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"Wir sind Pioniere"

"Wir sind Pioniere"

Ein Neubeginn mit vielen spannenden Gestaltungsmöglichkeiten - so beschreiben Claudia Haase, Raphaela Brozio und Niels Varelmann ihren neuen Aufgabenbereich beim LWV. Die drei gehören zu einer ganzen Reihe von Kollegen, die am 1. Oktober ihre Arbeit in den neu entstandenen Regionalbüros in den Landkreisen Waldeck-Frankenberg, Marburg-Biedenkopf und Bergstraße aufgenommen haben. Im Rahmen der sukzessiven Umsetzung des neuen Gesamtplanverfahrens nach dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) sind sie vor Ort für die Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung zuständig.

KASSEL/ALSFELD. "Erzählen Sie doch mal, was machen Sie denn hier?", fragt Claudia Haase und lächelt Arno Wahl freundlich zu. Die beiden sitzen zusammen in einem Besprechungsraum der Alsfelder Werkstatt des Vereins Kompass Leben. Vor der 38-Jährigen liegt ein Ordner mit Unterlagen, Kaffee und Wasser stehen bereit. Mit am Tisch sitzen Christian Stamm, der Gruppenleiter von Arno Wahl, Elisabeth Lotz vom Sozialdienst der Werkstatt und die gesetzliche Betreuerin Claudia Fürst. Ein bisschen unsicher ist Arno Wahl schon, weil er so im Mittelpunkt steht. Doch mit ihrer ruhigen und zugewandten Art findet Claudia Haase schnell Zugang zu dem 40-Jährigen und macht ihm immer wieder Mut, sich zu äußern. "Sie können hier nichts Falsches sagen. Und wenn sie nicht weiterwissen, können Sie gerne fragen."

Claudia Haase ist in die Werkstatt gekommen, um gemeinsam mit Arno Wahl zu klären, wie er an seiner Arbeitsstelle zurechtkommt, welche Hilfe er aufgrund seiner geistigen Behinderung bei der Gestaltung des Arbeitstages braucht und an welchen persönlichen Zielen er in den kommenden Monaten arbeiten möchte. Diese Bedarfsermittlung lag bis vor kurzem noch in der Hand der Werkstatt. Doch im Zuge der sukzessiven Umsetzung des neuen Gesamtplanverfahrens, das durch das BTHG vorgegeben ist, übernimmt der LWV die Aufgabe selbst - und damit auch mehr Verantwortung.

Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, sind in vorerst drei hessischen Regionen - in Waldeck-Frankenberg, Marburg- Biedenkopf und der Bergstraße - Regionalbüros entstanden. Dort haben zum 1. Oktober eine ganze Reihe neuer Mitarbeiter des LWV-Fachdienstes zur Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung ihre Arbeit aufgenommen.

UMBRUCH UND NEUBEGINN

Zu ihnen gehören Claudia Haase, Raphaela Brozio und Niels Varelmann. Die drei haben sich mit viel Begeisterung auf ihr neues Arbeitsfeld eingelassen und schätzen sehr, dass sie in einer Zeit des Umbruchs und Neubeginns von Anfang an dabei sind. "Die Umsetzung des Gesetzes ist im Wachsen, und wir können das mitgestalten", erklärt Claudia Haase. Und gerade diese Gestaltungsmöglichkeiten machen die Arbeit auch für Raphaela Brozio "total spannend". Beide nicken, als Niels Varelmann erklärt: "Wir sind die ersten, die in den Bezirk gehen. Wir sind so etwas wie Pioniere, und dafür haben wir uns auch gemeldet."

Der Sozialpädagoge arbeitet, anders als seine beiden Kolleginnen, seit Jahren für den LWV - zuletzt in der Sachbearbeitung und als Geschäftsführer für Hilfeplankonferenzen. "Aber ich hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, wieder mehr mit Menschen zu arbeiten. Es ist eine reizvolle und interessante Aufgabe, Teilhabepläne gemeinsam mit den betroffenen Menschen zu erstellen", erklärt der 39-Jährige, der seit Anfang Oktober für den Landkreis Bergstraße zuständig ist.

