Das Teilhabezentrum in Solms-Niederbiel, einem 2.300-Seelen-Ort nördlich von Wetzlar, ist ein hessisches Vorzeigeprojekt der Diakonie, "Leuchtturm" und Modellstandort zugleich. Denn es bietet die noch recht seltene Mischung aus nachbarschaftlichem Engagement und professionellen Angeboten wie der Eingliederungshilfe für psychisch kranke Menschen an. Das Fazit der Besucher lautet: "Wir können das nur empfehlen!"
SOLMS. Thomas Schuck zieht sich weiße Latexhandschuhe über, um den Lachs liebevoll in mundgerechte Stücke zu zerteilen. Vier Tage pro Woche verlässt er mittlerweile seine Wohnung und begibt sich in die geräumige weiße Küche des Teilhabezentrums (THZ) von Solms-Niederbiel. Dort kocht er mit anderen gegen seine psychischen Probleme an. Thomas Schuck heißt eigentlich ganz anders, aber nachdem im vergangenen Jahr eine Reportage mit seiner Geschichte unter diesem Pseudonym erschienen ist, möchte er es ganz gern beibehalten. Auch die anderen Besucher im Teilhabezentrum von Solms-Niederbiel nennen ihn lachend "Thomas".
Gekocht wird täglich, das ist Teil des tagesstrukturierenden Angebots mit seinen neun Plätzen, finanziert vom LWV. Immer dienstags werden hier auch Gäste bewirtet, die aus der näheren und weiteren Umgebung der Einrichtung kommen. In der Regel finden sich etwa 12 Menschen an der mit Goldrandgeschirr gedeckten Tafel ein. Dass Gäste von außen zum Essen kommen, soll ein Gewinn für alle sein. "Jeder kann bei uns im Rahmen seiner Fähigkeiten mitwirken", sagt Lea Glaubrecht. Sie leitet das THZ. Träger sind die Diakonie Lahn-Dill, deren Mitarbeiterin Lea Glaubrecht, die Termine und Angebote koordiniert, und der Verein Soziale Inklusion.
Das Angebot ist vielfältig. In der Ringstraße gibt es eine Mitmach-Werkstatt, eine Genesungsberatung für Menschen mit Psychiatrieerfahrung (Beratung von Betroffenen für Betroffene), einmal im Monat ein "NachbarSCHAFFTs-Café", ein Näh- und Kreativ-Stübchen, einen Alphabetisierungskurs, Deutsch für Anfänger und seit September die Familienklassen, ein Förderangebot für Kinder im Grundschulalter.
Das THZ ist Treffpunkt, Anlaufstelle, Dorfkantine. Ganz unterschiedliche Gruppen und Personen nutzen die Räume, immer wieder neue Initiativen entwickeln sich, andere schlafen ein. So gab es anfangs auch eine Stillgruppe, doch die Initiatorin sprang ab. "Wichtig ist uns", betont Karlheinz Schön, Fachbereichsleiter beim LWV, "dass sich die Angebote für behinderte Menschen hier nahtlos einfügen, Teil des Ganzen sind. Dass sich Lebenswelten vermischen." Deshalb unterstütze der LWV das Projekt ausdrücklich.
Die Familienklassen, die seit September im Haus sind, seien ein gutes Beispiel dafür, wie neue Aktivitäten entstehen, sagt Lea Glaubrecht. Und ein Zeichen dafür, wie gut das THZ vernetzt ist. So gibt es einen Beirat, dem auch die Kirchengemeinden, die Stadt und der Kreis angehören. Als die Grundschulleiter einen Ort suchten, in dem ein besonderes Förderangebot für Kinder und ihre Familien stattfinden kann, war der Weg zum Zentrum nicht weit. "Sie suchten einen neutralen Ort - außerhalb der Schule." Nun quirlen die Jungen und Mädchen einmal in der Woche durch das Haus.
Platz ist genug: Zwei Büros, ein Beratungsraum, Küche, Werkstatt und zwei Versammlungsräume. Im oberen wird auch gegessen. Anette Foullon legt sich hier ganz besonders ins Zeug. Sie ist verantwortlich für die Tischdekoration. Im Garten des Zentrums hat sie einen ganzen Arm voll Rosen und Kräutern gepflückt, die sie in schlichten Wassergläsern auf dem Tisch dekoriert. Zuvor hat sie Rosenservietten besorgt und kleine, an Schnüren aufgereihte Schmetterlinge auf dem Tisch drapiert. Sie wählt jedes Mal ein anderes Motto, oft passend zu den Blumen, die gerade blühen. Jede ihrer hübsch gedeckten Tafeln hält sie im Foto fest. "Ich mache das so gerne, das Auge isst schließlich mit", sagt sie, während sie an diesem heißen Sommertag bei geschlossenen Rollos noch getrocknete Limettenscheiben zwischen den Schmetterlingen und Blumen verteilt. "Oh, wie schön!" entfährt es jedem Gast, der den Speiseraum betritt. Die 50-Jährige freut sich riesig über die Anerkennung, die sie für ihre Tätigkeit hier erhält.
