Interview mit Claudia Steinkrüger, Leiterin der Paula-Fürst-Schule mit dem Förderschwerpunkt kranke Schülerinnen und Schüler in Hanau.
Frau Steinkrüger, heute ist ihr früherer Schüler Raul zu Besuch gekommen. Was bedeutet Ihnen das?
Sehr viel. Als er 2009, mit 14 Jahren, das erste Mal zu uns kam, konnte er mir kaum in die Augen schauen, war sehr still und schüchtern. Es ging ihm nicht gut. Er war insgesamt drei Mal bei uns, zusammengenommen ein Dreivierteljahr. Heute ist er ein offener, junger Mann und besucht die Fachoberschule. Besser kann seine Entwicklung kaum sein. Es ist eine Bestätigung auch für unsere Arbeit mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen.
Ihre Schülerinnen und Schüler werden in der benachbarten Vitos Tagesklinik ärztlich betreut. Mit welchen Problemen haben diese zu kämpfen?
Wir haben zunehmend verhaltensauffällige Grundschüler, die Regeln nicht respektieren. Das ist schwierig. Wir haben Kinder, die große Ängste haben, die depressiv oder aggressiv sind, Psychosen haben, schizophren sind. Es sind Jugendliche, die Mobbingopfer sind, die die Schule schwänzen, oder unter Versagensängsten leiden. Häufig aus Familien, in denen sich die Eltern nicht genug um ihre Kinder kümmern können.
Was sind die Ursachen?
Trennung, Scheidung, Gewalt in der Familie – die Bandbreite ist groß. Die Eltern merken häufig erst am Ende des Schuljahres, dass ihre Kinder nicht den Unterricht besuchen, wenn sich hundert Fehlstunden auf dem Zeugnis finden und das Kind nicht versetzt wird.
Bei Ihnen steht das Schulische im Vordergrund, aber immer in enger Absprache mit der Klinik. Wie ist ihr Konzept?
Oberstes Ziel ist natürlich die Gesundung der Kinder. Dabei hilft es ihnen, einen geregelten Tagesablauf zu haben. Überschaubare Strukturen sind ganz wichtig. Auch, dass sie weiterhin gefordert werden, sich nicht ans Nichtstun gewöhnen. In kleinen Lerngruppen erfahren sie Unterricht ganz anders als zuvor in überfüllten, lauten Klassen. Wenn nötig, gibt es sogar Einzelunterricht.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wir hatten eine Schülerin, sechste Klasse, die so große Angst hatte, unsere Klassenzimmer zu betreten, dass ich von Tag zu Tag mit ihr schrittweise geübt habe: Erst die Stufen zum Gebäudeeingang. Am nächsten Tag in die Schule hinein. Dann zu mir ins Büro. Ich habe ihr einige Tage Einzelunterricht gegeben, bis sie so weit war, nach nebenan in die Klasse zu wechseln. Daran sieht man, dass die Kinder bei uns viel mehr lernen als das rein Fachliche. Es geht erst einmal darum, überhaupt lernbereit zu sein.
Claudia Steinkrüger
1965 in Hanau geboren, hat Claudia Steinkrüger Sonderpädagogik in Frankfurt am Main studiert. Ihr Referendariat absolvierte sie an einer Schule für praktisch Bildbare in Maintal. Es folgten Lehrerstellen in verschiedenen Förderschulen. Seit 2008 leitet sie die Paula-Fürst- Schule. Claudia Steinkrüger ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Sie unterrichten alle Altersstufen von der ersten Klasse bis zum Abitur. Wie lösen Sie diese Aufgabe rein organisatorisch?
Wir haben vier Klassenräume und arbeiten jahrgangsübergreifend: In Raum 1 sind die Grundschüler, in 2 die Klassen fünf und sechs, Raum 3 ist für die Klassen sieben bis neun und Raum 4 ab Klasse zehn. Dabei unterrichten wir differenziert innerhalb der Gruppe nach dem jeweiligen Lernstand der Kinder und der Schulform. Wir sind ein Team von drei Lehrern und unterrichten die Hauptfächer. Für Englisch und Französisch unterstützen uns vom benachbarten Gymnasium abgeordnete Fachkräfte jeweils zwei Stunden in der Woche.
