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Pause von der Wohnungslosigkeit

Pause von der Wohnungslosigkeit

Mehr als 330.000 Menschen in Deutschland sind aktuellen Schätzungen zufolge ohne Wohnung. Ihre Zahl steigt. Der Tagestreff Weser5 im Frankfurter Bahnhofsviertel bietet einigen von ihnen eine Pause vom rauen Leben auf der Straße.

FRANKFURT. In tiefem regungslosen Schlaf, eng umschlungen, liegt das junge Paar auf dem harten Fußboden. Große Erschöpfung, ob körperlich, ob seelisch, muss ihren Ruhestunden vorausgegangen sein. Ein ähnliches Schicksal teilen an diesem Vormittag die etwas Glücklicheren, die in eines der acht Betten kriechen konnten, die der Tagestreff Weser5 im Frankfurter Bahnhofsviertel für wohnsitzlose Menschen bereithält. Die jetzt so unbeweglich unter ihren Decken verharren, waren in der Nacht aktiv, haben vielleicht Flaschen gesammelt oder konnten auf der Straße einfach keine Ruhe finden. Denn draußen schläft es sich gefährlich. Immer wieder werden auf dem Trottoir Schlafende von Betrunkenen oder Frustrierten belästigt. Allein die Angst davor, Opfer dieser Aggression zu werden, lässt manchen Wohnungslosen die Augen in der Nacht nur unruhig schließen.

Hans-Joachim Entinger schläft nicht. Er sitzt mit seinem Nele-Neuhaus-Krimi am Tisch unterm Bücherregal, trinkt einen Kaffee. Er ist 63 Jahre alt, rund ein Drittel seines Lebens verbringt er nun schon auf der Straße. Einen Tag-Nacht-Rhythmus habe er schon seit Jahren nicht mehr, sagt er. "Nachts fahre ich Bus oder Straßenbahn, ich schlafe nicht mehr viele Stunden am Stück", erklärt er. Seit zehn Jahren sucht er regelmäßig Ruhe, Wärme und ab und an auch ein Mittagessen im Weser5 der Diakonie Frankfurt, das vom LWV Hessen finanziert wird. Ein Einzelgänger sei er, wolle auch gar nicht mit den anderen Menschen im Weser5 Kontakt haben.

UNENTBEHRLICH

Lesen, das ist ihm wichtig, das kann er hier ungestört, solange sein Stammplatz in der Leseecke frei ist und nicht andere sich dazusetzen, die reden wollen. Seinen Humor hat er hinüberretten können in sein Leben auf der Straße. Der blitzt auf, wenn er sagt: "Geheiratet hab' ich nicht - ich wollte leben". Oder wenn er mit seiner kleinkriminellen Vergangenheit kokettiert und lächelnd feststellt: "Im Knast ging's mir am besten, da war ich versorgt." Ihm ist das Angebot des Weser5 unentbehrlich geworden: Er hat für seine wenigen Wertsachen eines der heiß begehrten 65 kostenfreien Schließfächer, wäscht seine Kleidung im Waschraum, nutzt die Herrendusche und zur Not verfügt die Kleiderkammer über Hosen, Pullover, Jacken und auch warme Decken. Ehrenamtliche Mitarbeiter händigen die Bekleidung aus.

Entinger ist einer von vielen, die im Tagestreff eine Pause von ihrem Leben auf der Straße einlegen. 2015 waren es im Schnitt 144 Menschen am Tag, 2011 waren es noch 98. Der Bedarf wächst von Jahr zu Jahr. Im Winter schnellt die Zahl auf bis zu 220 Menschen täglich hoch, dann wird es eng. Rückzugsmöglichkeiten bieten neben den Tagesbetten, deren Kopfenden sich wie bei einem Strandkorb über die Schlafenden wölben, die zwei großen Würfelbauten im Raum, die zum einen die Leseecke bergen, zum anderen Computerarbeitsplätze.

IN BEWEGUNG

Auch das Schicksal Entingers ist im Weser5 kein Einzelfall. Wie ihm erging es einigen. Vor vielen Jahren hat er sich verzockt, Schulden gemacht, wurde krank, hat die Wohnung und damit den Anschluss ans normale Leben verloren. Heute sagt er, wolle er gar nicht mehr in eine Wohnung ziehen. "Ich würde nicht mehr herauskommen, und das wäre schlecht für meine Gesundheit, ich muss immer in Bewegung bleiben." Er hat sich mit seinem Leben ohne festem Dach über dem Kopf arrangiert, resigniert, sich irgendwie eingerichtet, redet es sich schön. Ärgert sich darüber, dass aus seiner Sicht immer mehr Menschen das Weser5 besuchen und den Raum überfüllen, die "in dicken Autos" vorgefahren werden und sich an Leistungen bedienen, die ihnen nicht zustehen.

