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"Für mich ist es Freiheit"

"Für mich ist es Freiheit"

Ein Spätsommerabend an der Fulda. Gleich wird die Sonne hinter den Bäumen am Ufer verschwinden, noch aber leuchtet sie warm auf die roten, blauen und gelben Kanus, die auf dem Wasser tanzen. Nicola Salditt möchte loslegen, auf ins Boot und hinunter auf den Fluss. Sie ist gemeinsam mit den Paddelkollegen bereits in der Nähe des Stegs angelangt. Manche tragen zu zweit ein Kanu, Nicola hat sich zwei Paddel quer auf den Schoß gelegt und ist vom Vereinshaus hinab ans Ufer gerollt. Paddel ablegen, Rolli parken, ihn regendicht verpacken. Gleich kann es losgehen. Das Kanutraining in einer inklusiven Gruppe ist Teil des nordhessischen Projektes „Gemeinsam in Bewegung“ (GiB).

KASSEL. Nicola Salditt ist von Geburt an gehbehindert, ein Bein ist kürzer, sie trägt Fußschienen. Im Alltag kommt sie mit Stock zu Fuß klar, für längere Ausflüge oder weitere Strecken aber nutzt sie den Rollstuhl. Die 36-jährige Erzieherin, die als Zusatzkraft in einem Hort arbeitet, liebt diese Donnerstag-Abende. Halb sechs bei der Wassersport Vereinigung Cassel (WVC) – da ist dann nicht nur die Arbeitswoche für sie beendet. Sondern sie kann auch endlich aufs Wasser. „Für mich bedeutet das Freiheit! Im Wasser ist es so leicht, mehrere Kilometer zurücklegen.“ Das Paddeln hat die begeisterte Camperin schon als junge Erwachsene im Ferienlager in Kanada für sich entdeckt, dennoch ist das hier ihre erste Vereinserfahrung. In Trainingshosen und schwarzem T-Shirt mit norwegischer Flagge lässt sie sich am Arm einer Kollegin auf den schwankenden Steg geleiten. Noch die knallrote Schwimmweste anlegen, mit den Füßen aus dem Schienen mit den Turnschuhen schlüpfen – dann liegt das Boot bereit. Die Kollegin hilft ihr hinein, Nicola rutscht ins orangefarbene Kanu, schiebt die Brille in die Haare und ergreift das Paddel. Sie strahlt. Taucht das Paddel ins Wasser, rauscht in Nullkommanichts zu den anderen aus der Paddelgruppe und ist schon im bunten Gemisch der Boote verschwunden. Ununterscheidbar, ob jemand mit dem Rollstuhl oder ohne herkam. Elegant, tänzerisch, scheinbar mühelos bewegen sich alle Kanus im Fluss. Auf dem Holzsteg liegen ein paar Badelatschen, etwas Entendreck – und vom Wasser tönt Gelächter, ein gelber Ball fliegt von Boot zu Boot, von Hand zu Hand.

PADDELN FÜR JEDEN

Seit Mai 2015 oder, wie sie sagen, „seit das Wetter gut ist“, paddeln hier bei der WVC behinderte und nicht behinderte Menschen. Zunächst als Freizeitangebot – also ohne Wettbewerb – geplant, öffnete sich die Gruppe im Rahmen des Projektes GiB noch weiter und entstand nun als inklusive Gruppe. Bianca Wagner, beim GiB Ansprechpartnerin für das Projekt, betont, dass wirklich jeder mitmachen kann. Einzige Voraussetzung, so Wagner: „Schwimmen muss man können. Und sich bemerkbar machen, falls mal irgendwas ist.“ So hat laut Marco Ferchland, dem anderen GiB-Projektkoordinator, auch eine blinde Teilnehmerin hier begonnen, die mit einem Assistenten herkam. Ziel des dre?ährigen Projektes in der Region Kassel ist es, Inklusion in Sportvereinen konkret umzusetzen (s. Hintergrund).

WENDE IM SPORT

„Was denken die andern? Werde ich schief angeguckt?“ Das sind gängige Ängste von behinderten Menschen, die in Vereine kommen möchten. „Was kommen da für Leute? Können wir es denen recht machen?“, lauten wiederum die Sorgen der Vereine, wie die GiB-Koordinatoren berichten. Laut Axel Dietrich, WVC-Vorsitzender, „steht das gesamte Sportthema vor einer Wende.“ Er sieht im inklusiven Sport Vorteile auf allen Seiten. Den Sport so zu verändern, dass er offen für alle ist - das sei die Forderung der Zeit. Auch die Vereine müssten sich mit dem demografischen Wandel arrangieren – was baulich beispielsweise Rolli-Fahrern nütze, sei eben auch für Menschen mit Rollator oder Kinderwagen sinnvoll. Nebeneffekt: Vereine sichern ihr Überleben, wenn sie sich öffnen, betont Elke Thimsen, fab-Geschäftsführerin (Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter).