Und Naturwissenschaften?
Die unterrichten wir leider nicht, weil uns die Räume fehlen. Ziel ist es, dass die Kinder den Anschluss in den Hauptfächern halten beziehungsweise vorhandene Wissenslücken schließen, wenn sie hier bei uns für zwei bis drei Monate sind.
Wie planen Sie den Unterricht?
Wir müssen den Stundenplan jede Woche gemeinsam neu erstellen und anpassen. Denn die Schüler bleiben ja nur begrenzte Zeit, es kommen immer wieder neue hinzu. Es gibt regelmäßig Gespräche mit den Ärzten, teils auch mit den Eltern. So stellen wir fest, was für das Kind wichtig ist – schulisch wie persönlich.
In den Räumen hier herrscht eine sehr freundliche, ruhige Atmosphäre. Fällt es den Kindern nicht schwer, nach einer so individuell zugeschnittenen Lernzeit wieder in ihre Stammschule zurückzukehren?
In der Regel fühlen sich die Kinder hier tatsächlich sehr wohl und gut aufgehoben. Aber nach einer Weile, wenn es ihnen insgesamt besser geht, gibt es auch den Wunsch, wieder in das normale Leben zurückzukehren. So soll es ja auch sein.
Keiner darf verloren gehen
„Nichts ist unmöglich: hohe Schule“ hat er bei einem seiner Aufenthalte an der Paula-Fürst-Schule aus Zeitungen ausgeschnitten und auf ein Papier geklebt. Eine Unterrichtsaufgabe war das, ein Ziel zu formulieren. Heute besucht Raul seine frühere Lehrerin und zeigt ihr stolz das Papier, das er zum Schutz in eine Klarsichtfolie geschoben hat. Raul, der damals häufig weder Bleistift noch Heft dabei hatte, keine Ordnung halten konnte, lebt inzwischen in einer Einrichtung für Jugendliche, die ihn auch im Lernen auf hohem Niveau unterstützt. Nach Realschulabschluss und einem Jahr Berufsvorbereitung hat er sich entschieden, noch zwei Jahre zur Schule zu gehen und das Fachabitur zu machen. „Es ist gut zu sehen, was ich erreicht habe. Wenn ich hier bin, erinnere ich mich, wie es damals war“, sagt der heute 20-Jährige und schaut sich in den Räumen seiner früheren Kurzzeit-Schule um. Sein Blick fällt auf einen Baum aus Papier an der Wand, der Pappblätter trägt – mit Grüßen und Botschaften all der Schüler, die hier schon Unterricht hatten. „Diese Schule war einfach nur geil“ oder „Ich werde die chilligen Lehrer vermissen“ steht da geschrieben. Raul nickt lächelnd, er teilt diese Einschätzungen. In der schlimmsten Phase seines jungen Lebens, als er sich kaum traute, einen Laden zu betreten oder mit fremden Menschen zu sprechen, hat er in der Schule einen geschützten Raum gefunden, in dem er sich entfalten durfte. An einer Wand im Flur der Schule hängt ein großes, gemaltes Plakat, darauf steht: „Keiner darf verloren gehen.“ Raul hat sich gefangen.
Beraten Sie sich auch mit den Stammschulen? Ja, sicher. Wir bereiten auch den Wechsel zurück vor, stehen mit den Lehrern in Kontakt. Ich gebe einen Fragebogen für die Lehrer aus, weil ich ein Feedback nach der Zeit bei uns bekommen möchte und die Entwicklung der Schüler weiterverfolge. Häufig wünschen sich die Lehrer mehr Offenheit bezüglich der Diagnose, um die Probleme der Schüler besser einordnen zu können. Doch das ist für manche Eltern schwierig.
Sie haben in Frankfurt Sonderpädagogik studiert, waren an verschiedenen Schulen als Lehrerin tätig. Wie war Ihre erste Zeit an der Paula-Fürst-Schule, als Sie die Stelle der Schulleiterin 2008 antraten?
