Martin Lorenz ist gehörlos und ein erfolgreicher Elektrotechniker. Rund zwanzig Jahre hat er als technischer Zeichner gearbeitet. Als diese Arbeit im Unternehmen nicht mehr gefragt war, sattelte er eine zweijährige Fortbildung drauf – unterstützt von seinem Arbeitgeber und dem LWV Hessen Integrationsamt.
FRANKFURT. Licht an, Licht aus. Wenn Kurt Weber das Büro seines Kollegen Martin Lorenz betritt, geht seine Hand als erstes zum Lichtschalter. Das ist wie Anklopfen. Martin Lorenz schaut vom Computer auf, die Blicke der beiden Männer treffen sich, ein Nicken, ein Gruß, ein Händedruck – und auch ein freundliches Wort von Weber, das Martin Lorenz am Lippenbild erkennt. Ein Hörgerät lässt ein wenig Schall zu dem Elektrotechniker vordringen, doch zum differenzierten Verständnis reicht es nicht. In seiner Welt spielen Töne eine Nebenrolle.
Einige Gesten weiter ist ihm klar, dass das Treffen mit dem Schwerbehindertenvertreter Kurt Weber im Konferenzraum der Actemium Cegelec GmbH fortgesetzt wird. „Manchmal“, erzählt Weber auf dem Weg dorthin durch die langen Flure, „sehe ich Martin von hinten im Gang und rufe ihn, dann fällt mir ein – er kann mich ja gar nicht hören. Dann stampfe ich einmal mit dem Fuß auf – und er dreht sich zu mir um.“
Dass Martin Lorenz noch bei Actemium Cegelec arbeitet, daran haben Kurt Weber und das LWV Hessen Integrationsamt einen wichtigen Anteil. 28 Jahre war der technische Zeichner bei der Firma. Ein guter, bewährter Mitarbeiter. Doch als das Unternehmen im Herbst 2010 umstrukturiert wurde, drohte ihm die Arbeitslosigkeit. Computer sollten fortan die Zeichner ersetzen. „Zwar fand sich recht schnell eine geeignete zweijährige Fortbildung an der privaten Fachschule Heidelberg zum staatlich geprüften Elektrotechniker“, sagte Silke Kleinediekmann, in der LWV-Regionalverwaltung Wiesbaden zuständig für hörbehinderte Menschen. Doch die Agentur für Arbeit lehnte die Finanzierung ab. Begründung: Martin Lorenz benötige keine behinderungsbedingte Weiterqualifizierung, da er ja weiterhin als technischer Zeichner arbeiten könne.
Daraufhin hat der LWV die Kosten der monatlich 2.600 Euro teuren Qualifikation übernommen, zumal sich inzwischen der Arbeitgeber bereit erklärt hatte, Lorenz während der Fortbildungsmaßnahme das Gehalt weiter zu zahlen. „Wir konnten diese Maßnahme finanzieren, da sie der Erweiterung seiner beruflichen Fähigkeiten und damit der Sicherung des Arbeitsplatzes diente“, erläutert LWV-Sachbearbeiter Werner Scheuerling. „Für Martin Lorenz war sie zudem mit einem beruflichen Aufstieg verbunden.“
Die neue Lebenssituation war zunächst eine besondere Herausforderung: „Ich hatte das Gefühl, noch mal zur Schule zu gehen.“ Doch er macht auch gute Erfahrungen. „Wir waren nur zu acht im Kurs, eine gute Gruppe, in der sich alle gegenseitig unterstützt haben.“ Lorenz merkt schnell, dass er gut mithalten kann. Ist einmal kein Gebärdendolmetscher dabei, werden Mitschriften der Vorlesungen für ihn angefertigt. Als Abschlussarbeit entwirft er ein Modell einer Tankfüllstandsanzeige – und bekommt auf die Präsentation eine glatte Eins. Lorenz hat zwei erwachsene Töchter, eine hörend, eine nichthörend. „Sie sind beide sehr stolz auf mich“, sagt er mit zufriedenem Lächeln.
Während der 48-Jährige mit den Händen erzählt, übersetzt Roswitha Wagner. Hochkonzentriert und doch entspannt sehen sich die beiden zu, die Antworten gebärden sie rasend schnell. Martin Lorenz erzählt von seiner Kindheit in Gesten, die eine Lebendigkeit vermitteln, wie es Worte nicht besser können. In dieser Situation kann man ansatzweise nachempfinden, wie sich Nichthörende in der Welt der Hörenden fühlen müssen: ausgeschlossen von der Kommunikation.
