Die Tagesförderstätte Dieburg der Nieder-Ramstädter Diakonie lebt ein offenes Konzept vor und führt ihre Klienten in ganz kleinen Schritten ans große Ziel der Inklusion.
DIEBURG. Simone Trautmann ist glücklich. Eng eingewickelt in ihre Fleecedecke, wie in einen Kokon gehüllt, hat sie es sich auf dem weißen Wasserbett bequem gemacht. Liegt auf dem Rücken, nur ihr rechter Arm bewegt sich noch frei, schwenkt in gleichmäßigen Schwüngen einen Stab, an dem ein leichtes Band befestigt ist und seine Achten durch die Luft zieht. Das letzte Fünkchen Stress, das Simone Trautmann noch in sich fühlt, bahnt sich darüber seinen Weg nach draußen in die kuschelige Atmosphäre des Snoezel-Raums. Löst sich auf in den sanften Klängen und dem Farbenspiel des Lichtes, das die Spiegelkugel an die Wände des Wohlfühlzimmers malt.
Die Ruheoase ist beliebt in der Tagesförderstätte der Nieder-Ramstädter Diakonie. 30 schwer, teils mehrfach behinderte Menschen treffen hier täglich aufeinander, um den Tag gemeinsam zu bestreiten. Für die Arbeit in den angegliederten Dieburger Werkstätten fehlen ihnen die nötigen Fähigkeiten oder die Belastbarkeit. Simone Trautmann ist eine von ihnen.
Wenn die Physiotherapeutin an die Tür klopft und sie, die alle "Simönchen" nennen, zur Gymnastik ruft, dann zeigt die junge Frau, dass auch in einem kleinen Körper ein starker Wille stecken kann: Sie macht keinerlei Anstalten, sich aus ihrem Kokon zu befreien. Gutes Zureden und das Versprechen, nach dem Mittagessen die nächste Auszeit nehmen zu dürfen, führen dann doch noch zur Therapie mit dem Gymnastikball.
EINE GROSSE GEMEINSCHAFT
Thomas Kirchmeyer leitet die Tagesförderstätte und kennt seine Beschäftigten, wie die Mitarbeiter ihre Klienten nennen, bestens. Viele sind auf den Rollstuhl angewiesen, da ist es gut, dass sich die hellen Räume der Tagesstätte über 620 Quadratmeter erstrecken dürfen. Während das Snoezel-Zimmer klein ist, sind die anderen Räume groß und offen gehalten. Das entspricht dem Konzept, das hier verfolgt wird: Keine geschlossenen Gruppen, sondern eine große Gemeinschaft, die sich am Tag in verschiedene Projektgruppen sortiert, je nach Leistungsvermögen und Interessen. Das Angebot wird durch Musik, Bewegungs- und Bildungsmöglichkeiten ergänzt. Im November 2013 konnte der Neubau bezogen werden. "Damals waren es zwölf Beschäftigte, die zuvor in der sogenannten Zusatzbetreuungsgruppe der Werkstatt waren, weil sie nicht die Anforderungen der Werkstattarbeit erfüllen konnten und einen höheren Pflegebedarf hatten", erklärt Kirchmeyer. Die Tagesförderstätte ermöglicht den Betreuungsschlüssel von eins zu drei gegenüber eins zu zwölf in der Werkstatt. Derzeit besteht das Team aus sechs Fachkräften, einer Auszubildenden, einem Sozialassistenten und zwei Kräften, die ein freiwilliges soziales Jahr ableisten. Auf dieser Grundlage ist eine ganz andere Arbeit möglich als in der Werkstatt. Es kann individuell auf die Bedürfnisse und den Förderbedarf eingegangen werden, es bleibt Zeit für die Pflege und der Druck der Werkstattarbeit entfällt.
Das bedeutet aber nicht, dass den ganzen Tag gesnoezelt wird. Im Gegenteil. Zur Mittagszeit ist Kochen angesagt. Dann püriert Michael Jünger die Soße, Jürgen Diehl schnippelt Gemüse, auch wenn seine Betreuerin mit ihm gemeinsam das Messer führen muss. Selbst wer aufgrund seiner körperlichen Behinderung nicht aktiv teilnehmen kann, sitzt zumindest dabei und beobachtet. Wenn sich Freude im Gesicht spiegelt, dann ist das schon ein Erfolg. Doch diese Realität zeigt auch, dass in vielen Fällen der Grundgedanke dieser Arbeit, die Menschen fit zu machen für die Arbeit in der Werkstatt, Wunsch bleiben wird.