Es ist November geworden. Hohe Laubhaufen liegen auf dem Schulhof der Friedrich-Wöhler-Schule in Kassel, um halb sieben ist es schon lange dunkel. Unterm Neonlicht in der Turnhalle haben sich neun Freizeitpaddler mit ihrem Trainer Michael Kickel versammelt zum Wintertraining. Dehnen, Kraftübungen, „und am Ende was Spielerisches“. Sie stehen auf Matten, öffnen und schließen die angewinkelten Arme, „wie beim Butterfly“, sagt Kickel. Konzentrierte Stille, die vier Männer und fünf Frauen im Sportdress arbeiten eifrig mit. Dass hier „inklusiv“ trainiert wird, fällt erst beim zweiten Hinsehen auf – Nicola Salditt und Sarah Schweinsberg absolvieren die Übungen im Sitzen auf kleinen Kästen und im Hintergrund steht ein schwarzer Rollstuhl.

RICHTIG GUTE GRUPPE

Nach den Armen müssen die Beine bewegt werden. „Für euch vielleicht schwierig mitzumachen,“ sagt Kickel neckend zu den beiden Frauen. Die kichern. Aber während die andern im Stehen, auf der weichen Matte schwankend, die Füße kreisen lassen, gelingt es Nicola im Sitzen, mit dem ganzen Unterschenkel. Am Ende sind alle aufgewärmt, stöhnen ein bisschen, lachen. Zusammen Spaß haben, trotz aller körperlichen Unterschiede, das sei ihm wichtig, sagt Kickel später. Über den Sommer sei aus der Freizeittruppe eine richtig gute Gruppe geworden, und mit regelmäßigem Training und demnächst auch Kenter-Übungen in einer Schwimmhalle will er sie über den Winter zusammen- und fit halten. Nun ist Vierfüßlerstand dran, dann werden abwechselnd Arm oder Bein gehoben. Kein Problem für Nicola Salditt. „Das kenne ich schon aus der Krankengymnastik“, ruft sie. Andere jammern und keuchen. „Lächeln!“, fordert Trainer Kickel stattdessen. Und frech ruft es aus der Runde zurück: „Das ist Lächeln!“

Michael Kickel, 42, der selbst seit 33 Jahren paddelt, hatte eigentlich eine trainerische Pause einlegen wollen. Als aber im vergangenen Jahr die Anfrage kam, ob er als Übungsleiter für die Freizeitpaddler zur Verfügung stehe, war er dabei. Er informierte sich, mit welchen Behinderungen Paddeln möglich ist und ging an alles offen heran. Ebenso animierte er von Beginn an die Paddler, sich untereinander zu helfen. Nach erstem Fremdeln geht nun alles wie geschmiert. Sein Rat an Vereine: Ausprobieren, was geht. „Leute, macht es, es ist für alle ein Gewinn!“

Anne-Kathrin Stöber


HINTERGRUND

EIN SPORTVEREIN FÜR ALLE

Sport im Verein für alle ermöglichen – das will „Gemeinsam in Bewegung“ (GiB). In der Region Kassel entsteht unter diesem Namen ein Netzwerk mit Sportangeboten für behinderte und nicht behinderte Menschen. Ziel des Inklusionsprojektes von Vereinen, ambulanter Behindertenhilfe, Universität und Landessportbund ist es, dass behinderte Menschen möglichst viele vorhandene Sport- und Bewegungsangebote wahrnehmen können. Barrieren in den Köpfen, aber auch die baulichen Hindernisse in Sportstätten gilt es zu überwinden. Auf drei Jahre angelegt und im November 2014 begonnen, sollen drei Schritte umgesetzt werden: Übungsleiter der Vereine erhalten Schulung und Fortbildung; alle Beteiligten aus Vereinen und Behindertenhilfe, Verwaltung sowie behinderte Menschen können sich austauschen. Schließlich sollen drittens in Zusammenarbeit mit den regionalen Sportvereinen modellhafte inklusive Sportangebote entstehen. Dabei erhalten die Übungsleiter fachliche Unterstützung sowie Assistenz für die Teilnehmer. Finanziert wird das Projekt vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband Hessen, dem Verein aha und dem Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter (fab). Gefördert wird das Projekt durch die Aktion Mensch und die Sparkassen Finanzgruppe Hessen-Thüringen.

In Kassel gibt es seit Mai 2015 unter anderem ein inklusives Paddel-Angebot in der Kanuabteilung bei der Wassersport Vereinigung Cassel (WVC). In der offenen Freizeitgruppe können alle das Kanufahren lernen. Trainiert wird immer donnerstags um 17.30 Uhr. Kontakt über GiB – Gemeinsam in Bewegung, aha e. V., Kölnische Str. 99, 34119 Kassel. T. 0561 506165-150, Marco Ferchland, Bianca Wagner.
Viele Vereine im Raum Kassel engagieren sich bereits im Bereich Inklusion. Angeboten werden die Sportarten Fußball, Kinderturnen, Schwimmen, Sportschießen, Fitness, Tanzen, Sitzball, Turnen, Rudern, Tauchen und Funktionsgymnastik.

stö

Weitere Informationen unter www.GiB-RegionKassel.de