LWVkonkret 02.2017
Eckhard Sunderbrink ist ein Ass in seinem Job als Softwareentwickler. Intensives Training mit seinem Job Coach hat ihn auch im Team weitergebracht.
HANAU. Nein, ein Mäuschen ist er nicht. Eher ein großer Bär. Eckhard Sunderbrink muss den Kopf einziehen, wenn er durch die Tür geht. Er trägt Bart und Brille, versteckt sich fast ein wenig dahinter. Aber ein Mann mit seiner Statur taugt nicht zur Unsichtbarkeit. Also hat er Jahre seines Lebens versucht, zumindest verbal ein erfolgreiches Versteckspiel zu spielen und sprach mit seiner tiefen Stimme undeutlich, leise, ungern. Bis Yvonne Kausemann auf den Plan trat. Eingeschaltet von Arbeitgeber Heiko J. Pongratz, Geschäftsführer der Prosiris GmbH in Hanau, und einer Mitarbeiterin des Integrationsfachdienstes Main-Kinzig. Yvonne Kausemann ist Job Coach. Sie ist zur Stelle, wenn ein behinderter Mensch individuelle Unterstützung benötigt, um den Anforderungen am Arbeitsplatz gerecht zu werden.
Nuscheln allein reicht natürlich nicht aus, um 45 Stunden und mehr Job Coaching bewilligt zu bekommen. Rund 120 schwerbehinderte oder Schwerbehinderten gleichgestellte Menschen nehmen in Hessen das Angebot wahr, das ihnen helfen soll, den Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt zu sichern. Gudrun Dörken ist im Integrationsamt der Regionalverwaltung Darmstadt des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen zuständig für behinderte Menschen im Beruf: "Job Coaching kommt dann ins Spiel, wenn eine normale Fortbildung oder Schulung das Problem am Arbeitsplatz nicht lösen würde und nur eine individuelle Maßnahme Abhilfe verspricht. Also eine ganz konkrete handlungsorientierte Qualifizierung am Arbeitsplatz." Voraussetzung ist natürlich, dass die Probleme in Zusammenhang mit der Behinderung stehen.
KOMPETENTER ENTWICKLER
Eckhard Sunderbrink lebt seit vielen Jahren mit einer psychischen Erkrankung, die in den letzten Jahren verstärkt zu den Problemen am Arbeitsplatz führte. Fachlich ist der 54-Jährige aber ein Ass: Für Prosiris entwickelt er Software für das Friedhofs- und Bestattungswesen. "Er ist enorm wertvoll für unser Unternehmen und verfügt über überragende Kompetenz auf dem Bereich der Entwicklung", sagt sein Chef Heiko J. Pongratz über seinen wichtigen Mitarbeiter. Das Unternehmen hat am Standort Hanau nur fünf Beschäftigte. Dass das Team miteinander auskommt und gut zusammenarbeitet, ist nicht zuletzt auch für die Produktivität essentiell.
Seit 2003 ist Sunderbrink bei Prosiris in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis beschäftigt. Bis Oktober 2015 war er am Standort Lübbecke, dort arbeitete er weitestgehend eigenständig in einem ebenfalls nur fünf Köpfe zählenden Team. Als dort Probleme mit den Kollegen kaum mehr lösbar schienen und auch private Umstände schließlich dafür sprachen, fiel die Entscheidung, Eckhard Sunderbrink nach Hanau zu holen. Mit dem Umzug kam der Kontakt zum Integrationsfachdienst Main-Kinzig zustande. Schon in Lübbecke wurde seitens der fachlichen Betreuung angeregt, den Standortwechsel begleiten zu lassen.
"Wir dachten zunächst, wenn Herr Sunderbrink bei uns in Hanau ist, lösen wir die Probleme allein", erzählt Geschäftsführer Pongratz. "Aber wir mussten erkennen, dass uns die Erfahrung fehlt mit jemandem, der selbst Defizite in der Kommunikation hat, ins Gespräch zu kommen. Wir haben es ohne Hilfe nicht geschafft, ihn zu integrieren." Im Gespräch mit Pongratz schlug eine Mitarbeiterin des Integrationsfachdienstes Main-Kinzig vor, einen Job Coach hinzuzuziehen. "Ich wusste ja gar nicht, dass es so etwas gibt", sagt Pongratz. Auch Eckhard Sunderbrink fand die Idee gut - schließlich sah er selbst die Notwendigkeit, einige Dinge zu verändern, um sich in der Gemeinschaft mit den Kollegen wohl zu fühlen. Nur wie?
