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LWVkonkret 03.2016

"Ich hatte schon immer gerne Recht"

"Ich hatte schon immer gerne Recht"

LWVkonkret 03.2016

Ein sozial engagierter Anwalt macht's möglich: Mirena Dietterle lernt den Beruf der Rechtsanwaltsfachangestellten - trotz Mukoviszidoseerkrankung. Das Hessische Perspektivprogramm HePAS unterstützt die Kanzlei mit finanziellen Zuschüssen zum Ausbildungsplatz.

BABENHAUSEN. Wenn das Telefon klingelt, gibt es kein Entrinnen. Dann hebt sie den Hörer ab und sagt: "Dr. Friedrich und Partner, Rechtsanwälte, Dietterle". Da darf kein Zögern, keine Scheu in der Stimme liegen. Denn nicht immer ist der Anrufer bester Laune, wenn er die Dienste eines Anwalts in Anspruch nehmen möchte. Zu Beginn ihrer Ausbildung ist es Mirena Dietterle nicht leicht gefallen, souverän zu klingen. Sie hat lieber ihrer Kollegin den Vortritt gelassen. Doch wer den Beruf der Rechtsanwaltsfachangestellten lernen will, muss selbstbewusst sein. So mädchenhaft zierlich ihre Person auch erscheinen mag, die 17-Jährige hat in ihrer Lehrzeit seit September 2015 in der Babenhäuser Rechtsanwaltskanzlei dazugelernt, hat an ihrem Auftreten gearbeitet.

Heute muss sie immer mal wieder ganz allein den Telefondienst der Kanzlei bestreiten. Eine hohe Verantwortung. Das sagt ihr Chef, Rechtsanwalt Dr. Ingo Friedrich: "In dem Moment ist sie das Aushängeschild der Kanzlei, repräsentiert dasganze Büro. Wenn sie Mandanten anrufen muss, die Polizei oder gegnerische Anwaltskanzleien, ist es ihre Aufgabe, im Telefonat zum Ziel zu kommen: Am Ende muss ein Ergebnis stehen. Man darf sich nicht vertrösten lassen."

Telefonieren und Gesprächsführung kann man üben, das hat Mirena Dietterle mit ihrer Kollegin, der Rechtsfachwirtin Saskia Mayer getan, die für ihre Ausbildung zuständig ist. Sie hat ihr über die Schulter geschaut, wenn sie die Ablage machte und genau aufgepasst, wie man Mandanten empfängt, die zum Termin erscheinen. Eine ganz normale Ausbildungssituation, möchte man meinen. Doch etwas unterscheidet die junge Frau von anderen Auszubildenden. Sie lebt mit Mukoviszidose. Eine nicht heilbare, erblich bedingte Stoffwechselerkrankung, die zur Verschleimung der Lunge führt. Mirena Dietterle hat von Kindesbeinen an gelernt, mit ihrer Erkrankung zu leben, ist medikamentös eingestellt. Auch die Diabetes, die erschwerend hinzugekommen ist, hat sie so weit im Griff. Aber nicht verhindern kann sie, dass ihr geschwächtes Immunsystem immer wieder einmal Viren und Bakterien passieren lässt. Dann muss sie das Bett hüten und kann nicht zur Arbeit erscheinen.

Keine gute Voraussetzung, um einen Ausbildungsplatz zu finden. Wenige Arbeitgeber lassen sich auf etwas Kompliziertes ein, wenn sie es einfacher haben können.

Rechtsanwalt Ingo Friedrich denkt anders. Kirchlich engagiert, ist seine Grundhaltung zum Leben von christlichen Werten geprägt. Er ist Mitglied im Verein Christ und Jurist, sogar dessen Pressesprecher. Seine Verantwortung als Rechtsanwalt sieht er nicht nur seinen Mandanten gegenüber, sondern gesamtgesellschaftlich. Wo er seinen ganz persönlichen Beitrag zu einer besseren Welt leisten kann, macht er das. Für seine Kanzlei hat er ethische Grundlagen formuliert, die auf der Homepage nachzulesen sind. Als der Kontakt zu Mirenas Eltern zustande kam, die in der Nachbargemeinde aktiv sind, musste er nicht lange überlegen, um der jungen Frau ein Praktikum in seiner Kanzlei zu gewähren.

EINSTIEG BERUFSPRAKTIKUM

In der achten Klasse stand für Mirena Dietterle das Berufspraktikum an. Sie hatte zunächst an einen Kindergarten gedacht. Doch die Arbeit der Erzieherinnen ist körperlich anstrengend und umgeben von Kleinkindern ist auch das Ansteckungsrisiko hoch. Es sollte also ein Bürojob sein. Die Idee, in einer Anwaltskanzlei zu arbeiten, lag ihr nahe: "Ich bin schon immer in unserer Familie diejenige gewesen, die gerne Recht hatte", sagt sie und lächelt verschmitzt. So freute sie sich, dass sie 2013 ihr Schulpraktikum in Friedrichs Kanzlei absolvieren konnte. "Als es später um die Ausbildung ging, habe ich ihr geraten, sich noch eine größere Kanzlei anzusehen und habe ihr einen entsprechenden Kontakt vermittelt", sagt Friedrich. Aber die familiäre Atmosphäre gefiel Mirena im Vergleich besser. Im September 2015 begann sie ihre Ausbildung. Mit Abschluss des Vertrags ließ sich Friedrich auf viele Unwägbarkeiten ein. "Wir wussten nicht, wie sich Mirenas Erkrankung auf den Berufsalltag auswirken würde. Ich habe zuvor das Einverständnis meiner Mitarbeiterinnen eingeholt. Denn wenn nicht alle Beteiligten diese Entscheidung mittragen, kann es nicht funktionieren."

