Der Evangelische Verein für Innere Mission in Nassau, EVIM, hat in Hattersheim ein wegweisendes Projekt verwirklicht: Geistig behinderte Menschen haben in Zusammenarbeit mit dem Architekten und mit EVIM-Mitarbeitern ihr neues Wohnhaus entworfen. Sie leben nun freier und selbstbestimmter als zuvor.
HATTERSHEIM. Der Zahnputzbecher ist schwarz-gelb, ganz in den Farben ihres Lieblingsvereins: Borussia Dortmund. Barbara Siedersleben putzt sich aber nicht nur die Zähne mit Fanblick, auch kurz vorm Einschlafen gilt ihr letztes Augenmerk ihrem Verein, wenn sie eingehüllt in Borussen-Bettwäsche abends das Reich der Träume aufsucht. Der BVB-Becher steht in ihrem persönlichen Bad, ihr Bett in ihrem Zimmer, das wiederum Teil einer Vierer-Wohngemeinschaft ist.
Ihr Mitbewohner Werner Mitternacht, 51, ist Eintracht-Frankfurt-Fan. Fußball schauen sie gerne gemeinsam, kein Spiel wird verpasst und ab und an gehen sie ins Stadion. Sie kommen auch damit klar, dass Maja Putsch, Anfang 30, zu Bayern München hält.
Die drei sitzen am Tisch und sprechen über ihr gemeinsames Leben, ihre vierte Mitbewohnerin ist heute nicht dabei. Was sie erzählen, dem würden wohl alle 22 Bewohner zustimmen, die seit Ende vergangenen Jahres in die Hattersheimer Schulstraße gezogen sind: Sie fühlen sich wohl in ihrem neuen Zuhause, in dem sie leben können wie alle anderen auch. Normal eben, sagen sie. Auf zwei Etagen sind Wohngruppen zu je zwei Vierer- und einer Dreier-WG verteilt. Im Erdgeschoss leben diejenigen, die stärkere Beeinträchtigungen haben und mehr Betreuung benötigen als die Bewohner des ersten Stockwerks. Das ganze Gebäude wurde vom Landeswohlfahrtsverband Hessen bezuschusst und ist auf die besonderen Bedürfnisse der Wohngruppen ausgelegt.
Normal ist aber auch das Umfeld. Die Wohnungen in der dritten und vierten Etage - ebenfalls barrierefrei - wurden auf dem freien Markt vermietet. Denn die Stadt Hattersheim hatte im Bebauungsplan mehr als nur zwei Geschosse vorgesehen. Schließlich liegt das Grundstück in einem Neubauviertel, ist umringt von Reihenhäusern und Geschossbauten, die von Familien bewohnt werden. So trägt die Auflage der Stadt zu mehr Normalität und Inklusion der behinderten Menschen bei, denn man trifft sich im Flur, unterhält sich mit den Nachbarn, trifft sie im gegenüber gelegenen Supermarkt wieder beim Einkauf.
Das freut besonders Barbara Siedersleben. Sie ist 67 und Rentnerin. Im nahe gelegenen Wohnhaus Schlockerstiftung des EVIM hatte sie zuvor ein Appartement für sich, denn sie ist in der Lage, relativ eigenständig zu leben. Aber: "Das war mir zu langweilig. Hier habe ich die Gemeinschaft. Ich kann aus meinem Zimmer kommen und treffe die anderen, habe immer jemanden zum Schwätzen, auch die Nachbarn." Wenn es ihr zu viel wird, geht sie eben wieder in ihr Zimmer.
GEMEINSCHAFT UND RÜCKZUG
"Der Wunsch, sowohl familiäre Gemeinschaft als auch die Möglichkeit zum Rückzug zu haben, stand fur viele der Bewohner ganz oben auf der Wunschliste", sagt Olaf Hübner vom Architekturbüro Plus+Bauplanung in Neckartenzlingen, das das Konzept entworfen hat. In einem zweitägigen Workshop haben er und sechs der Bewohner der alten Wohnanlage Schlockerstraße des EVIM erarbeitet, wie das zukünftige Haus aussehen soll, welche Wohnbedürfnisse sie darin verwirklicht sehen wollen. Hübner: "Ein Bewohner sagte sehr klar: 'Ich will nicht mehr am Flur leben.'" Der lange Gang, von dem die Einzel- oder sogar Doppelzimmer mit gemeinsamem Bad abgehen, sollte endgültig der Vergangenheit angehören. Jeder wollte ein eigenes Bad, auch das war enorm wichtig. Und sie sagten: "Es soll ein normales Haus sein." Normal heißt: ein Wohnzimmer mit Sofa und Fernseher, ein Esstisch, eine Küche. Kein langer Flur wie im Krankenhaus, kein Speisesaal wie im Altenheim, kein Gemeinschaftsbad.
Mit Ton wurden die Entwürfe modelliert, um die sehr abstrakten Skizzen fassbar zu machen. Heraus kam ein Entwurf, der eine Gemeinschaftsküche für alle Bewohner einer Etage zum Zentrum hat, mit großem Esstisch, umringt von vier Wohngruppen: Jede WG wiederum hat ein eigenes Wohnzimmer mit Esstisch und Teeküche, jedes Bewohnerzimmer verfügt über ein eigenes Bad und alles ist rollstuhlgerecht. Das gefällt Maja Putsch gut, die sich geübt in ihrem Rollstuhl durch die breiten Flure bewegt. In ihrer vorigen Wohnung war sie viel stärker auf fremde Hilfe angewiesen. Auch wenn ihr die klare Aussprache nicht leicht fällt, ist sie in ihren Ansichten entschieden: "Ich kann jetzt meine Freunde besuchen, ohne um Hilfe zu fragen", sagt sie. Ihr Hobby ist Malen, sie besucht einen VHS-Kurs, an die Wände in ihrem Zimmer hat sie eigene Werke gepinnt.
