In Friedberg haben hörgeschädigte und hörende Schülerinnen und Schüler gemeinsam ein Musical erarbeitet. Das schulübergreifende Projekt der Johannes-Vatter-Schule (JVS), einer LWV-Förderschule, und der Adolf-Reichwein-Schule, einer integrierten Gesamtschule, zeigt, wie Inklusion gelingt. Und welche Herausforderungen zu bewältigen sind.
FRIEDBERG. „Hey Leute, ho, seid ihr be-reit? Wir neh-men euch mit auf ei-ne Rei-se durch die Zeit… Ist der Weg auch noch so weit, auf in die Un-end-lichkeit!“ Sechs junge Leute rappen im typisch abgehackten Staccato-Stil in der Turnhalle der Friedberger Adolf-Reichwein-Schule. Ihr Sprechgesang passt offensichtlich zu dem, was oben auf der Bühne passiert. Dort zeigt ein gutes Dutzend Teenager eine ausgefeilte Choreographie. Bei den fließenden Handbewegungen und Gesten handelt es sich nicht um einen speziellen Tanz, auch nicht um eine Pantomime, sondern um – eine Übersetzung. Der „Gebärden-Rap“, wie die Jugendlichen ihren Beitrag nennen, übersetzt den Sprechgesang in Gebärdensprache. Für alle, die nicht hören können.
„Das Zauberbuch – unterwegs durch Raum und Zeit“ heißt das Musical, das 150 Fünft- bis Achtklässler zweier Friedberger Schulen Anfang Juli aufgeführt haben. Das außergewöhnliche Projekt erzählt die fiktionale Story einer Zeitmaschine. Doch die eigentliche Aussage ist das Bekenntnis zur Inklusion. Rückblende: Mitte Mai, sechs Wochen vor der öffentlichen Aufführung, übt Alexandra Conrad mit den Trommlern der Johannes- Vatter-Schule einen weiteren Rap – jenen Beitrag zum Musical, der die Steinzeit-Epoche rhythmisch untermalen wird. Die Musiklehrerin an der JVS weiß, wie schwierig das präzise Zusammenspiel für die fünf hörbehinderten Jugendlichen ist. Der 13-jährige Jannis an der Cajón, einer peruanischen Kistentrommel, hat die Schlagfolge schon drauf. Aber Josi und Melissa, zwei Siebtklässlerinnen, sind merklich nervös, denn sie haben noch so ihre Schwierigkeiten. Mit deutlichen Handbewegungen gibt Alexandra Conrad ihren Schülern den Rhythmus vor, spricht dazu laut und betont den Liedtext mit: „Steinzeit, die Steinzeit, die Steinzeit, die Stein-zeit.“
Wenig später ist das Trommeln der fünf jungen Leute zu einem einheitlichen Sound verschmolzen. Dann wechselt der Rap seinen Grundrhythmus – und auch das Umschalten von einer Schlagfolge zur anderen klappt bald schon beinahe perfekt. „Super, ihr seid richtig schnell“, lobt Alexandra Conrad die Mädchen, die den Rap heute zum ersten Mal auf ihren Klanghölzern und afrikanischen Conga- und Djembe-Trommeln umsetzen.
„Für mich war das am Anfang sehr schwer“, sagt die 14-jährige Melissa. „Ich habe ja ein Hörgerät. Wenn viele zusammen spielen und es laut ist, kann ich mich nicht gut konzentrieren und bekomme Kopfschmerzen. Ich konnte auch den Rhythmus nicht so schnell verstehen.“ Deshalb gibt Alexandra Conrad mit ihrem Dirigat eine wichtige visuelle Hilfestellung. Zusätzlich hat sie den Rhythmus zu Papier gebracht.
