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Lebensfreude zurückgewonnen

Lebensfreude zurückgewonnen

Bunte Wände statt weiße Zimmer, individuelle Tagesabläufe statt feste Bade- und Essenszeiten: Das Leben der Menschen in den Heilpädagogischen Einrichtungen hat sich seit 1989 stetig verbessert. Wir stellen Wolfgang Schmieden und zwei seiner Mitbewohner vor. Mitarbeiterinnen erinnern sich im Interview an die Psychiatriereform und ihre Folgen.


RIEDSTADT. Wolfgang Schmieden ist ein kleiner, zierlicher Mann. Er trägt einen Kopfschutz, weil er manchmal fällt. Sein Gang ist unsicher, er ist körperlich und geistig behindert. Sein Lachen aber ist ansteckend und seine Bilder sind intensiv: In warme Gelb- und Orangetöne mischt sich ein tiefes leuchtendes Blau. Er, der Maler, steht davor, mitten in seinem Zimmer, und stößt freudige Laute aus. Offenbar genießt er die Aufmerksamkeit des Fotografen, der gerade Aufnahmen von ihm und den Bildern macht.

Mit vierzig hat Wolfgang Schmieden die Malerei für sich entdeckt. In der damals noch jungen Tagesförderstätte der Heilpädagogischen Einrichtung (HPE) war er einer der Ersten, die das Kreativangebot nutzten. Heute gibt er sich jeden Montag Pinsel und Farbe hin. Genauso regelmäßig stellt er seine Bilder bei der Ausstellung BehindART in Darmstadt aus. „Es ist erstaunlich, wie viel Lebensfreude sich Wolfgang Schmieden erhalten hat“, sagt Sozialpädagogin Ruth Liebald, die die Malgruppe anfangs leitete. Denn seine Lebensgeschichte ist beinahe tragisch. Erst mit der Gründung der HPE Riedstadt vor 25 Jahren verbesserte sich seine Lebenssituation und die seiner Mitbewohnerinnen und Mitbewohner.

Als Zweieinhalbjähriger kommt Wolfgang Schmieden ins Psychiatrische Krankenhaus. Der behinderte Junge lebt bis dahin bei seiner Tante und droht zu verwahrlosen. Er kann noch nicht sprechen. Aber er ist – so steht es in den Berichten – anfangs „recht lebhaft“. Mit drei Jahren beginnt er endlich zu sprechen und zu laufen. Doch wenig später gehen diese kleinen Fortschritte schon wieder verloren. Wolfgang Schmieden leidet zunehmend unter der Hospitalisierung. Individuell gefördert wird er nicht. Mit 14 wird er in der Krankenakte als „dauernd anstaltspflegebedürftig“ bezeichnet.

Der heute 60-Jährige ist ein Beispiel dafür, wie notwendig der Prozess war, der geistig behinderten Menschen 1989 den Weg von den Stationen der Psychiatrischen Krankenhäuser in die Heilpädagogischen Einrichtungen ebnete. „Hier standen erstmals pädagogische Fragen im Mittelpunkt“, sagt Barbara Deubener, die den Wechsel als Therapeutin miterlebt hat. „Zuvor waren es ausschließlich medizinische Überlegungen.“ Jetzt ging es um Förderung, zuvor nur um die medizinische Versorgung.

Wolfgang Schmieden ist kein Einzelfall. Auch Helmut Kröck war verstört durch die lange Zeit im Krankenhaus. Als er in die neugegründete HPE kam, war er 51 und beinahe gefürchtet: Pfleger und Therapeuten bekamen manchmal unvermittelt eine Backpfeife. Bis heute wird er panisch, wenn sich in seinem Umfeld etwas ändert. Angst machen ihm auch Polizisten: Uniformierte hatten ihn als Kind aus der Wohnung der Eltern geholt, weil auch er verwahrlost war. Seine Aggressionen aber hat er inzwischen verloren. Er liebt sein Zimmer in der Wohngruppe und er macht sich gern nützlich: In einem Rollkoffer, der schon aufgrund seiner Größe wichtig aussieht, transportiert er regelmäßig die Dienstpost von Leiter Alexander Kurz-Fehrlé auf dem Gelände hin und her.