NOTWENDIGE KOMMUNIKATION
Yvonne Kausemann ist selbstständig mit eigener Praxis in Gelnhausen und legt den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf lösungsorientierte Beratung und Coaching. Für sie stehen ganz konkrete Verhaltensänderungen im Fokus der Arbeit. Zunächst einmal galt es, Sunderbrink zu einer deutlichen Aussprache zu ermuntern und überhaupt die Notwendigkeit von Kommunikation nahe zu bringen. Sunderbrink muss lachen, wenn er daran denkt, wie Yvonne Kausemann es geschafft hat, ihn aus seinem Schneckenhaus herauszulocken. "Ich habe ihn gefragt, welches Bild er von einem Menschen hat, der ganz leise und undeutlich spricht, welches Tier er sich dazu vorstellt", erzählt Kausemann. Und Sunderbrink grinst: "Eine Maus, hab' ich gesagt." Dass ein kleiner Nager keineswegs zu ihm passt, und dass er viel lieber als Bär wahrgenommen würde, das war schnell klar.
Mit Übungen schon am frühen Morgen beim ersten In-den-Spiegel-Gucken bis zum bewussten Brötchen-beim-Bäcker-Kaufen trainierte der Softwarespezialist sein neues Selbstverständnis. "Es war mir früher ja schon peinlich, wenn mich die Verkäuferin nicht verstanden hat und ich dann noch mal sagen musste, dass ich Brötchen möchte", erzählt er mit einem Lächeln und klarer Aussprache. Die Übungen machten sich schnell bezahlt. Auch im Zusammenspiel mit den Kollegen musste Sunderbrink lernen, dass man doch besser antwortet, wenn man etwas gefragt wird, selbst wenn man gerade mit etwas anderem sehr intensiv beschäftigt ist. "Wenn ich am Programmieren bin, dann möchte ich nicht gestört werden", sagt er, der als Leiter Anwendungsentwicklung die Software-Kernprodukte der Firma verantwortet. Dafür hat jeder Kollege Verständnis - nur musste Sunderbrink lernen, freundlich zu sagen, dass er im Moment keine Zeit hat, aber später für Fragen offen ist. "Es war ganz wichtig, dass Herr Sunderbrink lernt, seine Wünsche zu formulieren", erklärt Kausemann.
COACHING FÜR DEN CHEF
Yvonne Kausemann klärte zunächst in Einzelgesprächen mit Sunderbrink, seinem Chef und schließlich auch den Kollegen ab, wo die größten Probleme liegen. Das war im Juli 2016, es folgten wöchentliche Treffen mit Eckhard Sunderbrink, in denen sich ein Vertrauensverhältnis aufbauen konnte - Voraussetzung für ein gelungenes Job Coaching. "Nicht nur Herr Sunderbrink, auch die Kollegen haben ihr Verhalten etwas geändert. Zum Beispiel fragen sie ihn jetzt erst, ob er Zeit hat, ehe sie ihm eine inhaltliche Frage stellen", sagt sie. Auch der Chef brauchte ein Coaching. "Ich wollte Herrn Sunderbrink ja nicht diskriminieren. So habe ich mich bei bestimmten Problemen gefragt, ob ich ihn überhaupt darauf ansprechen darf oder ob das Teil seiner Erkrankung ist und ich zu sehr in seine Persönlichkeitsrechte eingreife", sagt Pongratz. Job Coach Kausemann aber erklärt, dass es keinem hilft, wenn die Dinge nicht benannt werden.
Ein Zankapfel war der manchmal sehr unordentliche Arbeitsplatz Sunderbrinks. Heute versteht er, dass er darauf achten muss, den Schreibtisch sauber zu halten. Und Pongratz weiß, dass er ihn ruhig darauf ansprechen kann, in klaren, deutlichen, freundlichen Worten. Eine Hilfestellung gibt es auch noch: Ein Foto von dem Ist-Zustand des Schreibtischs und des Soll-Zustands zum Vergleich. Immer mittwochs und freitags räumt Sunderbrink seinen Arbeitsplatz auf und bringt ihn in den Soll-Zustand. So ist es keine Frage der individuellen Wahrnehmung mehr, was als ordentlich oder nicht empfunden wird, sondern per Foto objektiviert. Ein Problem, das Sunderbrink jetzt auch angeht, ist sein Übergewicht. Er bewegt sich zu wenig. Eine kleine Verhaltensänderung hilft: "Wenn Herr Sunderbrink nach dem Mittagessen müde ist, geht er eine viertel Stunde an der frischen Luft spazieren", sagt Kausemann. So versucht er gleichzeitig, dem nachmittäglichen Leistungstief entgegen zu wirken.
