LWVkonkret 02.2017
Die WfB Rhein-Main fertigt seit mehr als 35 Jahren Spanngurte für die Luftfahrt - seit Sommer 2016 zertifiziert - als einer von sechs Entwicklungs- und Herstellerbetrieben weltweit. Auch die Beschäftigten der Werkstatt können sich prüfen lassen: von der Industrie- und Handelskammer. Wer nach 420 Stunden Ausbildung besteht, darf sich Gurtprüfer nennen.
MÖRFELDEN. Bevor sie in die Luft gehen, müssen sie höchste Anforderungen erfüllen: Reißfest bis 2.225 Kilogramm Belastung, dehnbar um höchstens drei Millimeter, haltbar mindestens drei Jahre. So ein Spanngurt von DHL oder Lufthansa Cargo muss was aushalten können. Nur beste Qualität hebt ab. Ware auf einer Palette im Frachtraum eines Flugzeuges muss sicher und fest verzurrt sein. Unzählige weiße und gelbe Gurte hängen auf Gestellen bereit zur letzten Prüfung, anschließend liegen sie sorgfältig geschichtet in Boxen im Lagerraum der WfB Rhein-Main, bereit zum Abflug. Was den Gurten nicht auf den ersten Blick anzusehen ist, aber was in ihnen steckt, wissen die 117 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der WfB am Standort Mörfelden: sehr viel Arbeit. Rund 1.000 Gurte produzieren sie am Tag. In dutzenden kleinen Arbeitsschritten versehen sie ein in den Niederlanden gewebtes Band mit Fittingen und einem Schloss und formen es so zum Hochsicherheitsfaktor der Luftfracht.
Im Sommer 2016 erhielt die Gurtproduktion nach drei Jahren Tüftelei und der Umstellung auf die geforderten Standards der Europäischen Agentur für Luftsicherheit (European Aviation Safety Agency, EASA) die notwendige Zertifizierung und wurde zudem vom Luftfahrtbundesamt (LBA) als Entwicklungsbetrieb ausgezeichnet. Damit konnte die seit mehr als 35 Jahren bestehende Zusammenarbeit mit dem Hauptabnehmer Lufthansa Cargo auch für die Zukunft gesichert werden.
MIT WACHEN AUGEN
Astrid Tebernum ist sich dessen bewusst. Sie ist eine der Gurtprüferinnen, die in einem letzten Arbeitsschritt die Gurte durch ihre Hände gleiten lässt und mit wachen Augen jede Naht, jedes Schloss überprüft. Hält ein Gurt ihrem geschulten Blick nicht stand, legt sie ihn in eine Box, die selbst in den Pausen verschlossen werden muss, damit auf gar keinen Fall der fehlerhafte Gurt versehentlich wieder in den Kreislauf der Qualitätsware gerät. "Mir bedeutet die Qualifizierung sehr viel, denn ohne sie hätten wir diese Arbeit nicht weiter machen können", erklärt sie. Was sie in nüchternen Worten erzählt, ist nicht mehr und nicht weniger als die Erkenntnis, dass die EASA-Zertifizierung ihren Arbeitsplatz, ihren gewohnten Alltag gerettet hat. Für Astrid Tebernum mischt sich in ihrem persönlichen Erleben die EASA-Zertifizierung mit ihrer eigenen Qualifizierung zur Gurtprüferin. Denn Astrid Tebernum kann sich eine IHK-Urkunde an die Wand hängen und sich "qualifizierte Gurtprüferin" nennen. Eine kleine Sensation für die Mitarbeiterin einer Werkstatt für behinderte Menschen. Tatsächlich sind bereits vier gerahmte Urkunden im Werkstattraum zu bewundern, über ihnen hängen die Fotos derjenigen, die sie sich erarbeitet haben. Eine fünfte fehlt noch - "in Vorbereitung" ist die Botschaft, die der Rahmen bereithält.
QUALIFIZIERUNGSBAUSTEINE
Schließlich gehen die Qualifizierungsmaßnahmen für einige Mitarbeiter weiter.
Ins Leben gerufen hat sie Jolanda Wilker mit ihrem Team vor rund drei Jahren. Sie leitet den Berufsbildungsbereich der WfB Rhein-Main: "Wenn es das Ziel ist, behinderte Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen, ist es hilfreich, dass sie ihre Qualifikationen in einem Zeugnis nachweisen können", sagt Wilker. "In Anlehnung an die Ausbildungsinhalte von Lehrberufen haben wir einzelne Qualifizierungsbausteine herausgelöst. So beruht der 'Gurtprüfer' auf den Ausbildungsinhalten des ersten Lehrjahrs zum Fertigungsmechaniker." Neben der Gurtproduktion im Rahmen der Fachmontage unterhält die WfB die Bereiche Metallverarbeitung, Hauswirtschaft, Küche und Holzverarbeitung. In allen Bereichen stehen den Beschäftigten Möglichkeiten der Qualifizierung offen: Holz, Catering, Reinigung, Wäschepflege und Servicehelfer. Neu erarbeitet wird derzeit der Qualifizierungsbaustein Lagerlogistik. "Wir haben festgestellt, dass hierfür ein großer Bedarf besteht", erklärt Wilker. Die Ausbildungsmaßnahmen umfassen jeweils 420 Stunden, die innerhalb eines Jahres absolviert werden. 90 Stunden davon entfallen auf theoretischen Unterricht, den die WfB Rhein-Main in Zusammenarbeit mit einer Berufsschule in Rüsselsheim organisiert.