EINKAUF IM MÖBELHAUS
Das gemeinsame Wohnzimmer schmücken einige Dekostücke im Afrikalook. Nils Bayer, der die Teamleitung Wohnen und Tagesstruktur innehat, erzählt davon, dass es gar nicht so einfach ist, mit den Bewohnern gemeinsam im Möbelhaus einkaufen zu gehen, um die Wohnungen auszustatten. Schließlich ist das nicht gelernt, die Geschmäcker sind verschieden, das finanzielle Budget begrenzt. So wirken die Räume noch ein wenig kahl, gemessen an üblichen Wohnzimmern. Aber mit der Zeit, so glaubt auch Nicola Böhm, die Leiterin des neuen Wohnhauses Schulstraße und der Wohnanlage Schlockerstiftung, werde sich der Raum noch füllen. "Mit dem neuen Wohnkonzept hat sich auch die Tagesstruktur verändert", erzählt Nils Bayer. Die Bewohner möchten ihren Alltag "normal" verbringen, das heißt, die Rentner helfen am Vormittag beim Kochen, abends bereiten die Wohngruppen individuell ihr Abendbrot zu. Nachmittags gibt es ein gemeinsames Kaffeetrinken, sobald alle, die in der Werkstatt arbeiten, heimgekehrt sind. Es werden Aktivitäten geplant wie Ausflüge, aber manchen reicht es auch, gegenüber im Lidl einkaufen zu gehen. So viel Freiheit muss sein. "Wichtig ist, dass wir im Blick haben, wenn sich jemand zu sehr zurückzieht", sagt Bayer. Doch bislang steht das nicht zu befürchten. Dafür gibt es zu viel, worüber man am Esstisch schwätzen kann, Fußball zum Beispiel.
Katja Gußmann
HINTERGRUND
56 WOHNPLÄTZE IN HATTERSHEIM
EVIM wurde 1850 gegründet und ist heute Träger von mehr als 60 sozialen Einrichtungen und Diensten. Die Gesellschaften des Vereins beschäftigen mehr als 2.000 Mitarbeiter in stationären und ambulanten Angeboten der Altenhilfe, der Behindertenhilfe, der Jugendhilfe, der Bildung sowie in Service-Einheiten. In Hattersheim besteht das Wohnangebot für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung seit 1991 und verfügt über 56 Plätze. In den Neubau investierte EVIM rund 4,9 Millionen Euro, davon entfielen 1,7 Millionen Euro auf die frei vermieten Wohnungen, 3,2 Millionen auf die zwei Etagen mit 22 Wohnplätzen. Der Landeswohlfahrtsverband förderte das Projekt mit 660.000 Euro, 435.000 Euro steuerte das Land Hessen bei.
gus
SPIELRÄUME AUSLOTEN
Interview mit Renate Pfautsch,
Geschäftsführerin der EVIM Behindertenhilfe
Das Wohnhaus Schulstraße ist ein ungewöhnliches Projekt - was gab dafür den Ausschlag?
EVIM setzt schon immer darauf, dass Menschen so selbstbestimmt wie möglich leben können und so "normal" wie möglich. Das wollten wir in diesem Wohnprojekt verwirklichen. Wir haben uns für einen Architekten entschieden, der von Anfang an die künftigen Bewohner in die Planung mit einbezieht, das fanden wir gut.
Was waren die wichtigsten Erkenntnisse, die aus dem Workshop mit Bewohnern und Architekt gezogen werden konnten und die sich in der Planung niedergeschlagen haben?
Das ist sicherlich die Dreistufigkeit: Private Rückzugsmöglichkeit in das eigene Zimmer mit eigenem Bad, dann das WG-Wohnzimmer, in dem man sich mit seinen nächsten Mitbewohnern in kleiner Gruppe trifft, und schließlich die gemeinsame Küche mit großem Esstisch, die für die Bewohner des ganzen Stockwerks da ist.
Nicht nur die Bewohner, auch die Mitarbeiter mussten sich an das neue Wohnkonzept gewöhnen. Was ist für sie anders als vorher?
Die neuen Freiheiten bergen natürlich auch Risiken: Der Messerblock in der Küche wird ja nicht rund um die Uhr bewacht. Freiheit braucht das Vertrauen in die Selbstverantwortlichkeit der Bewohner. Wir wollen sie nicht bevormunden, sondern selbst entscheiden lassen. Dieser Spielraum muss ausgelotet werden, das fiel den Mitarbeitern anfangs nicht leicht, denn sie tragen ja Verantwortung. Aber die erste Zeit hat schon gezeigt, dass wir den Bewohnern viel mehr zutrauen können, als wir anfangs dachten.
Was geschieht mit der alten Wohnanlage Schlockerstraße, in der noch 24 Bewohner untergebracht sind?
Die ursprüngliche Planung sah vor, den Bau zu modernisieren. Doch mit den positiven Erfahrungen, die wir mit unserem neuen Konzept machen, haben wir uns dafür entschieden, einen weiteren Neubau anzugehen. Das alte Konzept mit Doppelzimmern und Gemeinschaftsbädern ist einfach nicht mehr zeitgemäß, der Aufwand, es auf einen angemessenen Stand zu bringen, zu hoch.
Das Interview führte Katja Gußmann