Im Schnitt ein bis zwei Arbeitstage pro Woche fehlt die Auszubildende, wenn Friedrich ihre Klinikaufenthalte auf das Jahr umgelegt rechnet. Dass Mirena sich krank melden muss, geschieht oftmals sehr kurzfristig: "Wenn ich morgens schlecht Luft bekomme, muss ich absagen." Und wenn es ganz schlecht läuft, wächst sich bei Mukoviszidose eine Erkältung zur Lungenentzündung aus. "In der Schule habe ich oft gefehlt", erzählt sie, "deswegen habe ich auch kein Abitur gemacht. Ich hätte zu viel nachholen müssen, das wollte ich nicht."

REIFEVORSPRUNG

Aus Sicht des Rechtsanwalts sprach für Mirena nicht nur, dass sie die Rechtschreibung beherrscht und Abstraktionsvermögen besitzt, sondern auch ihr Charakter. "Sie ist eine Perle, ein Goldstück", sagt er und begründet seine Einschätzung mit ihrem Mut zur eigenen Meinung, sie sei ehrlich, pünktlich, zuverlässig und tüchtig. "Ich habe auch den Eindruck, dass Mirena durch ihre Krankheit bedingt einen Reifevorsprung gegenüber vielen Gleichaltrigen hat. Sie weiß, was wirklich wichtig ist im Leben", sagt Friedrich.

Aber der Anwalt muss auch einräumen, dass die vielen Fehltage ein erhöhtes Maß an Organisation in der Kanzlei nach sich ziehen. "Es ist schon ein Stressfaktor, dass man immer damit rechnen muss, dass Mirena ausfällt. Ganz abgesehen davon, dass man sich dann auch immer Sorgen um sie macht", sagt er. Eine Kanzleiangestellte, die im vergangenen Jahr in Rente gegangen ist, steht als Aushilfe zur Verfügung. So können Fehlzeiten in der Regel gut aufgefangen werden. Aber gerade, wenn die Absage sehr kurzfristig erfolgt, kann die frühere Mitarbeiterin nicht immer einspringen. Dennoch bekommt es das kleine Kanzleiteam immer wieder hin - und wenn der Chef selbst Telefondienst machen muss.

Dass das hessische Perspektivprogramm HePAS finanzielle Unterstützung leistet, wusste Friedrich zunächst nicht, als es um den Ausbildungsplatz ging. Er findet die Maßnahmen gut, denn so erhalten Arbeitgeber zumindest wirtschaftlich einen Ausgleich für den Mehraufwand, den die Beschäftigung schwerbehinderter Mitarbeiter mit sich bringen kann. "Die zuständige Mitarbeiterin des Landeswohlfahrtsverbandes hat uns sehr gut informiert", sagt Friedrich. Vor der Bewilligung der Förderung stand allerdings das Ausfüllen unzähliger Formulare. "Dabei keinen Fehler zu machen, ist eine Herausforderung", sagt er lächelnd, der schließlich mit solchen Arbeiten bestens vertraut ist. "Aber alle Fragen haben ihre Berechtigung. Das muss so sein." Im Endeffekt hat sich die Mühe gelohnt. So bezuschusste das Integrationsamt das Praktikum mit 1.000 Euro und die Ausbildung über drei Jahre mit 7.000 Euro inklusive einer Zusatzprämie, da die Kanzlei aufgrund ihrer Größe nicht verpflichtet ist, Schwerbehinderte zu beschäftigen. Dazu kommen nach § 26b Schwerbehindertenausgleichsabgabeverordnung pro Ausbildungsjahr 2.000 Euro und eine weitere Prämie in Höhe von 2.000 Euro.

Wie es nach der Ausbildung mit Milena Dietterle weiter gehen wird, ist noch ungewiss. Ihr Chef sagt: "Sie hat ja erst ein paar Monate hinter sich. Aber eins kann ich sagen: Bislang habe ich alle meine Auszubildenden anschließend übernommen."

Katja Gußmann


HINTERGRUND

HEPAS - PERSPEKTIVE AUF EINE AUSBILDUNG

Ziel ist es, schwerbehinderte Menschen in ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis zu vermitteln. Dabei arbeiten das Hessische Ministerium für Soziales und Integration (HMSI) und das LWV Hessen Integrationsamt eng mit Jobcentern und der Agentur für Arbeit zusammen. HePAS bietet Unternehmen und Dienststellen finanzielle Anreize, behinderte Menschen als Fachkräfte zu gewinnen, um mit ihnen gemeinsam ihre wirtschaftlichen Ziele erreichen zu können.

Freiwillige Praktika werden im Rahmen der Arbeitssuche und zur Vorbereitung auf eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durch eine einmalige Prämie in Höhe von 1.000 Euro gefördert.

Arbeitgeber können eine Prämie von bis zu 8.000 Euro erhalten, wenn sie einen Ausbildungsplatz in einem anerkannten Ausbildungsberuf mit einem schwerbehinderten Menschen besetzen.

Sozialversicherungspflichtige Probebeschäftigungen können bis zu maximal sechs Monaten mit einer Prämie in Höhe von 1.000 Euro monatlich gefördert werden.

Einstellungsprämien: Arbeitgeber können für die Besetzung eines Arbeitsplatzes mit einem schwerbehinderten Menschen eine Prämie in Höhe von bis zu 9.000 Euro erhalten.

Kommt der neue Mitarbeiter/die neue Mitarbeiterin oder Auszubildender/Auszubildende aus einer Werkstatt für behinderte Menschen oder wird er/sie nach einer innerbetrieblichen Qualifizierungsmaßnahme im Rahmen der Unterstützten Beschäftigung eingestellt oder ausgebildet, werden zusätzlich bis zu 5.000 Euro gezahlt.

gus

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