ZEUGNIS DER IHK
Jolanda Wilker freut sich, dass bereits rund 50 Beschäftigte Qualifizierungsbausteine erlangen konnten. Zunächst war das Angebot auf die Phase des Berufsbildungsbereichs beschränkt, in der Praktika absolviert werden, um Neigungen und Fähigkeiten für ein bestimmtes Berufsfeld herauszufinden. Doch längst ist auch den Beschäftigten der Werkstätten der Weg zum IHK-Zeugnis offen. Für die Zertifizierung der Gurtproduktion waren die IHK-qualifizierten Mitarbeiter besonders wertvoll und in den Augen der Prüfer ein Pluspunkt. "Angefangen haben wir mit den Qualifizierungsmaßnahmen allerdings schon ehe wir wussten, dass die Zertifizierung notwendig werden würde", betont Jolanda Wilker.
Sie führt durch die Lagerhalle und die verschiedenen Fertigungsräume der Werkstatt. Die großen Fensterscheiben lassen viel Licht in die Räume, geben den Blick nach draußen frei. Das erst vor acht Jahren errichtete Gebäude ermöglicht eine freundliche Arbeitsatmosphäre. In jedem Raum läuft ein bestimmter Teil des Fertigungsprozesses ab, ausgeführt von jeweils zehn bis zwanzig Mitarbeitern.
In einem ersten Arbeitsschritt müssen die Gurte auf die richtige Länge zugeschnitten werden. Die Maschinen sind hierfür eigens entwickelt worden. Ein Mitarbeiter pro Maschine sorgt dafür, dass die Gurtrollen manuell rechtzeitig getauscht werden. In Sichtweite sitzen einige Mitarbeiter an lautstark ratternden Industrienähmaschinen. Doch der Krach scheint keinen zu stören, immer wieder hört man Lachen, einen Witz, oder einen kurzen Wortwechsel.
AUF BEDÜRFNISSE EINGEHEN
Jede der Arbeitsgruppen wird von einem Handwerksmeister geleitet, der über eine sonderpädagogische Zusatzqualifikation verfügt. Einer von ihnen ist Marcus Milz, er ist zugleich stellvertretender Werkstattleiter. Der 45-Jährige hat viele Jahre als Flugzeugmechaniker gearbeitet, bevor er 2006 zur WfB kam. Der tägliche intensive Umgang mit seinen Mitarbeitern, auch die Notwendigkeit, auf ihre speziellen Bedürfnisse einzugehen, fordert ihn und seinen Einfallsreichtum, ebenso wie den seiner Kollegen. Gerade, wenn Maschinen umgerüstet werden müssen, so, dass sie beispielsweise auch nur mit einer Hand bedienbar sind. Oder wenn Fußpedale an einer Nähmaschine für einen Menschen im Rollstuhl durch Handzüge ersetzt werden müssen. Ganz besonders zufrieden macht Milz die positive Entwicklung von Mitarbeitern. Denn das ist schließlich das Ziel der Arbeit in einer Werkstatt, die der Landeswohlfahrtsverband Hessen maßgeblich finanziert.
Die internationale Zertifizierung war in dieser Hinsicht eine große Herausforderung für den Betrieb und alle Beschäftigten. Zugleich den Schwerpunkt der Sozialarbeit im Blick behalten und effizient produzieren. "Mit der Zertifizierung hat sich vieles verändert. Auch wenn einige - ich nehme mich da nicht aus - anfangs skeptisch waren. Es ist jetzt besser als vorher." Milz zeigt auf das Lager. Übersichtlich geordnet, nach Chargen sortiert, werden die Gurte aufbewahrt. Die Zertifizierung macht es erforderlich, dass jeder Bestandteil eines Gurtes einer Charge zugeordnet werden kann. "Sollte ein Teil fehlerhaft sein, kann Lufthansa dann theoretisch alle Gurte, in denen dieses Teil verbaut wurde, weltweit aufgrund der Chargennummer zurückrufen ", erklärt Milz. "Und für uns ist alles viel übersichtlicher geworden durch die neuen Strukturen."
JEDER SCHRITT FESTGELEGT
Jeder Arbeitsschritt ist genau definiert. Das ist für die meisten Beschäftigten angenehm, denn es macht die eigene Arbeit überschaubar. Aber alle müssen Hand in Hand arbeiten, denn stockt an einer Stelle die Produktion, müssen alle folgenden Stationen auf Nachschub warten. Ein soziales Miteinander ist hier Grundvoraussetzung und wird tagtäglich geübt.
