Annette Lüders ist seit 2002 die Theatermacherin an der Max-Kirmsse-Schule - und füllt ihre Rolle engagiert aus. Die Theatergruppe KOMIKO ist ein kreatives Aushängeschild und die LWV-Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung eine von 20 KulturSchulen in Hessen. Das Programm unter der Ägide des Kultusministeriums besteht seit zehn Jahren.
IDSTEIN. "Ich bin die Milch", stellt sich Julia vor. "Ich bin die Deutsche Markenbutter", sagt Samir. Die 15 Jugendlichen, die sich in der Mehrzweckhalle der Max-Kirmsse-Schule auf blauen Turnmatten niedergelassen haben, lachen laut oder grinsen zumindest. Sie denken an Samirs Kostüm, und Lehrerin Annette Lüders schwärmt: "Sieht wie echte Butter aus!" So, wie eigentlich alle Kostüme und Requisiten der Theatergruppe KOMIKO ins Auge stechen. "Dafür sind wir schon bekannt. Wenn wir vor den Grundschülern und Kindergartenkindern in Idstein auftreten, sind die Kleinen immer sehr beeindruckt."
Doch bis dahin, bis zum kommenden März, gibt es am aktuellen Stück noch viel zu tun. An diesem Dienstagmorgen feilen die Schülerinnen und Schüler der Gruppe Darstellendes Spiel an ihren Rollen. Keine gewöhnlichen Rollen, denn die 15- bis 19-Jährigen werden als Salat und Sahnehäubchen, als Erdbeeren, Eier, Ketchup, Marmelade, Leberwurst, Pizza und Handkäse - beinahe alles, was der Kühlschrank hergibt - auf der Bühne stehen. Der 20-jährige Jan hat sogar eine Doppelrolle: "Ich bin der Tabasco und der Schoko-Weihnachtsmann." Worum geht es hier eigentlich? Annette Lüders, die bisher die Darsteller selber hat sprechen lassen, zieht kurzzeitig das Wort an sich: "Wir spielen, was nachts im Kühlschrank passiert, wenn die Menschen nicht gucken."
Da treten die Lebensmittel in den Gruppen ihrer Kühlschrankfächer auf, mokieren sich über die vom anderen Fach oder erleben Abenteuer mit fiesen Ameisen, weil jemand die Kühlschranktür offengelassen hat. Tomate und Mozzarella geben den Stoff für eine Lovestory, ehe sie schnöde getrennt werden. Und dann ist da noch besagter Schoko-Weihnachtsmann mit dem abgebissenen Kopf, der in der hintersten Ecke des Kühlschrankes sein Dasein fristet. Der sich vergessen und ausgegrenzt fühlt, anders als die anderen. "Dieses Thema taucht in jedem unserer Stücke auf", sagt Annette Lüders. Es spiegele die Erfahrungen und Empfindungen vieler Schüler aufgrund ihrer Einschränkungen wider. "Das Schauspielen gibt ihnen die Möglichkeit, solche Gefühle zu bearbeiten. Das tut den Jugendlichen gut."
Der Reiz des Kreativen in der aktuellen Produktion: Jedes Lebensmittel hat seinen eigenen Charakter. Und den kitzelt die Theaterpädagogin schauspielerisch aus den Darstellern, die alle eine geistige Behinderung haben, heraus. Da gibt es die empfindliche Erdbeere, die beleidigte Leberwurst, das zerbrechliche Ei, die fluffige Sahne, den handfesten Schinken. "Die Idee, Lebensmittel zu verkörpern, kam von den Schülern selbst. Jeder konnte sich aussuchen, zu welchem Nahrungsmittel er sich hingezogen fühlt", berichtet Annette Lüders und flachst: "Hier kann jeder seine Träume leben!" Es ist offensichtlich, dass die Pädagogin für das Theaterspiel mit ihrer Gruppe brennt - und für das Stück, das die 30 Schülerinnen und Schüler der dreijährigen Berufsorientierungsstufe in jedem Jahr gemeinsam auf die Beine stellen.