Angst- und Panikattacken haben Anette Foullon vor Jahresfrist in die stationäre Psychiatrie gebracht, seit einem Jahr kommt sie nach Solms. "Hier ist alles so harmonisch und friedlich, es gibt keinen Druck, keinen Befehlston." Das lässt sie aufblühen wie einen ihrer bunten Sträuße. "Ich habe wieder Lebensfreude und Lebensmut gefunden und kann mich überall einbringen", sagt sie. Weil die frühere Metzgereifachverkäuferin nicht mehr so gern am Herd steht und kocht, widmet sie sich hier der Deko. "Ich bin so dankbar, dass es so etwas gibt und könnte mir vorstellen, so etwas auch einmal für andere Menschen zu Geburtstagen oder besonderen Feiern zu machen."
Auch für Thomas Schuck ist das THZ ein Glücksfall. Im vergangenen Jahr ist seine Frau gestorben, die für ihn zehn Jahre lang der ganze Kontakt zur Außenwelt war. "Ich hätte einfach wieder zurückfallen können in meine alten Verhaltensmuster, aber ich wollte da endlich raus", sagt er. "Das hier ist eine stabile kleine Gruppe und ich freue mich jedes Mal darauf, hierherzukommen und zu kochen." Er hat nun sogar selbst eine Ausbildung als Genesungsbegleiter begonnen, um anderen Menschen mit psychischen Problemen zu helfen. "Ich konnte mich ja schon immer selbst sehr gut in der Unibibliothek theoretisch in etwas einarbeiten", sagt der wortgewandte Mann. Der Vorteil eines Genesungsbegleiters sei, dass er nicht nur theoretisch über psychische Erkrankungen Bescheid weiß, sondern auch ganz praktisch am eigenen Leib erfahren hat, wie hoffnungslos ausgeschlossen von der Welt man sich damit fühlt. "Willst Du etwas wissen, so frage einen Erfahrenen und keinen Gelehrten", sagt eine chinesische Weisheit. Mit der wirbt der Verein Soziale Inklusion unter dem Stichwort "Ex-In" für diese Ausbildung. Auch Monika Gottwald, die halbtags im THZ arbeitet, hat diese Ausbildung schon gemacht. Die gelernte medizinische Fachangestellte war selbst lange Zeit psychisch krank. Heute hat sie die Verantwortung für die Küche.
Der Verein Soziale Inklusion, der auch die Genesungsberatung anbietet, hat 2015 die Idee für das Zentrum gehabt. Mit der Diakonie Lahn-Dill und anderen Partnern wurde sie weiter entwickelt und schließlich das leerstehende Gemeindezentrum in der Ringstraße gefunden. An der Konzeption waren auch der LWV, der Psychiatriekoordinator und der Sozialdezernent des Lahn-Dill-Kreises beteiligt. Manche der Angebote beruhen auf bürgerschaftlichem Engagement, wie die Mitmach-Werkstatt, deren Mitglieder jüngst eine Outdoor-Küche für den Kindergarten gebaut haben. Jetzt überlegen Sie noch, ob sie als nächstes Insektenhotels oder Vogelhäuschen bauen. An fünf Standorten hat die Diakonie Deutschland die Teilhabezentren geschaffen, auch in Bremen, Düsseldorf, Gotha und Stuttgart. Zweimal im Jahr tauschen sich die Organisatorinnen und Organisatoren aus. Überraschenderweise sei die Arbeit in den großen Städten teilweise schwieriger, berichtet Lea Glaubrecht. In Niederbiel funktioniere das Gemeinwesen perfekt. In 2019 werden die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung durch die Uni Bielefeld erwartet.
Für Eloisa Garcia Luque ist das Fazit jetzt schon klar. "Hier komme ich unter Menschen und habe nette Gespräche", sagt sie. Seit 20 Jahren leidet die Tochter spanischer Gastarbeiter unter starken Depressionen, "seit meine geliebte Mutter starb". Die 56-Jährige hat eine erwachsene Tochter, die geistig behindert ist. Nachdem sich ihre eigenen Depressionen und chronischen körperlichen Leiden im vergangenen Jahr nach dem Tod einer ihrer Schwestern weiter verstärkt hatten, fand sie Hilfe im THZ. "Damals wollte ich nur noch sterben, auch mein Lieblingssender hr4 hat da nicht mehr geholfen", sagt sie halb unter Tränen, halb scherzhaft. Sie lebt seit vier Jahren in einem betreuten Wohnprojekt, "aber immer nur zu Hause sein ist ja auch nicht gut."
