Schwerbehindert und über 50, da wird die Arbeitssuche für viele zum Hindernislauf. 400 Männer und Frauen in Hessen haben trotzdem einen neuen Job – dank der Initiative Inklusion. Auch Peter Beisenherz. Im Autohaus Faupel managt er heute Abgasuntersuchungen und TÜV, sucht nach der Ursache für blinkende Kontrollleuchten und ist immer freundlich zu den Kunden. Für seinen Chef, KFZ-Meister Fritz Faupel, ist er der „ruhende Pol“ des Autohauses.
BAD WILDUNGEN. Morgens um 8 Uhr, wenn die Crew des Autohauses Faupel im Bad Wildunger Stadtteil Wega eintrudelt, sitzt Peter Beisenherz schon eine halbe Stunde an seinem Arbeitsplatz. „Ich komme gern früher, um noch in Ruhe einen Kaffee zu trinken und mich auf den Tag einzustimmen“, sagt der 55-Jährige. „Diagnoseplatz“ steht groß über seinem Tisch in der Werkstatt. Die Diagnose ist nämlich seine wichtigste Aufgabe: Wenn die Kunden mit aufleuchtenden Auto-Kontrolllampen um Rat fragen, sucht er nach dem Grund für die Warnung. „Elektronische Fehlerauslese“ heißt das heutzutage. „Da kann ich richtig drin aufgehen“, erzählt Beisenherz lachend. Zu seiner Arbeit gehören auch die zahlreichen Abgasuntersuchungen – schließlich kommen TÜV oder Dekra jeden Tag ins Autohaus. Und natürlich hilft er auch bei Lichtwochen und Reifenwechseln – nur bei den großen Reifen packen die Lehrlinge an. Dafür profitieren die Auszubildenden von seinem Wissen, wenn Kunden mit älteren Modellen kommen.
Seit September 2014 arbeitet er jetzt bei Fritz Faupel, einem Familienbetrieb mit neun Mitarbeitern. Davor hatte er die Hoffnung auf einen Job schon fast aufgegeben. Dabei ist Peter Beisenherz KFZ-Meister. Elf Jahre lang hatte er eine eigene Autowerkstatt im 44 Kilometer entfernten Sachsenberg. Doch dann rentierte sich der Ein-Mann-Betrieb nicht mehr. Zunächst ging er als KFZ-Mechaniker zu Raiffeisen. Als die Stelle gestrichen wurde, wechselte er als Schweißer zu einem Maschinenbauer. Als seine Abteilung stillgelegt wurde, begann das, was Peter Beisenherz die „Spirale abwärts“ nennt. Er verdingte sich als Leiharbeiter – machte Urlaubsvertretungen in verschiedenen KFZ-Werkstätten, schuftete im Kraftwerk am Edersee und als Schweißer bei diversen Unternehmen. Das Geld reichte trotzdem nicht, um Extra-Kosten für die geistig behinderte Schwester aufzubringen, die er in Sachsenberg betreut. Und mit zunehmendem Alter waren selbst die Leiharbeitsjobs kaum noch zu haben.
Seine Ehe zerbrach. 2011 erlitt er einen Herzinfarkt: „Da hat die Pumpe gesagt, dass es nicht mehr geht“, sagt Beisenherz. Mehrere Bypässe mussten gelegt werden. Komplikationen machten gleich drei Operationen nötig. Schwere Reifen oder gar Motorblöcke kann er seitdem nicht mehr heben. Zudem leidet er unter Diabetes, muss regelmäßig Insulin spritzen und hat Durchblutungsstörungen in Händen und Füßen. Mit einem Behinderungsgrad von mehr als 50 Prozent hatte er beruflich seitdem keine Chance mehr. „Die lange Arbeitslosigkeit hat mir richtig zugesetzt“, sagt Beisenherz: „Ich hatte das Gefühl, zu nichts mehr nutze zu sein.“ Acht Jahre war er arbeitslos.
