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"Ich bin stolz auf die Verantwortung, die ich trage"

"Ich bin stolz auf die Verantwortung, die ich trage"

Livendo heißt der jüngste Coup der frankfurter werkgemeinschaft (fwg): Der Dienstleister, der rund 2.500 Buchhandlungen in Deutschland mit Verbrauchsmaterial beliefert, wurde von der fwg übernommen und hat seinen Sitz im Musikantenweg. Damit schafft die Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) zusätzliche moderne Arbeitsplätze für seelisch behinderte Männer und Frauen.

FRANKFURT. "Guten Tag, mein Name ist Michael Hollmann. Was kann ich für Sie tun?" Wenn der 61-Jährige am Livendo-Telefon ist, muss alles andere warten. Die Wünsche der Buchhändler haben Vorrang. Er notiert sich deren Bestellungen, meist Geschenkpapier, -bändchen oder Tragetaschen. Er fragt nach, wie es geliefert werden soll und wohin. Er notiert sich, mit wem er gesprochen hat und eine Telefonnummer - falls es Rückfragen gibt. Danach überträgt er alles fein säuberlich auf einen Bestellschein. "Die Eingabe am PC übernimmt meine Kollegin. Die Arbeit macht Spaß. Und Erfahrung hatte ich ja, schließlich arbeite ich schon lange hier am Empfang", erzählt Hollmann, der seit 21 Jahren bei der fwg tätig ist.

Hollmann, einer von derzeit sieben Beschäftigten des neuen Geschäftszweiges, ist nicht nur die Stimme Livendos. Daneben kümmert er sich um die Bestellung von Büromaterial für die fwg, gibt Verzehrmarken für die Kantine aus und übernimmt das Telefon von Mitarbeitern, wenn sie eine Besprechung haben. "Da muss ich die Kolleginnen und Kollegen schon mal um Geduld bitten. Aber sie haben Verständnis dafür, dass Livendo vorgeht", erklärt Michael Hollmann.

So sicher er inzwischen an der Bestellannahme agiert, so unsicher war er zunächst, ob er dem gewachsen sein würde: "Vor neuen Aufgaben überkommt mich immer das große Flattern. Das hat mit meiner psychischen Erkrankung zu tun. Aber Frau Reil hat mich ja dazu gezwungen. Da ging das ganz schnell", lacht er verschmitzt.

EIN PARTNER DES BUCHHANDELS

Michaela Reil, die bei Livendo alle operativen Prozesse von Bestellannahme über Auftragsgenerierung bis zu Versandabwicklung und Rechnungsstellung verantwortet, gibt schmunzelnd zurück: "Manche Menschen muss man zu ihrem Glück zwingen." Die Quereinsteigerin, die nach Schreinerlehre und Holztechnik-Studium auf dem Bau gearbeitet hat, wechselte vor knapp drei Jahren zur fwg. In Livendo sieht sie eine Chance, um eine gute Arbeitsstruktur für die hier Beschäftigten zu schaffen. Eine Struktur, von der alle profitieren. "Es gibt in vielen Werkstätten diese Diskussion über den Widerspruch zwischen Produktion und Rehabilitation. Dabei gibt es den im Grunde gar nicht. Die Werkstätten haben eine hohe Kompetenz, sind stark serviceorientiert. Beides tragen sie viel zu selten nach außen", stellt sie fest. Die Fragen seien immer die gleichen: Wer ist der Kunde? Wie professionell kann die Werkstatt dessen Ansprüche erfüllen?

Auch das Beispiel Livendo zeigt, wie professionell Werkstätten für behinderte Menschen Herausforderungen angehen. "Wir hatten knapp zwei Monate, um alles in unserem Warenwirtschaftssystem abzubilden. Von außen sieht man nicht, wer die Inventur gemacht, die Produkte umgezogen und ins Lager einsortiert hat. Da war ein hoch motiviertes Team am Werk", berichtet Michaela Reil. Zur Vorbereitung gehörte auch eine Schulung für souveränes Auftreten am Telefon. "Davon haben wir alle profitiert", schildert sie ihre Erfahrungen. Mit Scheinanrufen haben sie das richtige Telefonieren trainiert. Der Oberurseler Michael Hollmann hat im Oktober seine neue Stelle übernommen. Inzwischen bringt ihn so schnell nichts mehr aus der Ruhe: "Ich bin stolz auf die Verantwortung, die ich trage."