DIE PASSENDE BESCHÄFTIGUNG FINDEN
Wichtig ist es, die jeweils passende Tätigkeit für die Beschäftigten zu finden. Ein junger Mann beispielsweise, er ist Autist, hat gerne den Arbeitsauftrag übernommen, jeden Mittag den Geschirrwagen zu fahren. Das darf er selbständig machen, er kennt den Weg und die täglich immer gleiche Beschäftigung gibt ihm Sicherheit. "Es ist unsere Aufgabe, die Arbeit so in Aufträge herunter zu brechen, dass sie für die einzelnen Beschäftigten zu bewältigen ist", erklärt Kirchmeyer. Zu den Tätigkeiten zählen viele Dienstleistungsaufträge für die Werkstatt wie Botengänge und -fahrten. "Hier fängt für mich die Inklusion bereits an. Leider wird das häufig nicht so gesehen", sagt Kirchmeyer und spricht damit die Kritik an, die am Konzept der Tagesförderstätten geübt wird. Die Menschen würden abgeschottet und lebten somit weit entfernt vom Inklusionsgedanken. Aber so einfach ist es eben nicht, schwerstbehinderte Menschen in Abläufe zu integrieren, die auf Menschen ohne oder mit einer einfacheren Behinderung zugeschnitten sind. So formuliert Kirchmeyer kleinere Ziele, nämlich zunächst die Integration in das Werkstattleben. "Einerseits sehen die Werkstattbeschäftigten, es gibt noch Menschen mit stärkerer Behinderung, als sie selbst haben. Zum anderen führen wir unsere Beschäftigten an die Werkstatt heran." Schon bald werden jeweils sechs Beschäftigte der Tagesförderstätte ihr Mittagessen im Speisesaal der Werkstatt einnehmen. Und für diejenigen, die mit ihren Fähigkeiten zwischen Werkstatt und Tagesförderstätte liegen, wurde jüngst ein Werkstattraum eingerichtet, in dem Holzspäne und Wachs zu Würfeln gepresst werden. Sie gehen als Anzünder in den Werkstattverkauf.
EINKAUFEN MIT DEM BOLLERWAGEN
Manche Aufgaben führen die Beschäftigten auch vor die Tore der Werkstatt, zum Beispiel das Einkaufen mit dem Bollerwagen. "Wir haben viele Ideen, aber leider scheitert es doch häufig daran, dass wir nicht die nötige Unterstützung bekommen", räumt Kirchmeyer ein. Wenn es nach ihm allein ginge, dann würde schon längst der Gemeindebrief der evangelischen Kirche in Dieburg von seinen Leuten ausgetragen. Oder seine Bollerwagenfraktion wäre im Dienste älterer Menschen unterwegs, um deren Altglas zu entsorgen. Diese körperliche Anstrengung hätte auch den guten Nebeneffekt, gerade den jüngeren Beschäftigten auch ein Ventil für ihre Energie zu bieten. Im vergangenen Jahr sind vor allem Schulabgänger in der Tagesförderstätte aufgenommen worden. Es fällt auf, dass sie motorisch häufig recht fit sind, aber das Sozialverhalten einer Beschäftigung in der Werkstatt im Wege steht. Der jüngste Klient ist erst 16 Jahre alt, 1,80 Meter groß und wiegt 90 Kilo. Er ist Autist und für die Mitarbeiter mitunter eine echte Herausforderung, wenn er seine Energie in Raufereien abbauen möchte. Ein anderer junger Mann, ebenfalls Autist, zudem blind und körperlich ähnlich kräftig, kann stundenlang friedlich in einer gemütlichen Ecke sitzen, um im nächsten Moment völlig unvermittelt um sich zu schlagen - selbst wenn ein Rollifahrer neben ihm sitzt.