Als Lichtblick blieb eigentlich nur sein Hobby, die Jägerei. Und bei einem gemütlichen Abend nach einer Treibjagd um die Burg Lichtenfels bekam er den entscheidenden Tipp. „Da gibt es ein Programm. Melde dich doch mal beim Integrationsfachdienst“, riet die Bekannte. „Da habe ich gleich am Montag bei Frau Rohe angerufen“, erzählt Beisenherz. Josefine Rohe, Diplom-Sozialarbeiterin beim Integrationsfachdienst, kümmert sich im Auftrag des LWV Hessen Integrationsamtes um die älteren Schwerbehinderten im Kreis Waldeck-Frankenberg. Für die Initiative Inklusion versucht sie, ihnen einen neuen Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Sie half Beisenherz bei der Aktualisierung seiner Bewerbungsunterlagen, entwikkelte ein Fähigkeitsprofil und machte ihm neuen Mut. Diese sogenannten heranführenden Maßnahmen sind eine Besonderheit des hessischen Programms. Und sie wusste, dass Fritz Faupel einen neuen Mitarbeiter sucht, der auch in der Diagnostik fit ist.
Vier Wochen später ging Beisenherz zum Probearbeiten nach Bad Wildungen-Wega. Dass er sein Handwerk versteht, merkte sein neuer Chef Fritz Faupel sofort. Auch die Chemie stimmte zwischen den Männern, die beide viele Jahre in der Instandsetzung bei der Bundeswehr gearbeitet haben. „Er passte gut zu uns“, urteilt Faupel. „Das war das absolute Hochgefühl“, sagt Beisenherz.
Nach den Jahren der Arbeitslosigkeit gab es jedoch neue Entwicklungen bei der Autotechnik. Beisenherz brauchte eine Schulung, um mit den neuen Diagnosegeräten klarzukommen, sowie einen Lehrgang für die Abgas-Untersuchungen. Und weil das Jobcenter die 2.000 Euro teure Weiterqualifikation nicht zahlen wollte, sprang das LWV Hessen Integrationsamt ein. Der LWV finanzierte auch das mehr als 9.000 Euro teure KTS-Diagnosegerät, das zur Arbeitsplatzausstattung gehört.
Heute sagt Autohaus-Chef Faupel: „Ich hatte es mir schwieriger vorgestellt.“ Sicherlich müsse sein neuer Mitarbeiter öfter zum Arzt als die jungen Lehrlinge, doch nach zwei Operationen am Schultergelenk weiß Faupel aus eigener Erfahrung, was Krankheiten bedeuten. „Peter ist eine Entlastung für uns“, sagt Faupel.
Zudem gibt es in den ersten vier Jahren eine Inklusionsprämie von 3.000 Euro jährlich. Diese Prämien stammen aus der Ausgleichsabgabe, die Unternehmen mit mindestens 20 Mitarbeitern zahlen, die keine Schwerbehinderten beschäftigen. Auch das Jobcenter hilft und übernimmt im ersten Jahr die Hälfte des Gehalts von Peter Beisenherz.
Sowohl Faupel als auch Beisenherz hatten Josefine Rohe an ihrer Seite. Die Beraterin des Integrationsfachdienstes hatte dem Autohaus schon in früheren Jahren mehrere benachteiligte Jugendliche zur Ausbildung geschickt. Auch wenn es manchmal holperte – in der Summe machte Faupel gute Erfahrungen mit den Kandidaten: „Wenn sie sagt, das ist ein guter Mann, kann ich mich darauf verlassen“, weiß er.
„Wir passen auf, dass beide Seiten zusammenpassen“, erklärt die Expertin. In den ersten Monaten half die Beraterin beim Ausfüllen der Anträge für die Fördergelder und kam zweimal in der Woche in der Werkstatt vorbei, um nach dem Rechten zu schauen – ein kostenloser Service für die Arbeitgeber, der über das Förderprogramm Initiative Inklusion finanziert wird. „Wenn es Schwierigkeiten gibt, kann man die dann schnell aus dem Weg räumen“, sagt Josefine Rohe. Bis zu vier Jahre dauert diese Begleitung, die Rohe als „Rundumpaket“ bezeichnet. „Das ist eine Motivationsfee“, schwärmt Faupel. Und auch Beisenherz war froh, nicht gleich „allein gelassen“ zu werden. „Sie hat mir gute Tipps gegeben“, sagt der 55-Jährige.
