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Marc Schubert (Name von der Redaktion geändert) mag seinen Job: Buchhaltung. Telefonieren ist nicht so sein Ding, muss aber ab und an sein. Ein perfekt auf ihn zugeschnittenes Training nach der TEACCH-Methode, das für Menschen mit Autismus-Syndrom entwickelt wurde, lässt ihn heute viel selbstbewusster zum Hörer greifen. Eine innovative Art der Zusammenarbeit von Arbeitgeber, Integrationsfachdienst, Lebenshilfe und LWV, die Schule machen könnte.

BAD CAMBERG. Am wohlsten fühlt sich Marc Schubert (Name von der Redaktion geändert) an seinem Schreibtisch vor dem Computer. Die Buchungsmaske geöffnet, gibt er Zahlen ein. Unermüdlich, Fehler mag er nicht, darum vermeidet er sie, ist doch klar. Ganz so perfekt wie er beherrscht sein Kollege Hilmar Trübenbach das Zahlenwerk noch nicht: "Aber Marc ist ein Top-Lehrer, so geduldig wie ihn habe ich noch keinen erlebt." Marc Schubert sitzt neben Trübenbach und diktiert ihm die Zahlen, weist ihn an, wenn der Kollege sich nicht sicher ist, auf welches Konto nun gebucht werden soll. "Er sieht jeden Zahlendreher sofort", sagt Trübenbach und freut sich vor allem darüber, dass jede Korrektur von Marc gleichermaßen neutral wie sachlich vorgetragen wird.

Das ist für Marc Schubert selbstverständlich, schließlich geht es um die Sache. Wozu aufregen? "Das habe ich in der Schule oft genug gehabt, da wurde ich jahrelang gemobbt und bin manchmal richtig ausgetickt", erinnert er sich und sein Blick verfinstert sich. Der schlanke, junge Mann in Jeans und grauem Sweatshirt trägt Brille und Bart. Regt er sich auf, purzeln seine Worte durcheinander, so schnell spricht er dann. Aber geht es um die Arbeit, verfliegt alle Aufregung. Dann ist er hochkonzentriert.

DENKT UNGERN AN DIE SCHULZEIT

Autismus-Spektrum-Störung wurde bei ihm diagnostiziert, als er zwölf Jahre alt war und schon lange Zeit in der Schule unter den Hänseleien anderer Kinder zu leiden hatte. "Dabei war ich schon auf der Förderschule", sagt er, und es ist ihm anzumerken, wie sehr ihn diese Ungerechtigkeiten verletzt haben, vor denen ihn doch diese Schule hätte bewahren sollen. Besser wurde es erst, als er in den letzten beiden Schuljahren einen Integrationshelfer an seine Seite bekam. Dennoch, an die Schulzeit erinnert er sich nicht gern. Auch, weil er von seinem Wohnort nahe Bad Camberg einmal die Woche nach Frankfurt zur Therapie fahren und abends noch Hausaufgaben machen musste. Als großen Druck habe er das empfunden, erzählt er.

In der Therapie sollte er sein Sozialverhalten schulen. Denn Menschen mit Autismus fällt es unter anderem schwer, die Mimik ihrer Gesprächspartner zu interpretieren. Im Gespräch ist Marc Schubert direkt und deutlich, sagt, was er denkt - während sein Gegenüber sich dadurch leicht vor den Kopf gestoßen fühlen kann, denn er vernachlässigt die modulierenden Formulierungen, die das Gesagte weicher, freundlicher und somit für den Gesprächspartner angenehmer machen. Seine Kollegen der Firma Öl-Peuser in Bad Camberg mögen ihn, wie er ist. Sie stört Schuberts Direktheit nicht. Nur im Kundenkontakt kommt es immer mal zu Missverständnissen. Sein Chef, Firmeninhaber Bernd Peuser, sah Handlungsbedarf: "Marc ist ein sehr guter Mitarbeiter, ich habe mir gewünscht, dass er auch mal ans Telefon gehen kann, wenn keiner der Kollegen da ist", sagt er. Seit 2014 ist der junge Mann im Unternehmen, arbeitet 20 Stunden die Woche und hat noch keinen Tag gefehlt. "Er ist ein unglaublich zuverlässiger Mensch und macht seine Arbeit total korrekt", sagt Peuser.

