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LWVkonkret 03.2106

Sekretärin mit Vorbildcharakter

Sekretärin mit Vorbildcharakter

LWVkonkret 03.2106

Nach 25 Jahren an die eigene Schule zurück? Für manchen eine beklemmende Vorstellung. Nicole Siel aber fühlt sich bestens dabei, obwohl ihr die Rückkehr eine Menge Arbeit, viel Lärm und immer Trubel beschert hat: Die 41- ist hörgeschädigt, hat als Kind an der Hermann-Schafft-Schule in Homberg gelernt und ist seit Jahresbeginn dort mit einer halben Stelle als Schulsekretärin angestellt.

HOMBERG/EFZE. Der Schulleiter, Dietmar Schleicher, sagt: "Morgens ist es ein Tollhaus im Schulsekretariat!" Und damit meint er nicht etwa, dass dort nachlässig gearbeitet würde. Nein, es ist die knappe Beschreibung einer höchst anspruchsvollen Herausforderung. Die auch von Nicole Siel gemeistert wird. Und hier kommt ein "Obwohl" ins Spiel. Denn die Kauffrau für Bürokommunikation meistert den turbulenten Job, obwohl sie seit frühester Kindheit schwerhörig ist. Oder wie sie es beschreibt: "Ohne meine Hörgeräte bin ich eigentlich gehörlos." Da ist ein Arbeitstag mit Tür-auf-Tür-zu-Dynamik, ständig klingelndem Telefon und Schüler-, Eltern- und Lehrerbesuchen zumindest schwer vorstellbar.

Warum also ist sie genau hier? In dem kleinen, sonnigen Schulbüro mit Tresen, PC, Aktenschränken und vielen Anfragen? Die quirlige Nicole Siel eignet sich für den Job auf besondere Weise: Sie kennt die Schule von klein auf, ist selbst hörgeschädigt und beherrscht die Gebärdensprache. Sie ist also die perfekte Anlaufperson für die gut 200 Hermann- Schafft-Schüler, besonders für die Gehörlosen. Erleichternd allerdings, dass sie die ersten zwei Jahre erst ab halb zwölf mittags im Einsatz ist, da ist der allergrößte Ansturm gelaufen, es geht etwas mehr um Datenverwaltung und Akten.

BUNTE BERUFSBIOGRAFIE

Rote Stoppelfrisur, braune Augen, Brille, viel Witz und ein angenehm freches Lachen: Die freundliche und unkompliziert wirkende Nicole Siel ist nach einigen Monaten in der Homberger Schule fast schon wieder "ganz zu Hause". Die Mittagspause der Schüler ist vorbei, auf den Fluren wird es stiller; sie berichtet aus ihrer Kindheit. Erst als sie drei Jahre alt war, wurde ihre Schwerhörigkeit von der Uniklinik Marburg bestätigt. Vielleicht, hieß es damals, rühre ihre Erkrankung von einer nicht erkannten Mittelohrentzündung her. Aber sie hat auch einen zehn Jahre älteren Bruder, der gehörlos ist; beide Eltern hören normal. Von Helsa, wo die Familie wohnte, besuchte sie ab 1980 die Hermann-Schafft-Schule bis zum Realschulabschluss 1991 - stets als Fahrschülerin. In den Jahren seither hat sie viele berufliche Stationen durchlaufen. Nach der Fachoberschule in Essen und der Berufsfachschule beendete sie ihre Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation und arbeitete bei EAM, ab 2003 in Teilzeit, nachdem ihre Tochter Ca- lantha geboren war. Als 2007 der Sohn Cedrik dazu kam, wurde es beruflich schwieriger, sie beendete die Festanstellung und machte sich "beruflich rar". Mehrmals zum Weihnachtsgeschäft bei Amazon, eine Weile in der Buchhaltung im Internetversandhandel und bei Eurest im Hause B. Braun Melsungen, bis sich Nicole Siel arbeitssuchend meldete. Schließlich wollte es der Zufall, dass sie in der Jobbörse von der Suche ihrer alten Schule nach einer Sekretärin erfuhr. "Aha, Frau Tobi geht in Rente", war Nicole Siels erster Gedanke. Ria Tobi kannte sie noch aus der eigenen Schulzeit. Der zweite Gedanke aber: "Das könnte was für mich sein!"

"EIN IRRES GEFÜHL VON LEICHTIGKEIT"

Vom Vorstellungsgespräch Ende Oktober an ging es ganz schnell. Zwar hatten sich 160 Personen auf die freie halbe Stelle beworben, aber bereits Mitte Dezember nach zwei Wochen Probearbeit war klar: Nicole Siel ist die Richtige. Schulleiter Schleicher, dessen Arbeitszimmer gleich um die Ecke neben dem Sekretariat liegt, bestätigt: "Wir freuen uns, dass Frau Siel da ist!" Man habe es sich nicht leicht gemacht mit der Entscheidung, wissend, was für eine Belastung auf die Hörgeschädigte zukommen würde. Je lauter es sei in Siels Büro, desto schwieriger werde für sie das Verstehen. Aber, fügt Schleicher an: "Wenn nicht wir jemanden wie sie einstellen, wer dann?" Es gab Unterstützung vom Arbeitsamt, die ehemalige Sekretärin "hat sich total reingehängt bei der Einarbeitung", wie der Chef betont. Und auch die Kollegin, die die Vormittagsschicht im Sekretariat hat und mit der sich Nicole Siel täglich von halb zwölf bis zwölf zur Übergabe trifft, hat das neue Modell möglich gemacht. Nun soll noch eine Hörhilfe zum Telefonieren für Nicole Siel angeschafft werden. Schleicher: "Sie hat eine Vorbildfunktion für die Schüler, im Umgang mit denen ist es sehr positiv, dass sie die Gebärdensprache beherrscht."

