Im Kreis Waldeck-Frankenberg profitieren geistig, körperlich und seelisch behinderte Menschen von der sehr guten Zusammenarbeit der sozialen Träger. Statt zu konkurrieren, tauschen sich die Anbieter regelmäßig aus, um die jeweils besten Ansprechpartner für ihre Klienten zu finden.
KORBACH. Marcel Bogner geht jeden Tag mit Freude die wenigen Schritte von seiner Wohnung in der Korbacher Innenstadt zum Kleeblatt-Laden, einer 100-prozentigen Tochter des Lebenshilfe-Werks am Obermarkt: "Die herzliche Atmosphäre ist genau das, was ich brauche", sagt der Mann im grasgrünen Kleeblatt-Shirt. Als erstes packt er die Lebensmittelkisten mit der neuen Ware auf dem großen Rollwagen aus. Der 39-Jährige zeichnet Waldmeistertee und Zimtgewürz, Erdnüsse und Linsen mit Preisschildchen aus, räumt Brot und Dosen ordentlich in die Regale. Weil die Kollegin gerade unterwegs ist, springt er an der Wurst- und Käsetheke ein. Die Kundin möchte Ziegen- und Mitsommerkäse sowie einen Topf Oliven. Marcel Bogner bedient sie mit einem freundlichen Lächeln. Er arbeitet zügig und professionell. Selbst wenn an der Kasse die Hölle los ist, behält er die Ruhe. Wie viele Umwege er gebraucht hat, um hier anzukommen, ist ihm schon lange nicht mehr anzumerken.
Auf seinem Weg zum Traumjob hat er alle Anbieter der Eingliederungshilfe kennengelernt, die es in Waldeck-Frankenberg gibt. Dabei stammt er ursprünglich aus den neuen Bundesländern. Seine ersten drei Lebensjahre verbrachte er weitgehend im Krankenhaus, da er mehrfach an den Füßen operiert werden musste. Seine leibliche Mutter vernachlässigte ihn; so kam er zunächst ins Heim und mit fünf Jahren in eine Adoptivfamilie: "Ich habe das nicht gehabt, was alle Kinder brauchen - Liebe", sagt er im Rückblick.
Wenn seine Mitschüler ihn hänselten, rastete er aus. Er teilte nicht gegen andere aus, schlug aber heftig mit Kopf und Händen gegen Wände, Regale und Schilder. Einmal brach er sich das Handgelenk. "Ich kann dann nicht diskutieren", sagt er: "Ich bin dann einfach hilflos." Eine erste Ausbildung als Tankwart scheiterte daran, dass er nach einer Operation schlecht zu Fuß war und häufig umknickte. Er hatte große Schmerzen.
VON DER TANKSTELLE INS BÜRO
Weit weg von zu Hause startete er die Ausbildung zum Bürokaufmann im Berufsbildungswerk Nordhessen. "Das war eine ganz andere Welt", stellte er fest. Doch er hatte nach wie vor Schwierigkeiten, mit sich selbst und anderen klarzukommen. Und er hatte eine Spielsucht entwickelt. Er kam in die Vitos Klinik Haina. Seine Ausbildung konnte er nicht abschließen.
Bei weiteren Psychiatrieaufenthalten tankte er neue Kraft und kam zu dem Ergebnis: "Ich brauche Hilfe." Ihm wurde zunächst ein ehrenamtlicher, dann ein gesetzlicher Betreuer an die Seite gestellt, der ihn an die Treffpunkte in Korbach vermittelte. Er zog ins Betreute Wohnen, besuchte die Tagesstätte und wurde allmählich stabil.
Sein Betreuer kam zu dem Ergebnis, dass Marcel Bogner mehr kann. So kam der junge Mann in die Korbacher Werkstatt der Lebenshilfe, wo er fünf Jahre lang Schaltkästen in der Elektroabteilung zusammenschraubte. Doch seinen Platz hatte er damit noch nicht gefunden. Um die Werkstatt zu verlassen, musste er jedoch auch seine Spielsucht in den Griff bekommen. Er ging ins Beratungszentrum der Diakonie und schaffte es mit Unterstützung einer guten Freundin innerhalb von sechs Monaten.