Die Mitarbeiter brauchen starke Nerven, so wie Heilerziehungspfleger Maximilian Schledt. Der junge Mann mit Bart ist von oben bis unten bunt tätowiert und liebt seinen Beruf nicht zuletzt deswegen, weil er hier so sein kann, wie er ist und seine Tattoos nicht unterm Hemd verstecken muss. Wenn er sieht, wie Jürgen Klein einen Stuhl rückt, weiß er, dass der schon etwas ältere Jürgen Klein das Stühlerücken so nötig braucht wie die Luft zum Atmen. Wenn Patrick Donhof ständig nach seinem Arm greift, weiß er, dass er ihm freundlich bestimmt die Grenzen aufzeigen muss. Und wenn Vanessa Braun am Tisch sitzt, um gleich die Zwiebeln zu schneiden, wundert er sich nicht, dass sie im nächsten Moment doch lieber nach nebenan geht und bunte Steine sortiert. Sie trägt einen Helm, sie hat Epilepsie, wie neun weitere Klienten.
RUHIG BLEIBEN
Maximilian Schledt hilft Michael Jünger beim Pürieren der Soße, führt dem Schwerstbehinderten behutsam den Arm. "Es ist wichtig, wie man mit den Beschäftigten spricht, der Tonfall macht die Aussage", erklärt er seine Kommunikation mit den Klienten, von denen etwa die Hälfte schwerstmehrfach behindert ist und die wenigsten sprechen können. Wichtig ist es, selbst guter Stimmung und ruhig zu bleiben, da die Mitteilungen unmittelbar auf der Gefühlsebene von einem zum anderen wandern. Sind beim Mittagessen rund 40 Menschen zugleich im Raum, reicht manchmal ein Auslöser, um die Stimmung kippen zu lassen. "Grundsätzlich kann eine Person, die nicht gut drauf ist, die ganze Gruppe beeinflussen", sagt Schledt. Deswegen ist auch der Teamgedanke so wichtig, denn Missstimmung im Team spüren auch die Betreuten sofort. Wichtig ist allen Beschäftigten die klare Tagesstruktur, die ihr Aufenthalt in der Tagesstätte mit sich bringt. Am Vormittag und am Nachmittag gibt es Projektgruppen, die genau organisiert sind, denn die Zuordnung der Betreuer zu den Beschäftigten muss stimmen. "Die Beschäftigten sollen am Abend zufrieden nach Hause gehen. Unsere Aufgabe ist es nicht, Fähigkeiten, die bislang nicht erlernt wurden, anzutrainieren. Das funktioniert nicht", erklärt Kirchmeyer. Aber ein besseres Sozialverhalten durch klare Strukturen und Regeln lässt sich in den meisten Fällen erlernen. Arbeitsaufträge sind keine Beschäftigungstherapie, vielmehr stärken sie das Selbstbewusstsein. Und ein Ziel erreicht die Tagesförderstätte allemal: ein besseres Lebensgefühl. Siehe Simone Trautmann.
Katja Gußmann
HINTERGRUND
TEIL DER DIEBURGER WERKSTÄTTEN
Die Tagesförderstätte ist Teil der Dieburger Werkstätten der Nieder-Ramstädter Diakonie (NRD), die 2014 die Einrichtung von dem insolventen Verein für Behindertenhilfe Dieburg übernommen hat. Die NRD verfügt an drei Standorten über fünf Betriebsstätten, in denen insgesamt 900 geistig, körperlich oder psychisch behinderte Menschen je nach Fähigkeit und Neigung in Bereichen wie Landwirtschaft, Metallwerkstatt, Elektromontage, Schreinerei oder Bürodienstleistungen arbeiten.
gus
SINNSTIFTEND UND INDIVIDUELL
Interview mit Elisabeth Brachmann, Leiterin des LWV-Fachbereichs für Menschen mit geistiger Behinderung
Frau Brachmann, Sie haben selbstverantwortlich in Tagesförderstätten gearbeitet. Was ist die Aufgabe dieser Einrichtungen?