ZUFRIEDEN MIT EINER AUFGABE

„Diesen Assistenten-Dienst haben wir für ihn geschaffen“, sagt Kurz-Fehrlé lächelnd. „Es macht ihn zufrieden, eine Aufgabe zu haben.“ Nach den Botengängen sitzt er gern in seinem Zimmer und schaut Atlanten an. Er genießt es, ferne Länder auf der Karte zu betrachten, auch Fotobände interessieren ihn sehr. Wenn man ihm dabei zuschaut, spürt man, dass er sich heimisch fühlt in seinem Zimmer mit dem Schreibtisch und den dicken Büchern. Daneben liebt er Ausflüge nach Frankfurt. „Wenn wir losfahren, macht er erstmal die Augen zu. Die Reise ist ein bisschen bedrohlich. Aber in Frankfurt, der Stadt seiner Kindheit, blüht er auf und erklärt mir, wo alles ist: Die Hauptwache, der Frankfurter Hof …“, beschreibt der Leiter der HPE. Auch am Grab der Eltern war er schon mit Helmut Kröck. Dass ihren individuellen Bedürfnissen Rechnung getragen wird, lässt die Bewohner und Bewohnerinnen ausgeglichener werden. Auch die ganz normalen Tagesabläufe spielen dabei eine wichtige Rolle. Hans Pforr fährt regelmäßig dreimal pro Woche zur Dialyse. Und obwohl die Behandlung, bei dem ihm jedes Mal wieder mit großen Nadeln in den Arm gestochen wird und er stundenlang einfach ruhig sitzen muss, sicher alles andere als angenehm ist, akzeptiert er diese Bürde geduldig. Lächelnd erzählt er, dass er immer mit dem Nachbarn aus einem der nächstgelegenen Wohnhäuser im Taxi in die Ambulanz fährt. Als es Zeit ist zu gehen, nimmt er eine kleine Herrenhandtasche und macht sich unverdrossen auf den Weg zum Fahrstuhl, um unten in das wartende Taxi zu steigen. Pforr ist heute 78. Früher hat er bei Opel an einer großen Presse Stoßstangen gefertigt. 15 Jahre lang. „Bin auf den Flughafen gefahren als junger Mann mit dem Fahrrad“, erinnert er sich. Er lebte bei der Mutter. „Aber leider, die habe ich nicht mehr“, erklärt er. Schon zuvor war er zeitweise im Philippshospital gewesen. Als seine Mutter starb, kam er ganz dorthin. Dann hat er als Gärtner auf dem Gelände gearbeitet, war den ganzen Tag im Park. Jetzt ist er im Ruhestand.

„DA TUE ICH SCHÖN WOHNEN“

Das Leben in der HPE genießt er. „Da tue ich schön wohnen“, sagt er und lächelt. Er lebt wie Wolfgang Schmieden inzwischen in der Wohnstätte Erfelden inmitten einer schönen Wohnsiedlung. Der Wechsel dorthin war nicht ganz einfach. Auch er hasst Veränderung. Als er das erste Mal vom Klinikgelände in eine andere Wohnstätte zog, hat er dort im Keller ein Feuer gelegt. Da kam er wieder zurück. Aber nach Erfelden ist er schließlich gern gegangen. Denn einer der vertrauten Mitarbeiter ging mit.

Mit einigen seiner Mitbewohner ist er sogar schon mal nach Mallorca geflogen. Denn einer von ihnen, ein Rollstuhlfahrer, hatte den dringenden Wunsch, seine Füße einmal ins Meer zu tauchen. Nicht ganz einfach, diese Reise zu planen und durchzusetzen. Aber es ist gelungen. Und auch der Flugkapitän des Ferienfliegers spielte mit. Der hatte anfangs skeptisch reagiert, aber dann sein Plazet gegeben.

Was für Pforr diese Reise bedeutete, das ist für seinen Mitbewohner Wolfgang Schmieden die Malerei. Der sitzt jetzt am großen Tisch im lichtdurchfluteten Atelier Querstrich. Vor ihm liegt ein Blatt Papier, drei Teller mit Farbe stehen bereit. Die hat er – mit Unterstützung – bereits mit Farbe gefüllt hat: Gelb, Rot und Orange. Wolfgang Schmieden greift mit der linken Hand nach einem bereitliegenden Pinsel, betrachtet konzentriert die Teller und entscheidet sich, mit Gelb zu beginnen. Er taucht den Pinsel in die Farbe und trägt diese mit schwungvollen Bewegungen auf – nachdem er diesen Schritt mehrfach wiederholt hat, hält er inne und betrachtet erneut die bereitstehenden Teller und wählt nun Orange. Wieder taucht er den Pinsel ein und trägt die Farbe auf – so entsteht nach und nach ein farbenfrohes und ausdrucksstarkes Kunstwerk. Wenn dieses beendet ist, äußert Wolfgang Schmieden dies mit dem ihm zur Verfügung stehenden Lauten: "Feeee", ruft er und deutet dabei begeistert auf sein Werk.