Sie selbst empfand in den wohlbekannten Gängen und zwischen etlichen noch von früher bekannten Lehrern und Erziehern ein "irres Gefühl von Leichtigkeit". Allein schon bei der Frage, wie man die nun anspricht. Schnell war klar: "Ach komm, wir duzen uns!" Und die Kinder wollten gleich wissen: "Wie war denn die Frau Siel damals in der Schule?"

BÜROALLTAG MIT TELEFON UND PC

Wenn Nicole Siel um halb zwölf ins Büro kommt, sind ihre eigenen Kinder längst in ihren Schulen, sie besuchen ab dem Sommer die dritte und die siebte Klasse. Nach Hausarbeit und einer halben Stunde Fahrtzeit und der Übergabe muss sie sich am Schreibtisch zunächst einen Überblick über die E-Mails verschaffen. Anfragen von Eltern, Infos von Lehrern, Krankmeldungen. Einige wenige Eltern sind selbst gehörlos, statt Telefon ist da Mail gefragt. Nicole Siel führt die Klassenlisten und die Buslisten, es gibt viele Fahrschüler, die mit 34 Kleinbussen abgeholt werden. Was braucht sie am meisten für ihren Job? "Nerven!", ist die spontane Antwort. "Sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, nicht den Überblick verlieren".

HERMANN-SCHAFFT-SCHULE IN ZAHLEN

"Schule mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation und mit dem Förderschwerpunkt Sehen" - so lautet der lange Untertitel. Die Hermann-Schafft-Schule wurde 1838 als "ständische Taubstummen-Anstalt" zu Homberg gegründet. Hundert Mitarbeiter hat sie heute und ist in Nordhessen beratend auch für etwa 500 sinnesgeschädigte Kinder und Jugendliche in der Regelschule zuständig. In die Beratungsstelle kommen jedes Jahr 300 Kinder zum pädagogisch-audiologischen Hörtest. Träger ist der Landeswohlfahrtsverband Hessen. Die Schüler können den Haupt- oder Realschulabschluss sowie den Abschluss für Lernhilfe erwerben. Derzeit sind 204 Schüler an der Schule, davon sind 160 hörgeschädigt und 43 sehbehindert.

NUR MIT NUSCHELN GIBT ES PROBLEME

Wenn man eine Weile hier im Sekretariat sitzt, ist klar: Ruhe gibt es nicht. Tür auf, ein Schüler grinst und bringt ein Eis-Pad zurück in den Kühlschrank, die Beule ist versorgt. Tür zu. Tür auf, Lehrerkollegen holen im Sekundentakt Post ab, fragen etwas, Tür zu. Tür auf, Telefon klingelt. Nicole Siel aber bleibt gelassen und erklärt, wie ihre Besucher-Gespräche am besten funktionieren. "Die meisten warten, bis wir Blickkontakt haben. Dann klappt es gut. Nur, wenn jemand, vor allem am Telefon, sehr schnell redet oder nuschelt, dann gibt es Probleme." Tür auf. Ist die Aula frei, können wir die Mensa zum Elternabend nutzen? Tür zu. Profi Siel hat keineswegs den Faden verloren, schließlich muss sie stets alle Daten und Menschen richtig zuordnen. Fahrtenbücher verwalten. Material bestellen. Allein vier Briefe pro Schüleraufnahme verfassen - "da brauch' ich ne ruhige Zeit." Sprich, wenn die meisten zu Hause sind.

Aber halt - es gibt ja auch noch ein Privatleben! Nicole Siel engagiert sich unter anderem auch im Gehörlosensportclub Bad Hersfeld, sie ist dort zweite Vorsitzende. Ihre Sportart ist Bowling. Und dann ist da natürlich noch ihr Mann, zwei Jahre älter als sie und selbst schwerhörig; er ging ebenfalls auf die Hermann- Schafft-Schule. Er ist Zimmermann in einem Betrieb in Rotenburg. Eine ehemalige Schülerfreundschaft! Beide schwerhörig, wie funktioniert das? "Es ist ein schönes Gefühl, dass beide wissen, wie das ist." Und es gibt die Schwiegermutter, die nachmittags einspringt, wenn die Kinder nicht in der Betreuung sein können. Gute Voraussetzungen, um für den "Druckposten" (Schulleiter Schleicher) im Sekretariat gerüstet zu sein. Dazu bekommt Nicole Siel vom Chef großes Lob: "Sie ist eine tolle Persönlichkeit. Sich für nix zu schade, sie springt ein und hilft aus." Wenn demnächst dann die Telefonanlage an ihre Hör-Bedürfnisse angepasst ist, sollte einer langen Karriere als "die Frau Siel" nichts im Wege stehen. Dass der Umgang mit den Schülern hinhaut, steht längst fest. Sie habe als ebenfalls Schwerhörige, sagt Schulleiter Schleicher, eine direktere Kommunikation mit den Kindern. "Wenn sie 'So nicht!' sagt oder 'Benimm dich!', dann kommt das ganz anders an."

Anne-Kathrin Stöber

© Landeswohlfahrtsverband Hessen 2016