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Frei und sicher

Frei und sicher

Stadtteil Bettenhausen in Kassel, Sälzerhof 13a, ein L-förmiges Haus, Erdgeschoss und holzverkleidetes Obergeschoss. Auf den ersten Blick nichts Besonderes. Aber das täuscht: Hier wohnen Menschen in einer ganz besonderen Wohnform. Denn seit Mitte 2015 leben auf der neu errichteten 1. Etage psychisch kranke Menschen in eigenen Appartements im „Betreuten Wohnen plus“. Und die Bewohner im Parterre haben zwölf neue Nachbarn bekommen.

KASSEL. Appartement 206, die Tür geht auf. „Kommen Sie doch bitte rein“, fordert der junge Mann im Sweatshirt seine Besucher auf. Die Abendsonne taucht seine Wohnung in freundliches Licht. Mario-Johey Perez rückt für den Gast einen Stuhl zurecht und nimmt selbst auf der Bettkante Platz. Decke und Kissen sind ordentlich glattgestrichen. Okay, auf der Küchenzeile stapelt sich ein bisschen was. Aber in so mancher Studentenbude sieht es nicht viel anders aus – alles normal. Perez blickt sich mit dem Blick eines stolzen Hausbesitzers um: „Ich hab’s hier richtig bequem. Und die Möbel sind meine. Das liebe ich!“ Sechs Jahre hat er unten in der stationären Wohneinrichtung gelebt, da hatte er nicht so viel Einfluss auf die Zimmergestaltung. Jetzt ist er sein eigener Herr, muss selbst aufräumen und saubermachen, kauft für sich ein. Für den 33-Jährigen ein großer Schritt „auf einem harten holprigen Weg“, wie er über sein Leben sagt.

CHANCE GENUTZT

Als der Ludwig-Noll-Verein, Träger der Einrichtung in Bettenhausen, 2014 mit dem Bau eines weiteren Stockwerks mit zwölf Appartements begann, dachte Perez nicht sofort an eine Veränderung für sich persönlich. Sein Bezugsbetreuer fragte ihn eines Tages, ob er sich vorstellen könnte, eine Etage höher zu ziehen. Ins „Betreute Wohnen plus“.

Er war interessiert und freundete sich mit dem Gedanken an, ein stärker selbstverantwortetes Leben zu führen. „Ich warte auf meine Chance und nutze sie“, beschreibt er seine Strategie. Warum er in dem Haus für schwer psychisch Kranke lebt, mag er nicht erzählen. Muss er auch nicht. Wichtig für ihn: Er arbeitet in der Tagesstätte im psychosozialen Zentrum des Ludwig-Noll-Vereins als Beikoch und hat dort gerade eine unbefristete Stelle angeboten bekommen. „Nie habe ich gedacht, dass ich das schaffe. Mir macht das so viel Spaß. Da bleibe ich!“ Es läuft gerade rund für ihn.

Vier Türen weiter, Appartement 210, gleicher Grundriss auf 26 Quadratmetern, ein Raum mit kleiner Küchenzeile und separatem kleinem Bad, und doch eine andere Welt. Auch Detlef Jacobi hat den Umzug unten vom stationären Wohnen hier nach oben ins kleine eigene Reich mit Balkon und Blick in die Abendsonne gewagt. Bei ihm sieht’s aus wie in der guten Stube. Aufgeräumt, Wachstuch auf dem Esstisch, ein großes Bild überm Bett, das ihm die Mitbewohner von unten geschenkt haben. „Eine richtige eigene Wohnung wäre mir zu viel. Hier das Appartement in Schuss zu halten, reicht mir.“ Der 57-Jährige findet in seinem neuen Zuhause „alles viel schöner. Und alles ist so neu: Ich möchte es möglichst so erhalten“. Und auch wenn Putzen „ein rotes Tuch“ für ihn ist, „ich mag’s sauber, also mache ich es“. Seine Mutter würde sich sicher freuen über so viel neues Selbstbewusstsein ihres Sohnes. Ein großes Portraitfoto von ihr hängt über dem Tisch, „aber sie ist leider 2012 gestorben“.

Viel Kontakt hat er zu seiner Familie nicht. Das macht Detlef Jacobi ein wenig traurig. Von seinen vier Geschwistern steht er nur mit einem Bruder regelmäßig in Verbindung. Dafür trifft er sich gern mit einer seiner Nachbarinnen auf der Etage. Dann geht’s des Öfteren beim Monopoly Spielen rund. Mit den Bewohnern des Heimbereichs bleibt er in Verbindung, singt weiterhin im Chor und hält sich in der Bewegungsgruppe fit. Ansonsten nimmt er jeden Tag das Angebot einer Tagesstätte wahr.