Das funktioniert so: Roman zieht einen Gurt durch ein Schloss und spannt ihn dann auf ein speziell dafür gefertigtes Brett. Das Brett reicht er Andreas. Er legt es unter seine Nähmaschine, die er mit nur einem Arm bedienen kann. Aber selbst einen Faden wieder einzufädeln ist für ihn kein Problem. Die Nähmaschine näht per Computersteuerung im Zickzackstich den Gurt, der das Schloss hält. Hin und her und hin und her - dann bringt Despina das leere Brett zurück zu Roman. Der Gurt wandert zur nächsten Station. An den Wänden der Werkstatt hängen immer in der Nähe des jeweiligen Arbeitsplatzes Fotos, die genau zeigen, wie die einzelnen Arbeitsschritte zu absolvieren sind, zum Beispiel wie sich eine korrekte Naht von einer fehlerhaften unterscheidet.
Als "EASA-Entwicklungsbetrieb" zertifiziert zu sein bedeutet, dass die Qualität der verarbeiteten Teile und der Produktionsprozess vom Betrieb selbst neu definiert wurden. Bestimmte Metallteile werden beispielsweise genau nach den Anforderungen, die das metallverarbeitende Werk der WfB in Biebesheim stellt, teils in China produziert. Drei Jahre währte der Prozess, bis die gesamte Produktion auf den heutigen Stand umgestellt war und zertifiziert wurde. Weltweit gibt es lediglich sechs Betriebe, die diese Bedingungen der Spanngurtproduktion erfüllen, in Deutschland ist es nur die WfB Rhein-Main.
STOLZ AUF DIE ARBEIT
Astrid Tebernum zählt zu den Mitarbeiterinnen, die mit einer monotonen Aufgabe schnell unterfordert sind. Für sie bietet die Produktionsstraße die Möglichkeit, immer mal wieder auf einen anderen Arbeitsplatz zu wechseln. Auch wenn sie jetzt qualifizierte Gurtprüferin ist, sitzt sie gerne einmal an der Nähmaschine und näht Chargenetiketten ein.
Und weil Astrid Tebernums Wissensdurst noch immer nicht gestillt ist, soll sie nun das Ausdrucken dieser Etiketten lernen. Noch hat sie etwas Scheu davor. "Es sind doch einige Dinge, die man da gleichzeitig beachten muss", sagt sie. Andererseits hat sie schon die Prüfungssituation der IHK gemeistert, die auch nicht ohne war. "Auch wenn man die Handgriffe schon hundertmal jeden Tag gemacht hat - so einfach ist das nicht", sagt sie. Und wenn sie erklärt, wie die Metallteile am Gurt einzeln überprüft werden müssen, führen ihre Hände die Griffe am imaginären Gurt eindringlich vor. Denn längst ist sie in der Pause und erzählt anschaulich von der Arbeit, die sie seit vielen Jahren täglich macht. Ihr geht es wie den meisten, die sich in der Kantine zum Mittagessen einfinden: Der Kontakt zu den Kollegen, die Pausen, das Schwätzchen zwischendurch sind fast genauso wichtig wie die Arbeit selbst. "Man mag natürlich nicht alle Kollegen gleich. Alle Leute sind verschieden", sagt sie und erzählt davon, dass sie auch gerne mal mit Mitarbeitern der Metallverarbeitung essen geht. "Da hört man mal was anderes." Allen gemeinsam aber ist der Stolz auf die Arbeit. Denn was hergestellt wird, ist wichtig. Die Qualität der Gurte wird gelobt und geschätzt. Und außerdem, sagt Astrid Tebernum: "Es ist schön zu wissen, dass die Gurte in die ganze Welt fliegen."
Katja Gußmann
HINTERGRUND
VIELFÄLTIGE ANGEBOTE
Der Verein WfB Rhein-Main unterhält eine Vielzahl an Angeboten für behinderte Menschen. Dazu zählen drei Werkstätten an den Standorten Rüsselsheim, Mörfelden-Walldorf und Biebesheim, zwei Tagesförderstätten, Wohnstätten und Betreutes Wohnen, Angebote zur Gestaltung des Tages sowie eine Kurzzeitbetreuung für geistig behinderte Menschen. Außerdem ist der Verein Träger einer Frühförder- und Beratungsstelle und einer integrativen Kindertagesstätte. Rund 800 behinderte Menschen nutzen die Angebote.
In den Werkstätten liegt der Schwerpunkt auf der Herstellung von Luftfrachtsicherungssystemen. Weitere Arbeitsfelder der WfB sind Textil-, Metall- und Holzverarbeitung, Stempel- und Schilderherstellung, Konfektionierung, Montage und Verpackung, Druck- und Bürodienstleistungen.
Am Qualifizierungsprogramm im Rahmen von arbeitsbegleitenden Maßnahmen und Fortbildungen nahmen im vergangenen Jahr 651 Menschen teil.
Die WfB Rhein-Main wurde 1970 gegründet. Im Jahr 2001 etablierte der Verein mit der Alpha-Service gGmbH das erste Integrationsunternehmen im Landkreis Groß-Gerau. Seit 2004 zählt zur WfB die gemeinnützige GmbH Solvere, eine Werkstatt für seelisch behinderte Menschen.
ebo/gus