STRUKTUR IM ALLTAG
Natürlich reicht es nicht aus, gute Vorschläge zu machen. Kausemann arbeitete zunächst in wöchentlichen Sitzungen mit Sunderbrink. "Er hat immer seine Hausaufgaben gemacht", sagt sie, eine Grundvoraussetzung, um erfolgreich zu sein. Wichtig ist auch, Struktur in den Arbeitsalltag zu bringen. Nicht nur das zweimal wöchentliche Schreibtischaufräumen und die Spaziergänge nach dem Mittagessen geben ein Gerüst vor. Es gibt regelmäßige Teamsitzungen, in denen alle Dinge, die anliegen, besprochen werden. Dazu zählt festzustellen, was sich im Miteinander positiv entwickelt oder wo es Stagnation oder sogar Rückschritte gegeben hat. "Das ist wichtig, damit wir frühzeitig eingreifen können", erklärt Kausemann. Dabei geht es nicht darum, nur das Verhalten von Eckhard Sunderbrink unter die Lupe zu nehmen, vielmehr muss jeder im Team sich seiner Verantwortung für ein gutes Auskommen bewusst sein.
Eine ganz besondere Errungenschaft ist das neue Whiteboard, das Sunderbrink neben seinem Schreibtisch angebracht hat. Hierauf notiert er alles, was für ihn gerade von Bedeutung ist, woran er sich erinnern möchte oder was noch zu erledigen ist. Ein für alle anderen sichtbares Hilfsmittel, um die angestrebten Ziele im wahrsten Sinn des Wortes nicht aus dem Blick zu verlieren.
Mittlerweile wurden weitere Job-Coaching-Stunden bewilligt, doch die Treffen sind nur noch alle zwei Wochen nötig. Dass der Chef zufrieden ist, strahlt er aus und betont, wie froh er ist, dass es diese Maßnahme gibt. Er hofft, dass das Beispiel Schule macht und sagt: "Man muss natürlich auch offen dafür sein, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Zu wissen, dass es Hilfsangebote gibt, erleichtert vielleicht die Entscheidung." Und was für ein Fazit zieht Sunderbrink selbst? "Ich bin zufrieden, ich fühle mich jetzt wohler, nicht nur auf der Arbeit. Es betrifft ja alle Bereiche, auch das Private." Sagt er, deutlich, klar, mit tiefer Stimme, wie ein Bär.
Katja Gußmann
HINTERGRUND
QUALIFIZIERUNG NACH MASS
Wenn die Leistungs- und Kommunikationsfähigkeit am Arbeitsplatz aufgrund einer Behinderung eingeschränkt ist, kann ein Job Coach eingeschaltet werden. Mit einem zeitlich begrenzten betriebsintegrierten Training stärkt dieser die individuelle Kompetenz der oder des Beschäftigten. Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzte werden durch Information und Beratung einbezogen. Ziel ist es, den Arbeitsplatz zu erhalten.
Voraussetzung für diese besondere Qualifizierung ist ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis. Die Kosten für das Job Coaching kann das Integrationsamt bei schwerbehinderten Beschäftigten aus Mitteln der Ausgleichsabgabe übernehmen. In der Regel werden zunächst 40 bis 50 Stunden bewilligt. Bei Bedarf können weitere Job Coaching-Stunden folgen. Dabei unterscheidet man drei Aufgabenfelder: Kommunikation, die Tätigkeit selbst und die Anpassung des Arbeitsumfeldes.
Wenn ein Job Coaching beantragt wird, prüft das Integrationsamt den Bedarf, den Umfang und die potentiellen Veränderungsmöglichkeiten bei Coachee und Betrieb. Wichtig ist, dass das Coaching Erfolg versprechend ist. Für Hessen stehen schätzungsweise 30 Job Coaches mit unterschiedlichen Schwerpunkten zur Verfügung. Sie werden vom LWV Hessen Integrationsamt beauftragt und kommen in allen Berufsfeldern zum Einsatz. In Einzelfällen zieht das Integrationsamt auch Spezialisten hinzu, wenn berufsspezifische Fachkenntnisse vermittelt werden sollen.
gus/ebo