INTENSIVE EINARBEITUNG

Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, wurden die neuen Mitarbeiter zuvor im Rahmen einer intensiven Einarbeitungszeit, die sich über ein halbes Jahr erstreckte, auf ihre Arbeit in den Regionen vorbereitet. Auf dem Programm standen Hospitationen bei erfahrenen Kollegen, fachliche Begleitung bei den ersten eigenen Begutachtungen sowie Fortbildungsveranstaltungen zu verschiedenen thematischen Schwerpunkten. "Die Einarbeitung war nah dran an der täglichen Arbeit, und dadurch fühlte ich mich schnell angekommen und vertraut. Und wir haben die Möglichkeit, immer wieder erfahrene Kollegen zu fragen. Das gibt Sicherheit", sagt Claudia Haase, die aus dem Bereich der Jugendkonflikthilfe zum LWV-Regionalteam Waldeck-Frankenberg gewechselt ist. Berufsbegleitend macht sie gerade ihren Master in Soziologie.

Die Weiterbildungen fanden in der Regel in der Gruppe der neuen Fachdienstmitarbeiterinnen und -mitarbeiter statt, so dass sich die Kollegen der drei Regionalteams schon kennenlernen konnten. Gemeinsam haben sie sich mit den Grundsätzen der Finanzierung von Unterstützungsleistungen, mit der Formulierung individueller Ziele, mit Gesprächstechniken sowie Instrumenten der Bedarfsermittlung beschäftigt. Dabei kamen verschiedene Methoden zum Einsatz. So standen etwa beim Seminar "Deeskalierende Gesprächsführung und Konfliktmanagement" auch Rollenspiele auf dem Programm. Zudem diskutierten die Teilnehmer im Plenum über das richtige Verhalten in kritischen Situationen und gaben Erfahrungen aus ihren vorherigen Arbeitsbereichen weiter.

So hat Raphaela Brozio in Berlin im Bereich Betreutes Wohnen mit psychisch erkrankten Menschen gearbeitet. Die 34-Jährige hat Erziehungswissenschaften, Politik und Verwaltung studiert und absolviert derzeit ebenfalls berufsbegleitend ihr Masterstudium in Sozialer Arbeit. Sie kommt aus dem Landkreis Marburg-Biedenkopf und arbeitet nun wieder in ihrer alten Heimat. "Ich habe die Ausschreibung gesehen und fand den Bereich interessant. Man ist unterwegs, lernt viele unterschiedliche Menschen kennen, schreibt Gutachten - das ist eine gute Mischung." Auf die Frage, ob sich ihre Erwartungen an die neue Arbeitsstelle erfüllt haben, antwortet Raphaela Brozio ohne zu zögern. "Ich hatte gar nicht so viele Erwartungen, weil ich ja wusste, dass alles neu und in der Umstrukturierung ist. Jetzt sind wir gestartet, und es ist spannend, wie alles so wird."

Dass bei ihrer Arbeit immer der Mensch im Mittelpunkt steht, darin sind sich die drei einig. Die Teilhabeplanung soll sich an den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Menschen ausrichten. Und soll das soziale Umfeld einbeziehen, in dem sie leben. Bei der Bedarfsermittlung geht es zunächst darum, herauszuarbeiten: Was kann der Einzelne und wo braucht er Unterstützung? Sei es im Bereich Arbeit, Wohnen oder Freizeit. Dann gilt es, geeignete Unterstützungsmöglichkeiten zu finden.

MENSCHEN BEGLEITEN

"Es ist eine tolle Perspektive, dass wir selber aktiv werden und vor Ort gucken, welche Infrastruktur es da gibt", sagt Claudia Haase. Und auch Niels Varelmann plädiert dafür, den Sozialraum mehr einzubeziehen: "Vielleicht gelingt es uns, neu zu denken, außerhalb dessen, was wir schon kennen." So könnte vielleicht auch mal ein Verein ein passendes Angebot bereit halten. "Wir sollten einen weiten Blick haben, damit wir auch die Möglichkeiten sehen, die vielleicht erst unmöglich scheinen. Es geht nicht darum, immer nur zu schauen, welche Einrichtungen es gibt. Wir wollen den Menschen dabei begleiten, dass er möglichst selbstbestimmt herausfindet, was er sich wünscht und braucht", sagt Raphaela Brozio.