Die Geschichten über organisierte Bettelbanden ziehen sich durch Frankfurter Zeitungen, seit verstärkt Zuzug aus Osteuropa zu verzeichnen ist. Vorurteile beherrschen die Diskussion. Erst jüngst musste sich Jürgen Mühlfeld, der seit vergangenem Mai das Diakoniezentrum Weser5 leitet, der Auseinandersetzung um eine Gruppe rumänischer Frauen stellen, die vor der Kirche, zu der der Tagestreff gehört, lagerten. Als Passanten sie mit Eiern bewarfen, eskalierte die Situation. Die Stadt öffnete früher als gewöhnlich die B-Ebene der U-Bahn-Station Hauptwache und gab sie zur Übernachtung frei. Bald darauf stellte ein Frankfurter Immobilienbesitzer Wohnraum für die rund 25 Frauen zur Verfügung - ob das eine dauerhafte Lösung ist, muss sich weisen.

An diesem jüngsten Beispiel zeigt sich, wie erhitzt die Gemüter sind, wenn es um wohnungslose Menschen geht. Sie sehen sich nicht nur Anfeindungen von außen gegenüber, selbst untereinander grenzen sie sich voneinander ab. Da gibt es jene mit deutschem Pass, die Hartz 4 beziehen, jene ohne Geld, die nicht wissen, welche Leistungen ihnen zustehen geschweige denn, wie und wo sie sie beantragen können. Und es gibt Menschen aus dem Ausland, die aus unvorstellbar ärmlichen Verhältnissen kommen, in der Frankfurter Bahnhofsgegend stranden, einen warmen Platz suchen und ihn im Weser5 finden. Die Not ist groß - und wo es schon wenig zu verteilen gibt, wächst die Angst, es könnte für einen selbst nicht mehr reichen.

OHNE EINLASSKONTROLLE

"Es ist richtig, dass mehr Rumänen und Bulgaren den Tagestreff aufsuchen als vor einigen Jahren. Aber wir machen keine Einlasskontrolle. Menschen, die Hilfe nötig haben, bekommen sie hier", erklärt Mühlfeld. Er muss tagtäglich damit umgehen, dass die sozialen Veränderungen, die Krieg und wirtschaftliche Not in anderen Ländern nach sich ziehen, im Frankfurter Tagestreff ihren Niederschlag finden. Ebenso wie am Frankfurter Flughafen.

Seit September sucht die Sozialarbeiterin Kristina Wessel gezielt die Menschen auf, die im Flughafen ihr Nachtquartier beziehen. Die "Übernachtungszahlen" sind dort in den letzten Jahren gestiegen, denn der Flughafen bietet Anonymität wie relative Sicherheit gleichermaßen. Kristina Wessel sieht sich einem immens großen Bedarf gegenüber, die Zeit reicht kaum, allen Ansprüchen zu genügen. "Wenn ich einen Kontakt herstellen kann und das Vertrauen gewinne, kläre ich die Menschen über Hilfsmöglichkeiten wie beispielsweise das Weser5 auf und begleite sie auch bei Behördengängen. Im Moment setze ich meine Priorität allerdings auf die gesundheitliche Versorgung der Menschen", erzählt sie. Die junge Frau hat schon manche Stunde in Krankenhäusern verbracht, um die nötige Behandlung für einen ihrer Klienten zu erwirken. Es ist ein Kreis von schätzungsweise rund 200 Personen, der mehr oder weniger regelmäßig den Flughafen zum Übernachten wählt. Für eine Sozialarbeiterin allein eine kaum zu bewältigende Aufgabe.

"Frau Wessel ist mein Schutzengel", sagt Helen über sie. Die 56-Jährige ist von Beruf Diplomdolmetscherin und lebt seit eineinhalb Jahren auf der Straße. Der Lack auf ihren Fingernägeln erzählt davon, wie sie täglich darum kämpft, ihre Würde zu wahren. Seit Frau Wessel auf dem Flughafen ihre Runden drehe, seien die Security-Mitarbeiter des Flughafens toleranter gegenüber den nächtlichen Gästen geworden, sagt sie. Helen muss keine Angst mehr vor ihnen haben, wie das früher der Fall war. Tagsüber sucht sie gerne das Weser5 auf. Ihre ganze Habe hat sie auf dem Tisch ausgebreitet. Gemüse ist darunter. "Es findet sich schon jemand, der es mir kochen wird", sagt sie. Sie will den Anschluss ans normale Leben wieder finden. Will arbeiten, eine Wohnung beziehen. Nach der Trennung von ihrem iranischen Mann begann die Misere ihres Lebens. Sie stand vor dem Nichts.