ZUFRIEDEN IM KLEEBLATT-LADEN
Als er schließlich mit einem Praktikum im Kleeblatt-Laden der Lebenshilfe anfing, war ihm bald klar: "Ich will nirgendwo anders hin." Selbst seine Füße machten ihm nach den ersten Wochen kaum noch zu schaffen, obgleich er dauernd stehen und laufen muss. Er absolvierte - mit über 30 - eine zweijährige Ausbildung zum Verkäufer. "Er ist ein ganz normaler, guter Mitarbeiter", sagt seine Chefin Anne Welsch-Stein. Er übernehme alle Arbeiten im Bio-Markt, könne auch die Kasse abrechnen und gehe gut mit den Kunden um. Er wohnt auch schon seit Jahren selbstständig - erst mit einem Mitbewohner, inzwischen allein mit seinen drei grau getigerten Katzen.
Die letzte schwierige Situation ist mehr als drei Jahre her. Da musste er für eine halbe Stunde rausgehen, um sich zu beruhigen. Für Fleischereifachverkäuferin Sigrid Weber ist Marcel Bogner ein "Super-Kollege". Und er mag auch die Menschen, die hier einkaufen. "Sie sind sehr freundlich", sagt er: "Der Laden ist das, was mir geholfen hat."
Alle Unterstützungsangebote hat Bogner auf seinem Weg schätzen gelernt. Die Wechsel waren unkompliziert. "Die Zusammenarbeit in Waldeck-Frankenberg war immer schon gut und hat sich über die Jahre verstärkt", berichtet Frank Strotmann vom Vorstand des Lebenshilfe-Werks. Alle Beteiligten wüssten: "Nur, wenn wir miteinander kooperieren, können wir gute Arbeit leisten." Deshalb versuche keiner, dem anderen Potenziale oder Klienten abzugraben. Stattdessen gebe es auf vielen Ebenen Planungsgespräche, Koordinationstreffen und Austausch. Strotmann: "Dadurch hat der Klient für alle Belange immer die besten Ansprechpartner." Schließlich sei nicht jeder für jede Wohn- oder Arbeitsform geeignet.
ENGER AUSTAUSCH
Auch für die Mitarbeiter im Betreuten Wohnen des Bathildisheims sind die regelmäßigen Gespräche - etwa mit den Kollegen des Bio-Gartens Flechtdorf - Alltag. Dort hat zum Beispiel Klientin Franziska Döring in den vergangenen Jahren gearbeitet.
Die heute 36-Jährige ausgebildete Zierpflanzenbaugärtnerin hatte wie Marcel Bogner eine traumatische Kindheit. Sie war zehn, als sie mit ansehen musste, wie ihre Mutter an einer Lungenembolie starb. Als Irina Ruppel, Fachkraft des Betreuten Wohnens, sie kennenlernte, lebte sie in ihrem Elternhaus in Ober-Waroldern, trug die Kleider ihrer Mutter und schlief im Bett der Verstorbenen.
Sie hatte zwar den Hauptschulabschluss auf der Karl-Preising-Schule des Bathildisheims und die Ausbildung als Zierpflanzenbaugärtnerin im Flechtdorfer Bio-Garten geschafft, scheiterte aber auf dem normalen Arbeitsmarkt. "Zu viel Druck", sagt sie. Immer wieder rutschte sie in die Depression. Dann zog sie sich völlig zurück, redete nicht mehr und vernachlässigte sich und ihre Umgebung: "Ich falle dann in ein tiefes Loch", sagt sie.