Doch das „Super-Betriebsklima“ bei Faupel hat es ihm leicht gemacht. Und dass er gut und freundlich mit den Kunden umgehen kann, weiß sein Chef sehr zu schätzen. Peter Beisenherz, der sich für die lange Anfahrt von Sachsenberg ein neues Auto gekauft hat, würde am liebsten immer bei Faupel bleiben: „Ich möchte überhaupt nicht mehr weg“, sagt er.
Dem steht nichts im Wege, meint sein Chef, der auch stellvertretender Obermeister seiner Innung ist: „Ab März wird er einen unbefristeten Vertrag bekommen.“ Und er ermutigt seine Kollegen in der KFZ-Branche, sich an dem Programm zu beteiligen. Faupel: „Ich kann das jedem empfehlen.“
Gesa Coordes
HINTERGRUND
Das Programm ist ungewöhnlich erfolgreich: Als die hessische Landesregierung das LWV Hessen Integrationsamt im Oktober 2012 mit dem sogenannten „Handlungsfeld 3“ der „Initiative Inklusion“ beauftragte, sollten 340 neue Arbeitsplätze für ältere schwerbehinderte Menschen in Hessen geschaffen werden. Tatsächlich wurden 409 Arbeitsplätze innerhalb von knapp drei Jahren eingerichtet. Davon profitieren Schwerbehinderte, die älter als 50 Jahre sind. Zu 60 Prozent arbeiten sie Vollzeit.
Ziel des Bundesprogramms ist es, die Betroffenen dauerhaft in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dafür erhalten die Arbeitgeber über mehrere Jahre verteilt Inklusionsprämien von insgesamt bis zu 13.000 Euro, die aus der Ausgleichsabgabe finanziert werden. Die Arbeitssuchenden werden von den Integrationsfachdiensten (IFD) mit vielfältigen Angeboten unterstützt, um Ihre individuellen Vermittlungschancen zu verbessern. Dabei liegt das besondere Augenmerk auf möglichen behinderungsbedingten Einschränkungen. Diese Unterstützung, die das Integrationsamt finanziert, wird mit den Kommunalen Jobcentern, der regionalen Agentur für Arbeit und deren Jobcentern abgesprochen und ergänzt deren Leistungen. Dazu kommt eine engmaschige Beratung und ein häufiger Kontakt zu den Betrieben. Dabei konnten vor allem kleinere und mittlere Unternehmen gewonnen werden, die 85 Prozent der Betriebe bilden.
gec
Interview mit Petra Friedrich, Projektleiterin Initiative Inklusion in Hessen, Handlungsfeld 3, sowie Gabriele Tölle und Andrea Wiesenhütter vom Projektteam
Seit drei Jahren gibt es die Initiative Inklusion. Wie sieht Ihre Bilanz für das sogenannte Handlungsfeld 3, also die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen über 50, aus?
Friedrich: Wir konnten sehr viele Arbeitgeber überzeugen, Arbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen zu schaffen, und haben das Ziel des Programms schon jetzt erreicht: 361 Männer und Frauen haben sich in der Probezeit bei ihrem neuen Arbeitgeber bewährt, so dass die erste Prämie ausgezahlt werden konnte. Das ursprüngliche Ziel war, 340 ältere Männer und Frauen nachhaltig in Arbeit zu bringen.
Haben Sie mit diesem Erfolg gerechnet?
Friedrich: Als wir uns zu ersten Kooperationsabsprachen mit Vertretern der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit trafen, hielten diese das Ziel für eine Herkulesaufgabe. Tatsächlich gingen schnell viele Anträge bei uns ein. 86 der neu Eingestellten haben die Probezeit nicht überstanden, meist aus gesundheitlichen Gründen. Aktuell bearbeiten wir 409 laufende Anträge.
