Marianne Jablonski ist die einzige Frauenbeauftragte in einer Werkstatt für behinderte Menschen in Hessen. Ein bundesweites Modellprojekt will dafür sorgen, dass Frauen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe überall in Deutschland vertreten werden – von behinderten Frauen.
MARBURG. Marianne Jablonski ist keine, die viel redet. „Sie kann stundenlang schweigen“, sagt Sozialpädagogin Heike Leinweber: „Aber die Gespräche mit den Frauen macht sie wirklich toll.“ Nicht bevormundend, sondern verschwiegen, umsichtig und verlässlich. Marianne Jablonski ist die Frauenbeauftragte der Marburger Lahnwerkstätten. Aber sie ist auch selbst lernbehindert, und damit die einzige Frauenbeauftragte in einer Werkstatt in Hessen. Abstraktes Denken, wie man es fürs Rechnen braucht, ist nicht ihr Ding. Die praktische Arbeit, wie sie in der Hauswirtschaft benötigt wird, liegt ihr eher. In der Wäscherei Laguna – einem Zweig der Lahnwerkstätten – wird sie allgemein respektiert. Und mit ihren 62 Jahren hat sie auch genügend Lebenserfahrung, um ratsuchenden Frauen zu helfen. „Deswegen haben wir sie ausgewählt“, berichtet Heike Leinweber, die als Vertrauensperson des Werkstattrats seit 2010 im Tandem mit ihr zusammenarbeitet.
Behinderte Frauen, manchmal aber auch Männer werden besonders leicht Opfer von Gewalt und Missbrauch – sowohl durch andere Behinderte als auch durch Angehörige und Bekannte. Deswegen haben sich die Lahnwerkstätten an dem Pilotprojekt beteiligt, das bundesweit Frauenbeauftragte in Wohnheimen und Werkstätten anstrebt. „Die Gewalt wird oft verharmlost“, sagt Sozialpädagogin Leinweber: „Das wollen wir abstellen.“ Häufig sind dumme Sprüche, abwertende Bemerkungen oder Beschimpfungen. Gravierende Fälle gab es aber auch: Leinweber weiß von Übergriffen auf Frauen auf dem Weg zur Arbeit und in einer Wohngemeinschaft. In der Werkstatt selbst wurde ein behinderter Mitarbeiter regelmäßig auf dem Klo dazu gezwungen, Geld von seinem Lohn abzugeben. Nur an seiner gedrückten Stimmung merkten die Sozialarbeiter, dass etwas mit ihm nicht stimmte.
Marianne Jablonski hat in ihrem Leben gelernt, nein zu sagen und sich zu wehren. Nach einer Lehre als Haushaltshilfe kam sie 1987 zu den Lahnwerkstätten, wo sie zunächst in der Küche arbeitete. Seit mehr als 25 Jahren ist sie in der Wäscherei. Lange Jahre hat sie Kleidercontainer gepackt – eine verantwortungsvolle Aufgabe. Inzwischen kann sie – Tribut an ihr zunehmendes Alter – während der Arbeit sitzen. An einem Tisch mit drei weiteren Frauen legt sie gemangelte Wäsche für Krankenhäuser, Altenheime und Apotheken zusammen – sehr sorgfältig, wie es ihre Art ist. „Ich arbeite ganz gerne“, sagt die 62-Jährige: „Hier habe ich meine Freunde.“
Seit 21 Jahren ist sie mit Holger Fröhlich zusammen, der auch in der Wäscherei arbeitet. Als sie 50 wurde, haben sich die beiden verlobt. Seit vielen Jahren wohnen sie gemeinsam in einer Einliegerwohnung im Haus ihres Bruders in Wetter. Jeden Morgen fahren sie mit Zug und Bus ins 15 Kilometer entfernte Marburg. Die Abfahrtszeiten hat sie genau im Kopf.
Häufig sind sie mit dem Wanderverein unterwegs. Aber auch weite Reisen hat das Paar schon unternommen: Viele Male sind sie mit Zügen und Schiffen zu Holgers Schwester nach Norwegen gereist. Deren Sohn, der zehnjährige Magnus, ist eines der beiden Patenkinder von Marianne Jablonski. Im September, als Magnus konfirmiert wurde, waren sie wieder im hohen Norden. „Sie haben schöne Züge und schöne Holzhäuser dort“, berichtet sie. Als das Haus der Schwester gestrichen werden musste, halfen beide – sie beim Kinderhüten, er beim Renovieren.