VERSANDABWICKLUNG IM TEAM

Der Standort im Musikantenweg hat wenig Fläche, weshalb die Produkte möglichst platzsparend gelagert werden müssen. "Das erfordert viel Organisation und Koordination", merkt Michaela Reil an. Im Keller wickeln drei Männer die Lieferungen ab. Matthias Theis ist an zwei Tagen pro Woche hier im Einsatz. "Anhand der Pick-Liste suchen wir im Lager die Bestellung zusammen und machen die Pakete versandfertig", erläutert er. "Die Etiketten können wir sogar selbst am PC erstellen und ausdrucken." An den anderen Tagen arbeitet er in einem Sachverständigenbüro für Brandschutz und Raumlufttechnik. "Ich habe hier mehr Leute um mich als im Büro. Das mag ich", schildert er den Reiz dieser Stelle. Sie arbeiten im Team, meist zu dritt, manchmal auch zu viert. "Wenn wir alle im Lager hantieren, geht es eng zu", lacht Matthias Theis, während einer seiner Kollegen ein Paket auf ein Gerät hievt, das in Sekundenschnelle ein dünnes Kunststoffband eng um den Karton wickelt. Noch arbeiten einige Leute abwechselnd im Livendo-Versand und dem EDV-Bereich, der ebenfalls in Michaela Reils Zuständigkeit fällt. Perspektivisch sollen sie in Vollzeit bei Livendo arbeiten.

DER NÄCHSTE KRAFTAKT

Im Frühjahr steht der nächste Kraftakt an: der Umzug der Werkstatt in den Cassella-Park in Frankfurt-Fechenheim, wo künftig 4.300 Quadratmeter Fläche zur Verfügung stehen. Dort ist Schluss mit der Enge. Dafür können Kontakte zu Betrieben in der Nachbarschaft geknüpft werden. "Wir hoffen auf einen Austausch und darauf, auch den ein oder anderen Auftrag generieren zu können", sagt Michaela Reil.

Bei Livendo werden in den nächsten Monaten weitere Arbeitsplätze entstehen. "Dann bauen wir die Auftragsgenerierung auf. Zunächst mussten wir uns auf andere Dinge konzentrieren, zum Beispiel die Buchmesse", betont sie. Seit der Messe ist bereits ein Teil des neuen Sortiments auf dem Markt, das stark auf Nachhaltigkeit und recyclebare Produkte setzt. "Das müssen wir konsequent weiterentwickeln, zum Beispiel bei den Geschenkbändern weg vom Plastik", erklärt Michaela Reil. Außerdem möchte Livendo künftig Produkte anderer Werkstätten für behinderte Menschen vertreiben. "Wir haben großes Interesse an Artikeln, die ins Buchhandelssortiment passen", fügt sie hinzu.

Bei den Buchhändlern kommt der Kurswechsel offenbar gut an. "Die Wimmeltüte, die jede Buchhandlung mit ihrem eigenen Stempel versehen kann, ist derzeit der Renner", berichtet Michael Hollmann. Was er sich erhofft? "Ich lass mich gerne zum Umzug zwingen", grinst er augenzwinkernd. Er möchte auf jeden Fall weiterhin in diesem Team arbeiten. "Damit muss nicht mit 63 Jahren Schluss sein. Ich würde gerne ein paar Jahre dranhängen", betont er.

Stella Dammbach


HINTERGRUND

FRANKFURTER WERKGEMEINSCHAFT:

VON BERUFSBILDUNG BIS ZU BETREUTEM WOHNEN

Livendo gehört zum Bereich Arbeit der frankfurter werkgemeinschaft (fwg), der rund 200 seelisch behinderte Menschen beschäftigt. Die intensive Betreuung am Arbeitsplatz finanziert in den meisten Fällen der Landeswohlfahrtsverband. "Mit dem LWV arbeiten wir seit Langem eng zusammen", berichtet Michaela Reil. Denn die fwg, die seit 1967 besteht, ist ein wichtiger Akteur in der gemeindepsychiatrischen Arbeit.

Der berufliche Werdegang der Beschäftigten ist höchst unterschiedlich: Während Michael Hollmann seit 21 Jahren exklusiv für die fwg arbeitet, splittet Matthias Theis die Woche zwischen der Werkstatt und einem Betriebsintegrierten Beschäftigungsverhältnis auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. "Mein Arbeitgeber weiß von meiner Erkrankung", erzählt er. Michaela Reil fügt hinzu: "Das ergänzt sich gut. Die Belastung ist dort eine andere, das könnte auf Dauer zu viel werden."

Außer dem Bereich Arbeit und Teilhabe, der Arbeitsmöglichkeiten im kaufmännischen und hauswirtschaftlichen Bereich sowie im Handwerk schafft, macht die fwg für seelisch behinderte Menschen ambulante und stationäre Angebote im Leistungsverbund Begleitung und Wohnen. Dazu zählen die Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle Frankfurt-Ost, ein niedrigschwelliges Kontakt- und Beratungsangebot, verschiedene Formen des Betreuten Wohnens, die psychisch erkrankte Menschen dabei unterstützen, möglichst selbstbestimmt zu leben, ein stationärer Wohnbereich mit einem Tagesstrukturangebot. Außerdem gehört das Struwwelpetermuseum in Frankfurt mit zum fwg-Verbund.

dam