So empfinden in Deutschland rund 80.000 gehörlose Menschen. Bei circa 15 Prozent von ihnen ist die Gehörlosigkeit erblich bedingt. Im Idealfall lernen sie von klein auf die Gebärdensprache, ihr Verständigungsmittel. Auch für Martin Lorenz ist sie seine natürliche Ausdrucksform, in der Familie wie unter Freunden. „In unserer Welt der Nichthörenden sind wir normal, der Hörende ist seltsam“, sagt er lächelnd.
So selbstverständlich, wie er sich der Gebärdensprache bedient, erzählt er seinen Werdegang, der exemplarisch ist für viele Gehörlose seiner Generation. „Ich kann schließlich nicht die ganze Zeit trauern. Man muss das annehmen, wie es ist“, sagt er. Er kam gehörlos zur Welt, genauso wie seine drei Brüder und seine Eltern. Nur sehr laute, plötzliche Geräusche kann er mit seinem Hörgerät wahrnehmen, wie ein über das Haus donnerndes Flugzeug oder einen Stuhl, der umfällt. Er bemerkt auch, wenn gesprochen wird, aber nicht, was. Als Kind besucht er eine Schule für Hörbehinderte in Friedberg, macht seinen Realschulabschluss, entscheidet sich für den Beruf des technischen Zeichners und absolviert seine Ausbildung bei der Firma in Seligenstadt, die damals noch AEG Telefunken heißt und später Teile ausgliedert, die in der Cegelec GmbH aufgehen. Zu diesem Zeitpunkt ahnt niemand, dass Computer den Beruf des technischen Zeichners zwei Jahrzehnte später zunehmend überflüssig machen werden. Der Mann, der einen kleinen Ohrring trägt und in seiner Freizeit am liebsten Badminton oder Volleyball im Gehörlosensportverein spielt, ist froh, dass er in seinem Berufsleben noch mal einen neuen Anlauf nehmen konnte. Mit Aufgaben, die interessant sind.
Sein Kollege Kurt Heintz am Schreibtisch gegenüber unterstützt ihn, wenn nötig. Er beherrscht die Regeln, die hörende Menschen befolgen sollten, um ihrem nichthörenden oder schwerhörigen Mitmenschen die Kommunikation zu erleichtern: Blickkontakt halten, klar, deutlich und nicht zu schnell in kurzen Sätzen sprechen, sich nicht mit dem Rücken zur Lichtquelle platzieren, damit das Lippenbildlesen ohne Gegenlicht leichter fällt. „Wenn’s gar nicht anders geht, dann schreiben wir uns Zettel“, erklärt Heintz seinen Weg der Kommunikation. Den personellen Mehraufwand zur persönlichen Unterstützung gleicht das Integrationsamt dem Arbeitgeber aus. Für die Momente, wenn besonders wichtige Termine im Job anstehen, wie beispielsweise Mitarbeiterversammlungen, Teambesprechungen oder eine Präsentation vor dem Kunden, bewilligt das Integrationsamt ebenfalls Zuschüsse – für einen Gebärdendolmetscher.
Wenn Martin Lorenz zurück in sein Büro geht, setzt er sich an den Computer und arbeitet weiter an seinem derzeitigen Auftrag für einen großen deutschen Autobauer: die Visualisierung der technischen Prozesse einer Lackierstraße.
Konzentriert bedient er die Tastatur. In der Schreibtischschublade liegt sein Brot für die Mittagspause. Die verbringt er noch immer am liebsten allein – im Gegensatz zu den meisten seiner hörenden Kollegen, kann er sich beim Gruppengespräch in der Kantine nicht erholen. Das macht er lieber in seiner Welt.
Katja Gußmann
HINTERGRUND
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Interview mit Dr. Roland Zeh, Chefarzt der Fachklinik für Hörstörungen, Tinnitus, Schwindel und Cochlea-Implantate an der Median Kaiserberg-Klinik in Bad Nauheim
Herr Dr. Zeh, Sie sind mit sieben Jahren in Folge einer Hirnhautentzündung ertaubt. Wie sind Sie damit zurechtgekommen?