Für den Vormittag und das gemeinsame Mittagessen ist sie mit dem Bus hin und zurück zwei gute Stunden unterwegs. Im Sommer will sie nun endlich wieder nach Sevilla fahren, eine Tante besuchen. Sie hat neuen Lebensmut geschöpft und verrät gut gelaunt ihr Rezept für andalusischen Linseneintopf mit Chorizo, einer scharfen spanischen Wurst. Auch mit einer kalten Gemüsesuppe, der Gazpacho, hat sie die Mitarbeiterinnen und Besucher des THZ schon überrascht. Und dann wäre da noch jene Suppe mit Kichererbsen. "Das Geheimnis sind die in Salz eingelegten Knochen", hebt sie an. Gemeinschaft geht manchmal eben auch durch den Magen.
Martina Propson-Hauck/Elke Bockhorst
"Ich bin gelernte Erzieherin und habe früher selbst eine Kita geleitet. Das war vor meiner Krankheit, denn ich war auch psychisch krank, jetzt geht es mir aber wieder gut. Ich bin deshalb bereits verrentet und arbeite nur ab und zu mit Kindern in einer Kultureinrichtung in Wetzlar. Denn die Kinder fehlen mir schon sehr. Ich bin auch im Beirat des THZ und vertrete dort die Bürger von Solms. Den offenen Mittagstisch besuche ich seit seiner Gründung vor einem Jahr. Ich komme immer, wenn ich Zeit habe, das ist ein wichtiger Teil meines Lebens. Hier treffe ich viele nette Leute zum Reden, es ist sehr familiär. Manche kenne ich auch schon von früher, als ich selbst noch krank war. Am Anfang waren ja nur drei bis fünf Leute da, jetzt wird es immer größer, das freut mich sehr."
"Ich habe im Januar 2017 meine Frau nach 55 Jahren Ehe verloren, da bin ich in ein tiefes Loch gefallen. Dann habe ich die Geschichte von Thomas Schuck in der Chrismon gelesen - so hieß er da ja - und bin zum Mittagstisch gekommen. Ich fühle mich sehr wohl hier, denn bei mir zählt nur der Mensch und was in ihm steckt, nicht Karriere oder Statussymbole. Hier sind alle Menschen mit Herzensbildung, was bedeutet da psychisch krank? Ich komme aus Braunfels hierher, kann mich noch gut selbst versorgen, aber die Gesellschaft und der kleine Ausbruch aus dem Alltag tun mir gut. Ich möchte mich auch bald in der Werkstatt einbringen, denn ich bin gelernter Schlosser und handwerklich sehr geschickt."
"Ich wohne direkt in der Nachbarschaft und habe das THZ von Anfang an begleitet, denn ich arbeite hier auch ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe. Während Mütter in den Räumen des THZ Deutsch lernen, betreue ich ihre Kinder. Manchmal hole ich "mein Enkelkind" aus Eritrea auch vom Kindergarten ab, wenn die Eltern Deutschkurse besuchen oder arbeiten, dann bringe ich die Vierjährige mit zum Mittagstisch, dann muss ich nicht kochen. Das Essen ist immer sehr gut und die Unterhaltungen sind spannend. Man lernt nette Menschen und neue Kontakte kennen."
Der LWV Hessen fördert und fordert Sozialraumorientierung in der Arbeit mit behinderten Menschen vor Ort. Dem Normalitätsprinzip folgend sollen sie aktiv unterstützt werden, immer mehr Kontakte, tagesstrukturierende Aktivitäten, Arbeit und Beschäftigung auch außerhalb der professionellen Angebote der Eingliederungshilfe zu finden. Ziel ist, dass sie den Alltag gemeinsam mit nichtbehinderten Menschen und im eigenen Lebensumfeld gestalten.
Die professionellen Unterstützungsangebote vor Ort sollen dadurch nicht ersetzt, sondern ergänzt werden. Grundlage ist das Bundesteilhabegesetz (BTHG, Kapitel 13). Dort steht: "Leistungen zur Sozialen Teilhabe werden erbracht, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern". Dazu gehöre, "behinderte Menschen zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen."
Auch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) erklärt die unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft (Artikel 19) zum Rechtsanspruch. "Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern.
lwv