Gleich nebenan übt eine gemischte Gruppe hörbehinderter und normal hörender Teenager am Gebärden-Rap, der als herausstechender Hip-Hop-Song der Anfangs- und Schlussszene das Musical umrahmt. Die meisten der jungen Leute haben eine Hörschädigung oder eine Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS). „Wir dachten, der Gebärden-Rap ist etwas, was unsere Schüler den Kindern der Adolf-Reichwein-Schule mitgeben können“, erklärt JVS-Lehrerin Manuela Iriogbe, die selbst die Gebärdensprache beherrscht. Lina Jäger, die in die Jahrgangsstufe sechs der Gesamtschule geht, wollte das unbedingt ausprobieren. Und nach ihren ersten Erfahrungen mit der Gebärdensprache ist die 11-Jährige begeistert: „Das gefällt mir, das will ich unbedingt weiter machen.“ Linas Zukunftsvision: „Wenn ich groß bin, gehe ich an die Johannes-Vatter-Schule und bringe den Kindern die Gebärdensprache bei.“
Ein Musical, an dem alle Schüler – ob hörbehindert oder nicht – teilhaben, ihre spezifischen Neigungen und Begabungen einbringen können, das war der Grundgedanke des Projektes. Die Initiative dazu ging von der Adolf-Reichwein-Schule (ARS) in Friedberg aus, als das Thema Behinderung in Gemeinschaftslehre auf dem Stundenplan stand. „Warum, so haben wir gedacht, den benachbarten Schulen für Seh- und Hörgeschädigte nicht einfach einen Besuch abstatten?“, erinnert sich Joachim Kunze, der Musik unterrichtet und das Musical komponiert hat. Sozusagen um die Ecke der Friedberger Gesamtschule liegen die Johann-Peter-Schäfer-Schule und die Johannes-Vatter-Schule mit den Förderschwerpunkten Sehen und Hören. Bei der JVS stieß die Kontaktaufnahme besonders schnell auf Gegeninteresse, Schüler und Lehrer besuchten sich mehrmals.
So ergab sich die Idee zu einem größeren gemeinsamen Projekt. Ein Musical, das es auch im aktuellen Schuljahr an der ARS geben sollte – das schwebte Joachim Kunze vor. Diesmal als inklusives Musical, bei dem auch die hörgeschädigten Johannes-Vatter-Schüler mitspielen sollten. „Die Idee dahinter war, dass es für die Kinder beider Schulen eine einmalige Erfahrung wäre, gemeinsam an einem solchen Projekt zu arbeiten“, berichtet Kunze.
Ganz ohne Hürden und Hindernisse war der Weg bis zum aufführungsreifen Musical freilich nicht. Die Schulleitungen hatten einen „organisatorischen Kraftakt“ zu leisten, um die gemeinsamen Proben im Stundenplan einzubauen, sagen Manfred Drach (Johannes-Vatter-Schule) und Dorothee Hantschel (Adolf-Reichwein-Schule) übereinstimmend. Die LWV-Förderschule für Hörgeschädigte hat rund 180 Kinder und Jugendliche, die in kleinen Gruppen unterrichtet werden. Die Friedberger Gesamtschule wird von über tausend Schülerinnen und Schülern besucht. Dennoch, so Hantschel, seien die organisatorischen Herausforderungen „lösbar“ gewesen.
Überwunden wurden auch die Sprachbarrieren. Laura, Schülerin der Johannes-Vatter-Schule gebärdete einzelne Textpassagen des Titel-Raps und die anderen – hörende wie hörgeschädigte Kinder – nahmen ihre Gesten mit dem Handy auf.
Auch Videos wurden gedreht, so konnten alle aus der Gruppe die Gebärden zum Rap immer wieder anschauen und sich einprägen. Stolz sagt Lehrerin Manuela Iriogbe: „Wir haben richtige Spracharbeit geleistet.“ Denn für eine Reihe von Wörtern des Rap-Textes gab es keine gebräuchlichen Gesten in den verschiedenen Gebärden-Lexika. „Trotzdem haben wir versucht, immer eine möglichst passende Gebärde zu finden“, erklärt die Lehrerin.