Eine Trennung oder Scheidung ist nicht selten der Grund für Wohnungslosigkeit. Häufig kommen der Verlust des Arbeitsplatzes und Schulden hinzu, psychische Erkrankungen und Suchtproblematiken erschweren die Lage. Bezahlbaren Wohnraum in Frankfurt zu finden, ist ein Kunststück, das den wenigsten gelingt, denn Sozialwohnungen sind Mangelware in der Bankenstadt. "Wie soll ich Arbeit finden, wenn ich nicht mal eine Adresse angeben kann? Und wie eine Wohnung ohne Arbeit?", sagt Helen. Ja, sicher, im Weser5 kann man eine Postadresse bekommen, rund 800 Menschen nehmen derzeit diesen Service in Anspruch. Aber eine "gute" Adresse ist das nicht.

NICHT RESIGNIEREN

Helen ist in Begleitung ihres erwachsenen Sohnes, der seit einem Unfall behindert ist - seit drei Monaten überlebt er gemeinsam mit seiner Mutter auf der Straße. "Ich kann ihm keine Wohnung bieten, das ist furchtbar. Er ist sensibel, er verkraftet dieses Leben nicht", sagt Helen, die nicht resignieren will, die kämpft.

Neben Helen sitzt ein anderer junger Mann - Johnny heißt er, Ende 20 sei er, er lächelt - die beiden scherzen ein bisschen miteinander. Man kennt sich im Weser5. Johnny streicht sich immer wieder die schulterlangen Haare aus dem Gesicht, der schlaksige Körper steckt in einer etwas zu großen braunen Hose, farblich passend dazu trägt er ein geringeltes Polohemd. "Mir ist ganz wichtig, dass ich hier duschen kann", sagt er. Der Gang zum Weser5 gibt seinem Tag Struktur. Auch wenn die Männerduschen wenig Privatsphäre bieten, der Wasserdampf den Blick in den Spiegel erschwert und Johnny seine Wertsachen selbst unterm Wasserstrahl ständig im Auge behalten muss - alles ist besser, als ungepflegt zu sein. Nachts schläft er in einem Lagerraum, in dem er sich tagsüber nicht aufhalten darf. Was hat er heute noch vor? "Pappbecher", sagt er. Seinen Stammplatz in der Frankfurter Innenstadt will er nicht preisgeben. Wie es ihm geht? Viel besser als noch am Anfang seiner Wohnungslosigkeit, in die ihn finanzielle Probleme getrieben haben. Da hatte er noch nicht den Lagerraum, noch nicht den Tagestreff. So gesehen, sagt er, "kann man doch froh sein, wenn man ein gewisses Niveau erreicht hat."

Katja Gußmann


HINTERGRUND

LEBENSVERHÄLTNISSE VERBESSERN

Der Tagestreff Weser5 in Frankfurt ist eine von 41 Tagesaufenthaltsstätten mit Fachberatungsstelle, die der Landeswohlfahrtsverband Hessen zu annähernd hundert Prozent finanziert. In die Wohnungslosenhilfe sind 2016 10,47 Millionen Euro geflossen, davon entfallen mehr als 2,26 Millionen Euro allein auf Angebote in Frankfurt. Zum Standort Weserstraße der Diakonie, den der LWV jährlich mit knapp 825.000 Euro unterstützt, zählen neben dem Tagestreff und der Fachberatungsstelle auch Notübernachtungsplätze und ein Übergangswohnheim. Neu hinzugekommen ist die aufsuchende Sozialarbeit am Frankfurter Flughafen, die der LWV bezuschusst, da sie für viele Menschen den Weg zur Beratung und zu professioneller Unterstützung ebnet und ihre Lebenssituation so verbessern kann.

Rechtsgrundlage ist das Sozialgesetzbuch XII. In Paragraf 67 heißt es: "Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, sind Leistungen zur Überwindung dieser Schwierigkeiten zu erbringen, wenn sie aus eigener Kraft hierzu nicht fähig sind." Der Gesetzgeber hat damit einen Anspruch auf Hilfe für Menschen geschaffen, bei denen zugespitzte Problemlagen zum Verlust der Wohnung, der wirtschaftlichen Existenzgrundlage, der Gesundheit, des Arbeitsplatzes und zur Ausgrenzung geführt haben. Ziel ist es, sie mit Beratung und persönlicher Unterstützung in die Lage zu versetzen, eine Wohnung zu beziehen und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Dieser Personenkreis wird abgegrenzt von ordnungsrechtlich untergebrachten Personen, die zum Beispiel aufgrund von Mietrückständen ihre Wohnung verloren haben. Für sie müssen die Kommunen eine Notunterkunft bereitstellen. In der Großstadt Frankfurt herrscht - wie inzwischen in vielen Orten Deutschlands - allerdings seit Jahren ein Mangel an bezahlbarem Wohnraum und Sozialwohnungen.

gus/ebo