Es war fast alles anders, als ich es aus meinen vorherigen Arbeitsstellen kannte. Im ersten Jahr habe ich mich erst einmal für neue Räume eingesetzt, habe einen Förderverein gegründet. Wir waren zu Beginn noch in der Tagesklinik untergebracht, hatten ein winziges Lehrerzimmer und nur einen Unterrichtsraum, der nachmittags noch für andere Zwecke genutzt wurde. Man konnte nichts darin liegen lassen. Als gebürtige Hanauerin war sicherlich mein Vorteil, dass ich viele Kontakte habe und tatsächlich viel bewegen konnte. 2010 konnten wir die sehr schönen Räume hier im ehemaligen Landratsamt beziehen.
Welche Rolle spielt der Förderverein?
Eine sehr große. Fast unsere komplette Einrichtung wurde gespendet. Wir haben zwar nur 24 Mitglieder, aber die sind sehr engagiert.
Sie können gut organisieren, müssen viel kommunizieren und arbeiten inhaltlich mit den Kindern. Eine abwechslungsreiche, aber auch fordernde Tätigkeit. Belastet es Sie, wenn Sie teils sehr traurige Krankengeschichten begleiten? Schließlich verlaufen sie nicht alle so gut wie bei Raul.
Das ist richtig. Aber in dieser Arbeit kann ich viel bewegen, kann beeinflussen und sehe auch Ergebnisse. Das ist sehr schön. Zudem haben wir Lehrer alle vier Wochen Supervision im Team bei einer externen Supervisorin und ich bin in einer Gruppe von Schulleitern supervisorisch angedockt. Das hilft.
2014 hat der Landeswohlfahrtsverband Hessen die Trägerschaft für die Schule von der Stadt Hanau übernommen. Was hat sich für Sie verändert?
Zunächst einmal war es für mich komplizierter, denn in der Stadtverwaltung wusste ich genau, wen ich bei welchem Problem anrufen muss. Da ging vieles auf Zuruf. Beim LWV musste ich erst die Mitarbeiter kennen lernen, die uns aber auch schon hier besucht haben. Sie sind alle sehr hilfsbereit, das macht es dann doch leichter, als ich zunächst dachte.
Neben der Vitos Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist nun auch eine vollstationäre Klinik mit 42 Plätzen in Hanau geplant, um eine Versorgungslücke zu schließen. Was bedeutet das für die Paula-Fürst-Schule?
Wir werden dann die Kinder und Jugendlichen der Tagesklinik und der stationären Klinik beschulen. Noch ist unklar, ob wir künftig einen oder zwei Schulstandorte haben werden. Derzeit werden noch Räumlichkeiten für die neue Klinik gesucht. So oder so, die höhere Schülerzahl wird einiges ändern. Mir ist es zum einen wichtig, fachlich gute Kollegen zu bekommen und auch die Ausstattung der Räume zu verbessern. Es werden sicherlich noch zwei, drei Jahre vergehen, bis es so weit ist, aber ich freue mich auf die Aufgabe.
Das Interview führte Katja Gussmann.
Paula-Fürst-Schule
Die Paula-Fürst-Schule betreut bis zu 20 Schüler, die in der Vitos Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Hanau behandelt werden. Drei Lehrer und zwei von einem örtlichen Gymnasium abgeordnete Fachlehrer für Französisch und Englisch unterrichten die Kinder in allen Hauptfächern von der Grundschule über Haupt- und Realschule bis zum Abitur. Durchschnittlich bleiben die Kinder und Jugendlichen zwei bis drei Monate an der Paula-Fürst-Schule. Ziel ist es, den Kindern, trotz Erkrankung, schulisch den Anschluss zu ermöglichen oder Wissenslücken aufzufüllen, um wieder auf die Stammschule wechseln zu können. Die Schule wurde 2007 gegründet. Zuständig war zunächst die Stadt Hanau, bis der Landeswohlfahrtsverband Hessen am 1. April 2014 die Trägerschaft übernahm. Damit unterhält der LWV insgesamt sechs Schulen für kranke Kinder und Jugendliche.
Die Paula-Fürst-Schule ist nach einer jüdischen Pädagogin benannt, die nach der Reichspogromnacht viele Schülerinnen und Schüler aufnahm, die andernorts vertrieben worden waren. Paula Fürst wurde 1942 nach Minsk deportiert und ist vermutlich in einem Vernichtungslager gestorben.
gus