„SUPERKORREKT“

Das bestätigt auch Nicole Altenhofen von der Lebenshilfe Limburg-Diez. "Fachlich ist er superkorrekt", sagt sie, die ihn seit einigen Monaten regelmäßig an seinem Arbeitsplatz besucht. Aus Kundensicht ist er allerdings im Gespräch zu sehr auf die Sache konzentriert, den Smalltalk beherrscht er nicht. Das trainiert Nicole Altenhofen mit ihm. Ihre Methode: TEACCH. Die Abkürzung steht für "Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children". Altenhofen arbeitet normalerweise mit Jugendlichen, die sie auf das Berufsleben vorbereitet. "Sicher, die Arbeit mit Marc Schubert ist etwas anders als mit Jugendlichen, aber das strukturierte Vorgehen der TEACCH-Methode eignet sich sehr gut für das Telefontraining."

Die Methode zeichnet sich dadurch aus, dass eine Aufgabe in kleine Schritte gut strukturiert unterteilt und visualisiert wird. Doch zunächst musste Schubert klar werden, welchen Sinn der Smalltalk in einem Telefonat hat. Er dient der Gesprächseröffnung, dem Wohlfühlen im Gespräch, selbst wenn der Kunde nur Öl bestellen will. "Marc findet das gar nicht so wichtig, hat aber gelernt, dass es zu einer normalen Gesprächssituation dazu gehört und kann sich jetzt mit ein paar eingeübten Sätzen darauf einlassen", erklärt Altenhofen.

Gemeinsam spielen sie ein Telefonat durch - vom Nennen des Namens über Begrüßungsfloskeln und Bestellung oder Reklamation bis zur Verabschiedung. Da nicht jeder Kunde gleich ist und es verschiedene Anliegen gibt, hat Altenhofen unterschiedliche Typen entworfen, auf die Marc Schubert adäquat reagieren muss: den Nörgler, den Schnäppchenjäger, die alte Dame, die vor allem einen Zuhörer braucht. Alle zwei Wochen kündigt sie dann donnerstags ihren Trainingsanruf an, der in der Regel freitags um 13 Uhr erfolgt. Drei Mal stellt sie Schubert auf die Probe, mit drei verschiedenen Anrufertypen. Den Schnäppchenjäger mag er am allerwenigsten. Aber er hat die nötigen Argumente gelernt, um freundlich, aber bestimmt reagieren zu können. In einem letzten Anruf bespricht sie die vorigen Telefonate mit ihm. "Anfangs dachte ich, das Training müsse recht schnell erledigt sein, da es ja nur ums Telefonieren geht", sagt sie. "Das ist aber nicht so, da die Übertragungsleistung von einem 'Fall' auf einen anderen nicht von selbst geht. Also müssen viele individuelle Möglichkeiten durchgespielt werden."

HÖFLICHKEIT NICHT GELÄUFIG

Und die beiden arbeiten an grundlegenden Verständnisfragen. Erst neulich war das Thema "Geburtstag" aktuell. Was bedeutet es, wenn ein Kollege Geburtstag hat, wie verhält man sich da? Marc Schubert leuchtete nicht ein, warum er auch etwas zum Kaffeetrinken mitbringen sollte, es reiche doch, wenn einer der Kollegen Kuchen mitbringe. Dass es um eine freundliche Geste zum Geburtstag geht, war in seinem Wissenskontext noch nicht abgespeichert. Aber einmal verstanden, kann er adäquat reagieren: Er erschien mit einer Tüte Kreppel.

Auch das Konzept der Höflichkeit ist Marc Schubert nicht geläufig, der unmittelbare Nutzen erschließt sich nicht von selbst. Gesellschaftliche Konventionen basieren nicht auf einem klar erkennbaren Ursache-Wirkungs-Verhältnis. Nicole Altenhofen hatte sich für 15 Uhr mit Schubert verabredet und kam zehn Minuten zu früh. Er sah keine Veranlassung, seine Arbeit ruhen zu lassen, um sie zu begrüßen. Dass es unhöflich ist, ihr mit den Worten 'es ist noch nicht 15 Uhr' den Rücken zuzukehren, konnte er erst nachvollziehen, nachdem Nicole Altenhofen ihm erklärt hatte, was im sozialen Miteinander gefordert ist.