Wie konnte das gelingen?
Friedrich: Wir haben Türen geöffnet. Hessenweit haben wir zu 77 Informationsveranstaltungen eingeladen. Mit Integrationsfachdiensten, Jobcentern und Agenturen in allen 26 Kreisen und kreisfreien Städten habe ich Gespräche geführt. Es gab einen regen Austausch. Wir haben die Arbeitgeber von Anfang an kontinuierlich begleitet. Bei allen Fragen – zum Beispiel, wenn der Arbeitsplatz angepasst werden musste – haben wir beraten. So konnten wir erreichen, dass befristete Arbeitsverträge in unbefristete umgewandelt wurden. Nur 41 Arbeitsverhältnisse wurden nach dem ersten Jahr beendet. Der dichte Kontakt zu den Arbeitgebern hat sich bewährt. Tölle: Die Arbeitgeber hat überzeugt, dass wir unbürokratisch und gleichzeitig fachlich fundiert vorgegangen sind. Für sie war stets eine Ansprechpartnerin erreichbar. Und der Erstantrag konnte in anderthalb Minuten ausgefüllt werden. Friedrich: Dass die Initiative so erfolgreich ist, liegt aber auch daran, dass die Förderung im vierten Jahr weiterläuft. Damit werden die Arbeitsverhältnisse verfestigt. Das ist eine hessische Besonderheit, ebenso wie die mit den Integrationsfachdiensten entwickelten heranführenden Maßnahmen.
Wiesenhütter: Die Menschen werden optimal auf die Arbeitsplatzsuche vorbereitet, behinderungsbedingte Besonderheiten dabei berücksichtigt. Es werden Strategien überlegt, die Bewerbungsunterlagen optimiert, Bewerbungsgespräche trainiert. Anforderungen, Fähigkeiten und Belastungen an möglichen neuen Arbeitsplätzen werden genau angeschaut und die Arbeitgeber über begleitende Hilfen des Integrationsamtes informiert, die sie unterstützen könnten. Alle Maßnahmen sind auf den Einzelnen zugeschnitten. So bestand auch die Möglichkeit, ihn ab dem ersten Tag am neuen Arbeitsplatz zu begleiten. Bei Menschen, die mehr als zehn Jahre ohne Arbeit sind, ist das besonders wichtig.
Also ein rundum erfolgreiches Programm…
Friedrich: Ein gemeinsamer Erfolg aller Beteiligten. 37 Prozent der Menschen, die bis zu anderthalb Jahre ohne Arbeit waren, und 22 Prozent der langzeitarbeitslosen Männer und Frauen konnten vermittelt werden. 83 Prozent von ihnen hatten eine Ausbildung oder studiert. Die überwiegende Mehrzahl der Arbeitsplätze wurde in kleinen und mittleren Unternehmen geschaffen.
Wie geht es jetzt weiter?
Tölle: Wir bleiben Ansprechpartner der Arbeitgeber für 409 Arbeitsverhältnisse und die ersten vier Jahre der Beschäftigung. Prämien werden bis 2019 ausgezahlt. Neue Anträge werden in das Hessische Perspektivprogramm HePAS übergeleitet.
Was kann man von der Initiative Inklusion lernen?
Friedrich: Der Erfolg war möglich, weil Akteure aus unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen zur Zusammenarbeit bereit waren. Die Überwindung des „Topfdenkens“ hat der hessischen Idee Rückenwind gegeben und nachhaltig Überzeugungsarbeit für die Beschäftigung behinderter Menschen geleistet. Und: Erfolgreiche Arbeitsplatzprogramme fangen mit einer hohen Qualität im Einzelfall an.
HePAS oder künftige Initiativen treffen jetzt auf aufgeschlossene Arbeitgeber, das ist eine gute Basis.
Das Interview führte Elke Bockhorst