Sieben Jahre ist ein gutes Alter zum Ertauben. Das meine ich ganz ernst: Die Sprachentwicklung ist abgeschlossen, aber die Pubertät und Identitätsfindung steht noch bevor. So konnte ich die Schwerhörigkeit in mein Selbstbild integrieren und als Bestandteil meiner Persönlichkeit akzeptieren. Denn das Hauptproblem für viele Schwerhörige, gerade die nach der Pubertät Spätertaubten – und hier reden wir von fast 95 Prozent aller Betroffenen – ist doch die Akzeptanz dieser Behinderung. Im Übrigen muss man ganz klar die Gruppe der Gehörlosen von den Schwerhörigen unterscheiden. Gehörlose haben untereinander aufgrund der Gebärdensprache eine ganz eigene Kultur. Das gilt für später im Leben ertaubte Menschen nicht, die in der Regel auch nicht mehr die Gebärdensprache erlernen.
Für Hörende ist es fast unvorstellbar, dass Sie Medizin studieren konnten und heute als Arzt arbeiten. Hatten Sie nie Probleme?
Doch, natürlich. Gerade im Studium an der Uni in Freiburg gab es einen Professor, der es mir nicht leicht gemacht hat. Er weigerte sich zunächst in einer Vorlesung, das Mikrofon meiner FM-Anlage, die seine Stimme direkt auf mein Hörgerät übertrug, zu benutzen. Später stellte er mir den für die Prüfungszulassung benötigten Schein nicht aus – weil es mir als Schwerhörigem nicht möglich sei, Patienten abzuhören…
…ein berechtigter Einwand, oder?
Ja, richtig. Aber mit einem Medizinstudium hätte ich ja auch in die Forschung gehen können und niemals einen Patienten abhören müssen. Ich habe geklagt und schließlich auch gewonnen, so dass ich mein Studium abschließen konnte. Im Nachhinein betrachtet hat mich das Erlebnis gestärkt, hat mir gezeigt, man darf nie aufgeben.
Wie hat Ihre Hörbehinderung ihre Tätigkeit als Arzt beeinflusst?
Während des Studiums habe ich Praktika in einer mittelgroßen Klinik gemacht. Da habe ich gesehen, dass mich dieser Alltag restlos überfordern würde: Telefonate, Patienten abhören, Tätigkeiten mit Mundschutz, all das war nicht möglich. Auch wenn Kollegen und Pflegepersonal mir Aufgaben abgenommen haben, die ich wegen meiner Hörbehinderung nicht selbst machen konnte – ich wollte nicht dauerhaft in einer solchen Abhängigkeit arbeiten. Auch ein Ausflug in die Forschung im Rahmen meiner Doktorarbeit hat mir schnell gezeigt, dass Teamarbeit mit vielen Gesprächen auf Englisch für mich schwer zu bewältigen ist. Als ich später das Angebot bekam, in Bad Berleburg eine Rehaklinik für Hörgeschädigte aufzubauen, habe ich sofort gewusst: Das ist die Chance, aus meinem Handicap einen Vorteil zu machen.
Sie sind jetzt 54 Jahre alt und tragen seit rund zehn Jahren Cochlea-Implantate. Wie hat das Ihr Leben verändert?
Ohne die Implantate könnte ich meinen Beruf so nicht ausüben, denn ich bin über die Jahre komplett ertaubt. Mit Implantaten kann ich Zweiergespräche problemlos führen und das ist wichtig im Umgang mit den Patienten. Ich habe auch noch andere Hilfsmittel, zum Beispiel ist mein Büro mit einer Schallschutzdecke ausgestattet. Zudem kann ich Sprache vom Mund absehen.
Wie erleben Sie Patienten, die bei Ihnen Rat suchen?
Da ich selbst Betroffener bin, habe ich für meine Patienten eine hohe Glaubwürdigkeit, ich kann ihre Nöte und Sorgen gut verstehen. Ich bin auch davon überzeugt, dass man zunächst auf der psychischen Ebene mit seiner Behinderung klar kommen muss und sein Leben nach der Behinderung ausrichten sollte und nicht immer von den Hörenden erwarten darf, dass sie Rücksicht nehmen.
Das Interview führte Katja Gußmann.