ANDERE SPRACHE

In seiner Wahrnehmung spricht er eine andere Sprache als alle anderen um ihn herum. Sie zu erlernen ist mühsam. Für ihn sind viele Dinge nebensächlich, die für andere von großer Bedeutung sind. Er muss Signale bewusst verarbeiten, die andere Menschen nebenbei empfangen. Und er braucht verlässliche Routinen. Im Büro von Öl-Peuser essen die vier Kollegen jeden Tag um 12 Uhr gemeinsam zu Mittag. Regelmäßige Zeiten, wenige Überraschungen, nicht zu viele Menschen. Damit fühlt er sich wohl.

Marc Schubert weiß, in welchen Bereichen er anders tickt und er sagt: "Ich bin froh über meinen Arbeitsplatz, viele mit meiner Beeinträchtigung finden nur in einer Behindertenwerkstatt Arbeit." Er ärgert sich darüber, dass zu viele Menschen von Einzelfällen auf alle Autisten schließen oder glauben, ein Autist sei ein schwerstbehinderter Mensch, der keinerlei Zugang zur Außenwelt finde. Zu schnell sei man abgestempelt. Viele Betriebe sähen Menschen mit Beeinträchtigung als Belastung und nicht als Entlastung, ärgert sich der gelernte Bürokaufmann, der für die Firma Öl Peuser sogar die Prüfung zum Gefahrgutbeauftragten gemeistert hat.

KONTAKT ZU INTEGRATIONSFACHDIENST

Sein Chef weiß seinen zuverlässigen Mitarbeiter zu schätzen. Dass er aufgrund der Beeinträchtigung seines Angestellten Anspruch auf einen Lohnkostenzuschuss hat, wusste Bernd Peuser lange Zeit gar nicht. Er nahm den jungen Mann vor Jahren als Praktikanten in die Firma. Aus dem Praktikum wurde 2015 eine Festanstellung. Ein Zufall führte dazu, dass Peuser von Unterstützungsleistungen für seinen Mitarbeiter erfuhr. Über das Arbeitsamt bekam er 2016 den Kontakt zu Birgit Kloss vom Integrationsfachdienst Limburg, die alle sechs Wochen im Betrieb vorbeischaut. Bernd Peuser erhielt in diesem Rahmen auch eine Schulung zum Thema Autismus.

Birgit Kloss war es auch, die Nicole Altenhofen für das Telefontraining ins Spiel brachte. Kloss: "Ich befasse mich seit 30 Jahren mit Autismus und wusste, dass es in Limburg bei der Lebenshilfe das TEACCH-Training gibt. Also habe ich Kontakt aufgenommen und nachgefragt, ob es nicht eine Möglichkeit gibt, Marc Schubert im Telefonieren zu schulen. Die Methode schien mir dafür sehr gut geeignet." Spezielle Fragen brauchen eben auch spezielle Antworten. Für Schubert wurde eine individuelle Lösung gefunden, das LWV Hessen Integrationsamt fand die Möglichkeit, das außergewöhnliche Training über die Ausgleichsabgabe zu finanzieren. Ein Projekt, das Schule machen könnte. Für Marc ist es der richtige Schritt in Richtung Inklusion, denn er meint: "Davon sind wir in Deutschland noch sehr weit weg."

Katja Gussmann

HINTERGRUND

GANZHEITLICHER ANSATZ

TEACCH (Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children) ist ein ganzheitlicher pädagogisch-therapeutischer Ansatz, der die Besonderheiten von Menschen mit Autismus berücksichtigt und die Entwicklung zur Unterstützung des Lernens und zur selbstständigen Bewältigung des Alltags in den Mittelpunkt stellt.

Der methodische Aspekt der Strukturierung und Visualisierung von Raum, Zeit, Aufgabenstellungen und Arbeitsorganisation bildet dabei eine grundlegende Strategie in der Förderung, die sich auf alle Bereiche der Entwicklung bezieht.

Ziel der Förderung nach dem TEACCH-Ansatz ist die größtmögliche Selbstständigkeit und Maximierung der Lebensqualität für Menschen mit Autismus im sozialen Umfeld und in der Gesellschaft.

Eine enge Zusammenarbeit mit allen am Prozess Beteiligten (Lehrer, Ärzte, Therapeuten und bisweilen auch Eltern) ist wichtiger Inhalt und maßgeblich für eine gelingende Förderarbeit.

Quelle: Lebenshilfe Limburg

Weitere Informationen unter www.lebenshilfe-limburg-diez.de/unsere-angebote/kinder/teacchautismus