Neben den Jugendlichen, die sich auf die Bühne wagen, die spielen, reden, tanzen und Mitmach-Lieder singen, werden in den zeitgleich laufenden Werkstätten Kostüme genäht und Kulissen und Requisiten gebastelt. Die vierköpfige Technik-Gruppe, die Erzieher Jochen Grabsch leitet, produziert Filme, schneidet sie und unterlegt sie mit Musik. 15 kurze Video-Sequenzen zur Einspielung ins Stück sind diesmal vorgesehen. Für das richtige Licht und den Ton sind die Techniker auch zuständig.
Derweil werkeln die Jugendlichen vom Kulissenbau an einer Requisite, um die sich im Stück alles dreht: einem Kühlschrank aus Styropor und Holz. In den Maßen zwei Meter mal einszwanzig und der 60er-Jahre-Optik ein beeindruckendes Teil. Das handwerkliche Know-how dafür vermitteln Sozialpädagoge Detlef Rieger und Teilhabe-Assistent Peter Hombach, der auch schon Motivwagen für den Mainzer Karneval gebaut hat.
Am Ende laufen die Fäden aus Schauspiel, Kostümnäherei, Requisite und Technik bei Annette Lüders zusammen. Sie ist die Stückeschreiberin, die die Ideen der Schüler aufgreift, mit ihnen entwickelt und dann in einem Text zusammenfügt. Sie ist die Regisseurin, die die Jugendlichen schauspielerisch anleitet, unterstützt von ihrem Kollegen Bernd Wenninger. Sie motiviert, beruhigt bei Lampenfieber und tröstet, wenn mal etwas nicht so klappt. In jedem Stück übernimmt sie eine Rolle, in der sie durchgängig auf der Bühne ist, um aus dem Hintergrund zu dirigieren oder einfach nur da zu sein. "Zur Beruhigung. Es gibt Schüler, die brauchen das einfach, mich nur mal kurz zu berühren." Diesmal ist Annette Lüders das Thermometer im Kühlschrank. Was gut zu ihr passt, schließlich ist die Theaterpädagogin auch in den Proben für die richtige Betriebstemperatur in der Gruppe zuständig.
Seit 1995 arbeitet die ausgebildete Förderschullehrerin an der Max-Kirmsse-Schule. Weil ihr das Darstellende Spiel lag, studierte Annette Lüders berufsbegleitend Theaterpädagogik als zusätzliches Unterrichtsfach in Frankfurt. Seit 2002 leitet sie jährlich eine Theaterproduktion. Und das so kreativ, dass die Theatergruppe KOMIKO regelmäßig im März eine umjubelte Vorstellung bei den Schultheatertagen in Wiesbaden auf die Bretter bringt. Nach einem Krimi, mit dem die Idsteiner in 2017 Sieger beim hessischen Schultheatertreffen in Schlitz wurden, diesmal also "Im Kühlschrank brennt noch Licht".
In der Schul-Mehrzweckhalle sind alle Darsteller inzwischen auf den Beinen. Annette Lüders zählt ab und bildet drei Gruppen. Eine ist die Sahne, alle sagen laut: "Lass mich!" Eine ist der Schinken, alle sagen: "Lecker würzig." Eine ist die Pizza, alle rufen: "Mamma Mia!" Die Pädagogin hakt nach: "Wie bewegt man sich als Pizza?" "Heiß und fettig", kommt es prompt zurück und alle lachen. Dann spielt die Lehrerin vor, wie sie es meint: "Ihr lauft sahnig-geschmeidig. Ihr lauft italienisch und ihr bayrisch."
Das Schauspielen, die kreative Arbeit, "ist für unsere Jugendlichen unheimlich wertvoll", sagt Annette Lüders. Alle Mitwirkenden hätten enorm an Selbstwertgefühl hinzugewonnen. "Wer besondere Lernbedingungen braucht und noch dazu in der Pubertät steckt, dann noch in ein komisches Kostüm schlüpft und sich auf die Bühne stellt, wo ihn alle anstarren, der braucht Mut und Selbstbewusstsein. Das lernen die Schüler hier beim Theaterspiel."
Petra Schaumburg-Reis
Aufführungstermine:
21. und 22. März, 10 Uhr, Mehrzweckhalle Max-Kirmsse-Schule
26. März, 11 Uhr, Staatstheater Wiesbaden
Interview mit Annette Sauer, Schulleiterin der Max-Kirmsse-KulturSchule
Frau Sauer, die Max-Kirmsse-Schule zählt zu den 20 KulturSchulen in Hessen. Nur zwei Förderschulen - Ihre und die Friedrich-von-Bodelschwingh-Schule in Wiesbaden - sind für dieses Programm des Hessischen Kultusministeriums derzeit zertifiziert. Was ist das Besondere an einer KulturSchule?