Elke Bockhorst/Ruth Liebald


HINTERGRUND

NEUE LEBENSPERSPEKTIVEN

Am 1. Januar 1989 wurden in Bad Emstal, Haina, Herborn, Riedstadt und Weilmünster Heilpädagogische Einrichtungen (HPE) geschaffen. Bis dahin lebten geistig behinderte Menschen, die nicht bei ihren Eltern bleiben konnten und auch keinen betreuten Wohnplatz in ihrer Heimatregion fanden, über Jahrzehnte hinweg in den psychiatrischen Krankenhäusern des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Die Psychiatrie-Enquête machte deutlich, dass sie ein anderes Lebensumfeld brauchten. Sie sollten nicht länger hospitalisiert werden. Ziel war es zunächst, ihnen eine neue Wohn- und Lebensperspektive zu geben. In den nächsten 10 bis 15 Jahren sollten sie in ihre Heimatregionen reintegriert werden. Anschließend war geplant, die HPE wieder aufzulösen.

Freie gemeinnützige und private Träger bauten in der Folgezeit in vielen Landesteilen ihre Angebote für geistig behinderte Menschen aus. Das Versorgungsangebot der Heilpädagogischen Einrichtungen wurde aber weiterhin in Anspruch genommen. 1996 wurden sie auch auf politischer Ebene als Dauereinrichtungen anerkannt. Im Vitos Konzern leisten sie einen zeitgemäßen Beitrag, um Personen mit hohem Unterstützungsbedarf eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.

Insgesamt 527 Plätze stehen in Hessen in den HPE zur Verfügung:

  • 129 Plätze in Riedstadt (davon 24 im Betreuten Wohnen und 3 im Begleiteten Wohnen in Familien)

  • 98 Plätze in Haina (davon 6 im Betreuten Wohnen)

  • 97 Plätze in Herborn

  • 47 Plätze in Bad Emstal

  • 156 Plätze in Weilmünster

ebo/vitos


„KEIN MENSCH BLEIBT UNVERSORGT“

Interview mit Alexander Kurz-Fehrlé, Pädagogischer Leiter der HPE (Heilpädagogischen Einrichtung) Riedstadt, Erzieherin Silvia Jourdan-Nickel und Barbara Deubener vom Fachdienst Heilpädagogik (re.)

Sie haben schon in den achtziger Jahren im Philippshospital gearbeitet. Wie sah es damals auf der Station aus, auf der geistig behinderte Männer und Frauen lebten?
Jourdan-Nickel: 32 Patienten lebten damals dort, in Drei- bis Vierbettzimmern. Sie trugen alle Kittelschürzen. Einige gingen in die Arbeitstherapie. Daneben gab es einige Gruppen: Die Bewohnerinnen und Bewohner gingen kegeln oder schwimmen, zum Singen oder machten Sport. Ich wollte ursprünglich im Krankenhaus arbeiten. Aber die Arbeit mit den geistig behinderten Menschen hat mir Spaß gemacht.

An welchen Punkten unterschied sich das Leben am stärksten im Vergleich zu heute?
Deubener: Der Alltag war sehr starr.
Jourdan-Nickel: Ja, es gab feste Pläne: einen Abführplan, einen Toilettenplan für die Schwerstbehinderten, einen Bade- und Duschplan. Da saßen zum Beispiel sieben Menschen aufgereiht auf der Bank und warteten aufs Duschen. Einer nach dem anderen kam an die Reihe. Wir haben bereits damals begonnen, die Bewohner zu fördern. Wir haben ihnen zum Beispiel den Waschhandschuh übergezogen und ihnen gezeigt, wie sie ihn benutzen können.
Deubener: Die Arbeit auf der Station war sehr hierarchisch geprägt. Der Arzt hatte das Sagen. Ich arbeitete damals in der Abteilung für Bewegungstherapie und wir folgten den Anweisungen des Arztes.