Den Job als Frauenbeauftragte für ihre etwa 180 behinderten Kolleginnen macht sie gern. Bereits während ihrer Schulungen in Mainz durch das Weibernetz hat sie Interviews mit Mitarbeiterinnen der Lahnwerkstätten geführt. Dabei gab es Kritik an frauenfeindlichen Sprüchen bei der Arbeit und eine Frau, die gern als Beifahrerin arbeiten wollte, ein traditioneller Männerjob. Beiden Fällen wurde nachgegangen.
Die Sprechstunden, die sie jeden Monat anbot, wurden allerdings nicht angenommen. Das ist nicht ungewöhnlich, berichtet die Koordinatorin des Projekts „Frauenbeauftragte in Einrichtungen“ im Weibernetz, Ricarda Kluge. Das sei ein typisches Anfangsproblem: „Als die Werkstatträte eingerichtet wurden, hat es auch ganz lange gedauert, bis sie angenommen wurden“, sagt die Expertin. Andernorts wurden aber auch schon Abmahnungen ausgesprochen, nachdem eine Frauenbeauftragte wiederholtes Grapschen aufgedeckt hatte.
Marianne Jablonski bietet die Sprechstunde nun nach Bedarf an und hat stattdessen einen Begegnungs- und Spielenachmittag nur für Frauen eingeführt – zugleich eine gute Gelegenheit, um alle zwei Wochen unkompliziert miteinander ins Gespräch zu kommen. Zudem richteten die Lahnwerkstätten eine Frauenkursreihe ein, bei der es etwa um Selbstverteidigung, Selbstbehauptung und darum, Nein zu sagen, aber auch um Kinderwunsch, Sexualität und Verhütung, Wellness und Frauenhygiene ging. Auch im Werkstattrat vertritt Jablonski die Interessen der Frauen und achtet darauf, dass es keine Benachteiligungen gibt.
Den größten Unterschied sieht Heike Leinweber allerdings darin, dass der Blick auf die Frauen gelenkt wird: „Die Sensibilität für das Thema ist durch das Projekt geweckt worden.“ In den Werkstätten hat sich eine Projektgruppe Gewalt gegründet. Und Marianne Jablonski reagiert, wenn Kolleginnen mit blöden Sprüchen angemacht oder gegen ihren Willen begrapscht werden. „Wenn es zu viel ist, hole ich Hilfe“, sagt die Frauenbeauftragte. Das hätte sie sich vorher auch nicht getraut.
Gesa Coordes
HINTERGRUND
Sie sind eine Risikogruppe: Nach einer repräsentativen Studie der Universität Bielefeld werden behinderte Frauen besonders häufig angebrüllt, geschlagen, gedemütigt und missbraucht. Sie haben häufiger schwere körperliche und psychische Übergriffe durch ihre Eltern erlebt als der Bevölkerungsdurchschnitt. Sie waren zwei- bis dreimal häufiger sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend ausgesetzt – zwischen 20 und 34 Prozent der Befragten. Das setzt sich im Erwachsenenleben fort, wo fast doppelt so viele Frauen von körperlicher Gewalt berichten. Erzwungene sexuelle Handlungen kommen zwei- bis dreimal häufiger vor. Die Täter stammen meist aus dem unmittelbaren Umfeld in Familie, Freundeskreis und am Arbeitsplatz.
Um neue Anlaufstellen für die behinderten Frauen zu schaffen – sowohl bei sexueller Belästigung als auch bei Benachteiligung –, startete das Weibernetz im Auftrag des Bundesfamilienministeriums ein Pilotprojekt, bei dem 16 geistig behinderte Frauen aus Werkstätten und Wohneinrichtungen zu Frauenbeauftragten ausgebildet wurden. Marianne Jablonski ist eine dieser Frauen. Doch in Zukunft soll es in jeder Werkstatt für behinderte Menschen eine Frauenbeauftragte geben. Dies soll in der Werkstättenmitwirkungsverordnung verankert werden.
Weibernetz e. V. hat daher ein Nachfolgeprojekt gestartet, um die Idee in die Breite zu tragen. Dabei werden Trainerinnen mit und ohne Lernschwierigkeiten ausgebildet, die in ihren jeweiligen Bundesländern als Multiplikatorinnen für die Schulung von Frauenbeauftragten eingesetzt werden sollen. An dem durch das Bundesfamilienministerium geförderten Projekt beteiligt sich das Land Hessen allerdings nicht.
Der Landeswohlfahrtsverband hat Ende 2014 eine Broschüre mit dem Titel „Sexuelle Gewalt? Halt! Nicht mit mir!“ in Leichter Sprache herausgebracht. Zu bestellen ist sie unter 0561 1004 - 2060 und info@lwv-hessen.de
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