Wir geben Zeit und Raum für Kreativität im Schulalltag, für kulturelle Bildung, für das Lernen mit allen Sinnen. Zum Beispiel steht für alle Schülerinnen und Schüler in der ersten Doppelstunde am Dienstag kreatives Arbeiten auf dem Stundenplan. Sie können - in festen Gruppen - malen, fotografieren, filmen, nähen, mit Naturmaterialien basteln, handwerklich tätig sein. Dazu zählt auch das Darstellende Spiel. Aus allem zusammen entsteht dann in der Berufsorientierungsstufe das jährliche Theaterstück. Für die schwer- und mehrfachbehinderten Kinder und Jugendliche gibt es ein Angebot basaler Bewegungserfahrungen. Wir nennen die Dienstags-Angebote "Kulturwerkstätten". KulturSchule heißt darüber hinaus, dass wir das künstlerische Gestalten und kreative Lernmethoden auf alle Lernbereiche anwenden. Auf Deutsch, Mathe, Sachunterricht, Sport, Arbeitslehre.
Wie funktioniert das?
Ein Beispiel ist der Mathe-Tag. Er findet mindestens einmal im Schuljahr für alle Schüler und Lehrkräfte zu einem speziellen Thema statt. Beim letzten Mal ging es an verschiedenen Stationen um das Thema Zeit. Da gab es auch eine theaterpädagogische Annäherung. Eine Szene war aufgebaut, ein Tisch, umgefallene Stühle. Für die Schüler sollten die zeitlichen Zusammenhänge erlebbar werden: Wie ist gerade die Situation? Was ist geschehen? Was wird noch passieren? Der nächste Mathe-Tag steht unter dem Motto "Im Spiegel".
Zu uns als KulturSchule gehört auch die Kultur des Zusammenlebens. Jeden Freitagmorgen ist "Stark im Team"-Zeit. Der Tag beginnt auf dem Schulhof mit Spielen, die den Teamgeist und das Zusammengehörigkeitsgefühl schulen. Es geht um das Miteinander, um Teilhabe aller.
Welche Motivation hatten Sie, KulturSchule zu werden?
Die KulturSchule war für uns eine Chance, uns neu aufzustellen. Nachdem wir nicht länger Schule für kranke Kinder und Jugendliche waren und den Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung verloren hatten, sind wir stark geschrumpft. Alle - Lehrerinnen, Lehrer und Eltern - waren hundertprozentig dafür, das kulturelle Profil der Schule zu stärken. Vor zehn Jahren wurde das Entwicklungsprogramm der KulturSchulen vom Kultusministerium ins Leben gerufen. An der Max-Kirmsse-Schule wird schon seit jeher kreativ gearbeitet und Theater gespielt. Deshalb haben wir uns für das Programm beworben. 2015 wurden wir in den Kreis der KulturSchulen aufgenommen. Seit 2017 sind wir zertifiziert.
Welche Vorteile haben die KulturSchulen?
Das Programm unterstützt eine Professionalisierung der Lehrkräfte. Lehrer, Kulturschulbeauftragte und Schulleitungen können an zwei- bis dreitägigen Fachforen teilnehmen. Dort arbeiten wir mit Künstlern und Pädagogen zusammen. Im Vordergrund steht, die eigene Beziehung zur Kunst und zur künstlerischen Praxis zu bestimmen. Es geht auch um den Austausch der Lehrer untereinander, denn die KulturSchulen bilden ein Netzwerk und sollen Multiplikatoren sein. Wir werden vom Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Marburg wissenschaftlich begleitet und evaluiert.
Was haben Sie an Ihrer KulturSchule noch vor?
Sehr viel. Unter anderem erhalten wir finanzielle Unterstützung vom Kultusministerium für die Kooperation mit Künstlern. Bis jetzt hatten wir Projekte mit einem Grafiker und einem Holzkünstler. Als nächstes wollen wir in Richtung Musik gehen mit einem Künstler, der mit Alltagsgegenständen Klänge erzeugt und Klangkunstwerke baut.
Das Interview führte Petra Schaumburg-Reis