen oder Volkshochschulkursen. Und die Erfahrung machen, vieles in ihrem Leben selbst entscheiden und bewegen zu können.
Da kommt dann die Idee von PerSEH mit dem Ziel der Inklusion zusammen.
Die Vision ist: Wie beim Persönlichen Budget sollen behinderte Menschen als Bürger an allem teilhaben können, soweit nötig mit professioneller Unterstützung. Der Psychiater Professor Dr. Klaus Dörner hat gesagt „ … solange ich von Profis umzingelt bin – stationär oder ambulant –, bin ich noch nicht integriert und insofern können nur Bürger im Alltagsvollzug andere Bürger integrieren, nicht aber Profis.“
Andere gesellschaftliche Bedingungen werden durch PerSEH natürlich nicht geschaffen. Aber nach und nach können sich individuellere Möglichkeiten ergeben, wo und wie es Unterstützung geben kann.
Das Interview führte Elke Bockhorst