Was hat sich mit Gründung der HPE verändert?
Deubener: Es wurden pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt. Diesen Wandel zu begleiten, den Aufbau der HPE fand ich interessanter. Ich musste mich damals zwischen Krankenhaus und HPE entscheiden. Der Krankenhausalltag war medizinisch geprägt. In der HPE standen Förderung und Entwicklung im Mittelpunkt. Da bin ich dann geblieben.
Jourdan-Nickel: Wir haben erst einmal versucht, alles wohnlicher zu gestalten. Wir haben Wände bemalt, Vorhänge aufgehängt, bunte Bettwäsche besorgt. Deubener: Wir haben versucht, diese Krankenhausatmosphäre rauszunehmen.
Kurz-Fehrlé: Plötzlich hatte jeder eigene Bettwäsche. Farbige. Die konnte man nicht in den Kochwaschgang stecken … - irgendwann bekamen wir eigene Waschmaschinen für die Wohngruppen. Die Lichtleisten für die Krankenhausbetten wollte die Verwaltungsleitung zunächst allerdings nicht entfernen. Die HPE waren ja als Übergangseinrichtungen gedacht. Sie sollten nur so lange bestehen bleiben, bis die Menschen in ihre Herkunftsgemeinden zurückkehrten. Das hat sich als ein Irrtum erwiesen. Es dauerte Jahre, bis man erkannte, dass man dieses Angebot weiterhin brauchen wird.

Wie sieht der Alltag heute aus?
Deubener: Heute arbeiten wir sehr viel stärker bedürfnisorientiert. Es gibt eine Tagesförderstätte. Und auch die, die nicht dorthin gehen, sind in die Gemeinschaft eingebunden.
Jourdan-Nickel:Wir machen die Bewohner, die sehr stark behindert sind, mobil. Es gibt heute spezielle Rollstühle … – es gibt niemand mehr, der tagsüber im Bett liegt.
Kurz-Fehrlé: Die Frage ist auch nicht mehr, wie lässt sich der Alltag für die Bewohner am besten organisieren? Die Bewohner stehen im Mittelpunkt. Es gibt Fahrzeuge, mit denen können wir jederzeit Ausflüge oder Einkäufe machen. Früher gab es nur den Fahrdienst und der hatte um 16 Uhr Feierabend. Es gibt kleine Tischgruppen beim Essen, eigene Thermoskannen, Selbstversorgungsstrukturen. Jeder kann wählen, was er essen möchte. Und für die Wohnstätten außerhalb gilt: Die Bewohnerinnen und Bewohner haben Nachbarn. Sie sitzen draußen auf der Bank, kehren vor dem Haus. Und sie nutzen die normale Infrastruktur wie Busse oder Geschäfte in ihrer Nähe.
Jourdan-Nickel: Heute leben 12, 13 Menschen in einer Wohngruppe, früher waren es 32. Das Leben hat sich individualisiert. Und die Bewohner bekommen weniger Medikamente und mehr Anregungen. Dadurch sind sie fitter, aber heute haben wir mehr Bewohnerinnen und Bewohner, die verhaltensauffällig oder pflegebedürftig sind. Trotzdem sind Fixierungen die absolute Ausnahme und werden streng überwacht.

Das bedeutet, überflüssig werden die HPE nicht.
Kurz-Fehrlé: Ganz und gar nicht. 85 Prozent unserer Bewohnerinnen und Bewohner gehören zu den Bedarfsgruppen vier und fünf, also zu den Personen mit dem höchsten Unterstützungsbedarf. Hessenweit liegt die Quote bei 35 Prozent! Viele, die wir neu aufnehmen, können woanders nicht bleiben. Sie wurden immer wieder ausgegrenzt, sie dürfen nicht erneut benachteiligt werden. Die Hälfte unserer Bewohnerinnen und Bewohner sind erst nach 1989 zu uns gekommen. Sie haben nirgendwo sonst ein angemessenes Betreuungsangebot gefunden.

Wir sind schon lange keine Einrichtung mehr, die nur Menschen betreut, die zuvor in psychiatrischen Kliniken langzeithospitalisiert waren. Unsere Bewohner und Klienten werden immer jünger. Wir haben eine hohe fachliche Kompetenz aufgebaut. Jetzt versuchen wir, die in die Fläche zu bringen. Wir werden oft als Spezialisten angefragt und leisten auch präventive Arbeit in den Familien. Der ambulante Bereich wird konsequent ausgebaut, das Betreute Wohnen, das Begleitete Wohnen in Familien und auch die aufsuchende Betreuung über ein persönliches Budget. Wir können heute garantieren, dass kein Mensch unversorgt bleibt und dass wir Lösungen finden, wo andere keine sehen oder finden.

Das Interview führte Elke Bockhorst