Die Tagesförderstätten sollen zur Arbeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen hinführen. Aber es geht auch darum, Kommunikation zu lernen, sich etwas aneignen zu können, Beziehungen zu gestalten und die eigene Mobilität zu erfahren: Die Tagesförderstätte ermöglicht die Trennung von Wohnen und Arbeiten, die in unserer Kultur wichtig ist. Das ist eine wesentliche Funktion von Tagesförderstätten.
Grundsätzlich wollen Menschen etwas tun, etwas verändern und auch gern arbeiten. Sie können sich dabei als selbstwirksam erleben und das stärkt das Selbstbewusstsein. Sie können sich entwickeln und unsere Gesellschaft mitgestalten.
Bei manchen Menschen steht das Ziel Arbeit nicht im Vordergrund. Für schwerstbehinderte Männer und Frauen gibt es die Möglichkeit nicht oder sehr eingeschränkt, im Bereich von Arbeit Sinn zu finden. Bei ihnen geht es darum, ihre Entwicklung und Mobilität zu fördern. Zudem stehen die Fähigkeiten der Selbstversorgung, Wissen und Lernen, Kreativität und Gesundheitsvorsorge im Vordergrund. Das sind wichtige Voraussetzungen, um Selbstbestimmung zu erreichen und die Fähigkeit, das eigene Umfeld mit zu gestalten - übrigens ganz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention. Und so erfahren auch sie Sinnstiftung und Selbstwirksamkeit.
Nun sind Werkstätten und Tagesförderstätten aus Sicht vieler Menschen nicht gerade Vorreiter bei der Inklusion...
So pauschal kann man das nicht sagen. Der Arbeitsweg dorthin, das Wirken mit anderen Personen und das Erleben anderer Räume sind Schritte hin zur Inklusion. Manche reden ja auch von einer zweiten Lebenswelt. Unser Ziel ist deshalb, dass sich Einrichtungen der Tagesstruktur mit anderen Angeboten in der Region vernetzen. Da gibt es bereits sehr gute Modelle, zum Beispiel die gemeinsame Nutzung von Gebäuden mit Vereinen oder Kirchengemeinden oder die Gestaltung von gemeinsamen Veranstaltungen, Café-Angeboten oder Ähnliches.
Sind die klassischen Tagesförderstätten damit nicht überholt?
Nein, die wird es weiter geben. Aber die Tagesförderstätten von heute haben sich längst darauf eingestellt, dass sie Angebote für ganz unterschiedliche Gruppen machen müssen. Klassisch war das ein Angebot für Männer und Frauen, die noch bei den Eltern oder Angehörigen leben und - in Klammern: noch - nicht in der Werkstatt arbeiten können. Heute möchten immer häufiger ältere Männer und Frauen, die bereits in Rente gegangen sind, diese Angebote nutzen. Noch immer ist die Tagesförderstätte ein geeignetes Angebot insbesondere für Menschen, die schwerstbehindert sind. Oder Menschen mit herausforderndem Verhalten, Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen, Menschen, für die es bereits eine Herausforderung ist, überhaupt in einer Gruppe zu sein. Die entscheidenden Fragen sind: Was braucht der Mensch individuell? Was behindert ihn - im Sinne der Behindertenrechtskonvention? Wie will er Aktivitäten gestalten? Welche Ziele möchte er erreichen und welche Unterstützung ist sinnvoll?
Ist die Öffnung zum Sozialraum da nicht besonders schwierig?
Sicher, da sind vor allem Ideen gefragt. Es gibt inzwischen Tagesförderstätten, die Aufträge akquirieren wie Werkstätten oder die sich mit Angeboten zum Sozialraum hin öffnen. Da werden in Rüsselsheim Yoga-Kissen genäht und diese gemeinsam mit den schwerstbehinderten Menschen mit Füllmaterial gestopft, da werden Postdienste übernommen oder ein Frühstücksservice angeboten. Das ist sinnstiftend und stärkt das Erleben, etwas bewirkt zu haben. Es bestätigt aber auch, dass Tagesförderstätten Möglichkeiten der Teilhabe mit behinderten Menschen erschließen können. Einige dieser Ansätze wurden sogar schon vor der Deutschen Heilpädagogischen Gesellschaft ausgezeichnet.
Das Interview führte Elke Bockhorst