Im Fall von Arno Wahl ist das zum Beispiel mehr Unterstützung bei der Strukturierung seines Arbeitstages. Es fällt ihm schwer, seine Bedürfnisse zu erkennen und selbstbewusst zu äußern, etwa wenn er mal eine Pause braucht. Und auch von sich aus Initiative zu zeigen, ist für ihn eine Herausforderung. "Könnten das denn Ziele für Sie sein, dass Sie ihre Wünsche äußern und Eigeninitiative üben?", fragt Claudia Haase. Und spricht im Rahmen der Bedarfsermittlung noch weitere Themen an, etwa, wie sich Arno Wahl in der Werkstatt zurechtfindet, wie er seinen Alltag strukturiert, womit er sich in seiner Freizeit beschäftigt und wie es ihm gesundheitlich geht. "Hinter jeder Begutachtung steckt eine Geschichte. Es ist schön, mit Menschen zu arbeiten und sie dabei zu unterstützen, dass sie ihre Ziele erreichen und ihr Leben meistern können. Das ist eine sehr befriedigende Arbeit", betont Claudia Haase.

Meike Schilling

BLICK AUF DIE POTENTIALE

Interview mit Markus Schmidt, Leiter des Fachdienstes

Seit 1. Oktober setzt der LWV in drei Landkreisen - im Kreis Bergstraße, Marburg-Biedenkopf und Waldeck-Frankenberg - ein neues Verfahren zur Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung um. Was heißt das in der Praxis?

Eine zentrale Neuerung ist: Bei allen, die erstmals Leistungen bei uns beantragen, ermitteln wir den Bedarf. Und zwar, bevor eine Unterstützungsleistung startet. Das ist eine Vorgabe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG).

Auch bei Menschen, die schon Leistungen bekommen, aber bei denen sich die Unterstützungssituation erheblich ändert, und auch stichprobenartig in zehn Prozent aller sonstigen Fälle macht das jetzt unser Fachdienst. Dadurch erhalten wir die Möglichkeit, uns frühzeitig mit der Situation eines Antragstellers zu befassen und Einfluss auf die Art der Unterstützung zu nehmen.

Was verändert sich da inhaltlich?

Unser Instrument zur Bedarfsermittlung ist der Integrierte Teilhabeplan, ITP. Damit richten wir den Blick auf die Fähigkeiten und Potentiale des Menschen, nicht auf die Defizite. Die Leitfragen sind: "Was kann jemand?" "Was will jemand?" Und: "Wie können wir ihn oder sie dabei unterstützen?" Die behinderten Menschen müssen sich nicht einpassen in die Versorgungskonzepte vor Ort, sondern die Angebote müssen sich anpassen an die Menschen. So etwas kann man allerdings nicht von heute auf morgen umsetzen. Deshalb machen wir das in sieben Stufen. In den drei genannten Kreisen haben wir begonnen.

Der LWV hat ja in einigen Regionen schon Erfahrung mit der Personenzentrierten Steuerung der Eingliederungshilfe, kurz PerSEH, gesammelt. Ist das hilfreich?

Auf jeden Fall. Was das BTHG an Veränderungen bringt, war auch Ziel des LWV-Projekts PerSEH. Deshalb sind wir konzeptionell und ideell gut aufgestellt. Der ITP wurde in den Modellregionen bereits eingesetzt, unter die Lupe genommen und wird weiter fachlich angepasst.

Zu den Aufgaben unseres Fachdienstes gehören aber auch Beratung und Unterstützung sowie Überlegungen, wie der Bedarf gedeckt werden kann und wie wir Angebote möglichst in den Sozialraum einbinden. Sobald wir merken, dass konkrete Angebote fehlen, dann geben wir das an die Sozialplaner im Haus weiter. Wir weisen außerdem auf die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung hin, ein Angebot, das vom Bund eingeführt und mittlerweile in allen Regionen in Hessen aufgebaut wird.

Wie haben sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fachdienstes in den zurückliegenden Monaten auf die neue Aufgabe vorbereitet?

Es sind 15 neue Kolleginnen und Kollegen am Start. Sie wurden ein halbes Jahr intensiv auf die veränderten und neuen Aufgaben vorbereitet - zu einem Drittel in der Theorie und zu zwei Dritteln in der Praxis. Sie sind zunächst mit den erfahrenen Fachdienstlern rausgefahren. Nach einer Weile haben sie selbstständig Bedarfsermittlungen übernommen, die Ergebnisse wurden aber noch mit den Anleitern reflektiert. Und sie haben Workshops mit 31 verschiedenen Themenschwerpunkten besucht: Da ging es auch um die Verfahren zur Datenverarbeitung, um Verhandlungsführung, um Unterstützte Kommunikation, um Leichte Sprache und um die Ziele der Bedarfsermittlung, um nur einige Inhalte zu nennen.

Das Interview führte Elke Bockhorst

Weitere Informationen unter lwv-hessen.de>Soziale Teilhabe>Bundesteilhabegesetz>PerSEH