Beim ersten Probedurchlauf des Musicals wartet auch Lehrerin Beatrix Leineweber mit ihren sechs Schülern auf deren Einsätze. Leineweber, die in der Abteilung geistige Entwicklung der JVS unterrichtet, kennt ihre Kinder und weiß um deren Belastungsgrenze. „Allein schon in dieser Turnhalle zu sein, mit so vielen anderen Menschen, ist für meine Schüler ein Projekt.“ Deshalb räumt sie ihnen die Möglichkeit ein, die Probe zu verlassen, sobald es ihnen zu viel werden sollte – was bisher nicht der Fall ist. „Ganz stolz“ sei sie auf ihre Schülerinnen und Schüler, „wie die das durchhalten. Sie möchten ja mit Gleichaltrigen etwas zusammen machen. Sie möchten an dem Musical teilhaben.“
Teilhabe – der Grundgedanke von Inklusion – ist an diesen beiden Friedberger Schulen auf fruchtbaren Boden gefallen. Hörende und hörbehinderte Schüler haben für das Musical getextet. Sie haben zusammen gebärdet und getanzt, geschauspielert, musiziert und gerappt. Auch die Kulissen wurden von Kindern beider Schulen gebaut, Plakate, Flyer und Karten entworfen. „Ein paar Anlaufschwierigkeiten hat es gegeben, das ja“, resümiert Gesamtkoordinator Joachim Kunze. Aber schon nach kurzer Zeit hätten die Kinder gut zusammengearbeitet. Auf ein „Wie sollen wir mit den hörbehinderten Kindern denn reden? Die verstehen uns doch gar nicht!“ sei schon nach dem ersten Treffen die positive Erfahrung gefolgt: „Wenn die Bedingungen stimmen, klappt die Kommunikation ja doch“, sagt Lehrerin Christine Fauerbach.
Der 14-jährigen Laura Miller jedenfalls gibt es viel, bei dem Musical-Projekt dabei gewesen zu sein. „Mir gefällt, dass wir Kontakt zu hörenden Kindern in unserem Alter bekommen haben.“ Und Mitschülerin Narmin Arabo pflichtet bei: „Ich finde es toll, dass die Schüler der ARS so offen waren. Sie haben uns nicht gehänselt. Sie haben uns von Anfang an respektiert.“
Am Ende mündete das Schülermusical in eine starke Schlussszene, fast schon eine Metapher für Inklusion. Zum Refrain des Gebärden-Raps animieren die in der Turnhalle verteilten Tänzerinnen das Publikum zum Mitsingen. Die Botschaft: Alle, ob Mitspieler oder Zuschauer, ob behindert oder nicht behindert sind in die Inszenierung eingeschlossen.
Petra Schaumburg-Reis
„Inklusion ist uns ein Anliegen“, unterstreicht Dorothee Hantschel, Schulleiterin der Friedberger Adolf-Reichwein-Schule, einer integrierten Gesamtschule (Jahrgänge 5 bis 10) mit Grundstufe (Jahrgänge 1 bis 4). Erster Berührungspunkt war ein gemeinsames Kunstprojekt von Förderschul-Kindern der Abteilung geistige Entwicklung und einer Mittelstufenklasse der ARS vor den letzten Sommerferien – „der Türöffner“ für das jetzige Musical-Projekt, sagt Hantschel. Das Pflänzchen Inklusion, das in der Zusammenarbeit zwischen Förder- und Regelschule in Friedberg schon gut gewachsen ist, soll gehegt werden: Weitere Projekte sind angedacht. „Das Öffnen nach außen ist uns für unsere Schüler sehr wichtig“, betont Manfred Drach, Schulleiter der Johannes- Vatter-Schule mit dem Förderschwerpunkt Hören. „Das gibt unseren Kindern viele Impulse über die Schule hinaus – für ihr Leben außerhalb der Schule.“
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