NEUE FREIHEITEN

Jacobi und Perez profitieren jeder auf seine Weise vom Plus des Betreuten Wohnens im Sälzerhof. Die neuen persönlichen Freiheiten genießen sie in einem besonders geschützten Rahmen. Sie wohnen mit eigenem Mietvertrag in ihrem Appartement mit eigener Klingel und eigenem Briefkasten. Sie erhalten die im Hilfeplan für sie festgelegte Unterstützung, wie sie sie in einer Mietwohnung mitten in der Stadt auch bekämen. Doch hier ist im Büro, auf demselben Flur wie die Appartements, tagsüber von 9 bis 16 Uhr immer ein Betreuer ansprechbar. Im Notfall können die Mieter den Nacht- und Wochenenddienst des Heimbereiches in Anspruch nehmen. Kontakte untereinander ergeben sich fast automatisch durch das Wohnen Tür an Tür, beim Kochen am Samstag im Gemeinschaftsraum oder bei gutem Wetter im Garten. „Die Bewohner der beiden Etagen untereinander machen da keine Unterschiede zwischen ambulanter und stationärer Wohnform“, berichtet Stefanie Ulrich-Manns, fachliche Leiterin des Psychosozialen Zentrums des Ludwig-Noll-Vereins. „Sie nutzen die Begegnungsmöglichkeiten im ganzen Haus.“ Durch die enge Zusammenarbeit der Teams fürs Wohnheim und fürs betreute Wohnen können die Bewohner die offenen Gruppenangebote gemeinsam nutzen.

„Gefühlte Sicherheit bei maximaler Freiheit, ist das Rezept, das für unsere Bewohner aufgeht“, sagt Diplom-Sozialpädagoge Rolf Reyher, Bereichsleiter fürs Betreute Wohnen plus. Das „normale“ Betreute Wohnen, wo der Betreuer nur ein- bis dreimal die Woche vorbeischaut, sei nicht für jeden ausreichend. Doch so mancher führe hier mit intensiver Begleitung ein weitgehend selbstständiges Leben. „Unser Verein hat die Versorgungslücke gesehen und mit diesem Angebot dazu beigetragen, diese Lücke zu schließen“, sagt Psychologin und Diplom-Sozialpädagogin Ulrich-Manns. Christiane Kanacher, Fachkrankenschwester für Psychiatrie, erzählt von einer Bewohnerin, über die es vor dem Einzug in die erste Etage hieß, „das schafft die nicht, die kann allein keine Ordnung halten“. „Nichts von alledem“, freut sich Kanacher. „Wir staunen, was sie alles selber kann.“

MIETER WIE ANDERSWO

Ohnehin ist für das Personal an der Wohnungstür der Appartements Schluss. „Die Bewohner sind Mieter wie anderswo auch. Da darf niemand einfach reinlaufen und mal nachschauen“, erläutert Armin Bischoff, Diplom-Pädagoge und Geschäftsführer des Psychosozialen Zentrums des Ludwig-Noll-Vereins. Allerdings gebe es manchmal durchaus „harte Verhandlungen“ der Bezugsbetreuer mit den Betreuten, wenn’s ums Aufräumen und Sauberhalten der Miniwohnungen gehe.

Perez und Jacobi bekommen das jeder auf seine Weise ganz gut hin „Ich will in jedem Fall hier wohnen bleiben“, wünscht sich Jacobi. Er ist froh, dass er sich jetzt nicht mehr nach geregelten Abläufen richten muss. Andererseits beruhigt es ihn, dass im Haus ein Nachtdienst zu erreichen ist, auch wenn er sich neulich selbst zu helfen wusste, als er einmal wieder „Stimmen hörte, die gar nicht da sind“. Für Perez dagegen ist klar. „In zwei, drei Jahren möchte ich ins selbstständigere Betreute Wohnen wechseln“. Aber jetzt erstmal raus auf den schönen Balkon und in die Sonne blinzeln.

Irene Graefe


HINTERGRUND

BESONDERS INTENSIV

Bislang bot das Haus am Sälzerhof als Wohnheim zwölf Wohn- und Betreuungsplätze für Menschen an, die an einer chronischen psychischen Erkrankung leiden und eine ganztägige Betreuung benötigen. Das Gebäude war von vornherein so geplant, dass es um ein Geschoss aufgestockt werden konnte. Da für einige Klienten immer wieder ein Bedarf an intensiv Betreutem Wohnen bestand, schlug der LWV vor, nicht einfach das Wohnheim zu vergrößern, sondern im Erweiterungsbau zwölf Appartements einzurichten. Der Ludwig-Noll-Verein griff die Idee auf. Die kleinen Wohnungen werden an chronisch psychisch Kranke vermietet, die zwar nicht die Rundum-Betreuung eines Heimes, aber doch den kurzen Weg zu Betreuung und tagesstrukturierenden Angeboten brauchen. So entstand das Projekt „Betreutes Wohnen plus“. Es ist formal ein Angebot des betreuten Wohnens als ambulante Unterstützung der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch XII.

Die Bewohner sind Mieter der Appartements und erhalten im Rahmen ihres individuellen Hilfeplans eine intensive Betreuung. Sie können die Infrastruktur des Wohnheims nutzen, insbesondere im Notfall auf die Wochenend- und Nachtdienste zurückgreifen. Die Betreuungskosten im ambulanten Wohnen übernimmt der LWV.

Ludwig-Noll-Verein für psychosoziale Hilfe e.V., Frankfurter Straße 209, 34134 Kassel, Telefon 0561 209860
www.ludwig-noll-verein.de

ig