Vor drei Jahren zog Franziska Döring in ihre erste eigene Wohnung und wechselte zum Bio-Garten in Bad Arolsen: Geranien, Petunien und Männertreu säen, pikieren und topfen, das liegt ihr. Auch Gestecke und Kränze macht sie gerne.
MUTTERSCHAFT
Und in diesem Jahr ist ihr Lebenstraum wahr geworden. Anfang Januar ist Sohn Paul - 50 Zentimeter groß und 3150 Gramm schwer - zur Welt gekommen. "Ich war glücklich und ängstlich zugleich", sagt Franziska Döring. Doch es klappt besser, als alle Beteiligten erwartet hätten. Dabei litt Döring unter einer Schwangerschafts-Diabetes und ist erst im Dezember mit ihrem Lebensgefährten Artur Dilman zusammengezogen. Doch dem Paar geht es gut. Den Haushalt managen sie gemeinsam. Die Geburt lief glatt. Und der Kleine ist ein unkompliziertes Kind: "Er schreit nur, wenn ihm irgendetwas nicht passt oder wenn wir die Windel wechseln sollen", sagt Franziska Döring. Häufig geht das Paar mit Paul spazieren. "Sie kann sehr stolz sein, was sie nach all den Jahren der Wut, Verzweiflung und Trauer erreicht hat", sagt Ruppel.
Natürlich ist das nur mit Unterstützung möglich: Die Familienhilfe kommt nach Bedarf. Der gesetzliche Betreuer vom Bad Arolser Treffpunkt kümmert sich um Papiere und Behördengänge. Irina Ruppel unterstützt, berät und begleitet im Alltag. Auch bei der Einrichtung der Wohnung. So möchte Franziska Döring gern auch einige ihrer Bilder an die Wände hängen, die sie im Kunstatelier Ideenreich gemalt hat.
Gesa Coordes
HINTERGRUND
VIER TRÄGER, DIE SICH GUT VERSTEHEN
Im Kreis Waldeck-Frankenberg gibt es mit dem Lebenshilfe-Werk, dem Bathildisheim, den Treffpunkten und mit Vitos Haina vier Träger der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen sowie gemeindepsychiatrischer und klinischer Angebote.
Das Lebenshilfe-Werk mit seinen 620 Beschäftigten begleitet über 800 geistig oder seelisch behinderte Männer und Frauen in der Region Korbach und im Altkreis Frankenberg. Zu diesem großen Arbeitgeber gehören unter anderem unterschiedliche Wohnangebote, Werkstätten, die Bio-Garten Flechtdorf GmbH sowie der Inklusionsbetrieb Kleeblatt GmbH und das angrenzende Bistro KostBar. www.lhw-wf.de
Bathildisheim e.V. ist ein diakonisches Sozialunternehmen, dessen mehr als 800 Mitarbeiter in Bad Arolsen, Kassel und an weiteren Standorten Leistungen für rund 1.200 Klienten bieten. Dazu gehören die Werkstatt für behinderte Menschen, unterschiedliche Angebote im Bereich Wohnen (für Erwachsene und für Heranwachsende), die Karl-Preising-Schule und das Berufsbildungswerk Nordhessen. www.bathildisheim.de
Die Treffpunkte betreuen mit 140 Mitarbeitern 500 Menschen mit seelischer Behinderung und Suchterkrankung in unterschiedlichsten Wohnformen, Tagesstätten sowie Psychosozialen Kontakt- und Beratungsstellen. Zum Angebot gehören unter anderem auch ein Integrationsfachdienst und der Inklusionsbetrieb Werkhof. www.treffpunkte-waldeck-frankenberg.de
Das Vitos Klinikum Haina gliedert sich in die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, die Klinik für forensische Psychiatrie, die forensische Ambulanz sowie die begleitenden psychiatrischen Dienste. Vitos Haina unterhält im Kreis zwei Ambulanzen für Erwachsene (siehe auch Seite 24 dieses Heftes) und eine Tagesstätte. www.vitos-haina.de.
gec